Welche Auswirkungen haben der demographische Wandel und die Morbiditätsentwicklung auf den künftigen regionalen Versorgungs- und Pflegebedarf, und wie kann eine qualitativ hochwertige onkologische Versorgung auch in Zukunft flächendeckend sichergestellt werden? Auf der Basis eines aktualisierten Gutachtens – als 14. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe der DGHO herausgegeben – wurden diese Fragen im Rahmen des Hauptstadtkongresses Medizin und Gesundheit diskutiert.
Rückblick 2013: Im Jahr 2013 hatte die DGHO (Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Medizinische Onkologie e. V.) eine wissenschaftliche Studie in Auftrag gegeben, die erstmals neben konkreten Daten zur Entwicklung von Krebsneuerkrankungen und Prävalenzen auch die regionale onkologische Versorgung abbildete. Die Studie „Herausforderung demographischer Wandel – Bestandsaufnahme und künftige Anforderungen an die onkologische Versorgung“ ermittelte zudem den künftigen Bedarf an onkologisch tätigen Ärzten sowie die erwartete Steigerung der Krankheitskosten für ausgewählte Krebsarten. Sie wurde als 1. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe der DGHO publiziert. Auf Basis von Krebsregisterdaten des Jahres 2008 konnten Prognosen zur Entwicklung der Krebsmorbidität und der regionalen onkologischen Versorgung für das Jahr 2020 erstellt werden.
Stand 2019: Nun liegt eine grundlegende Aktualisierung dieses Gutachtens mit Berechnung der tatsächlichen Krebsmorbidität für das Jahr 2014 sowie mit Prognosen zur Entwicklung der Bevölkerung, der Neuerkrankungen und Prävalenzen auf Landkreisebene für das Jahr 2025 vor [1]. Für die Auswertung wurde neben den zehn häufigsten Krebserkrankungen bei Männern und Frauen auch die Komorbiditäts-Last bei Patientinnen und Patienten mit Tumorerkrankungen für chronische, altersassoziierte Erkrankungen wie Diabetes mellitus, koronare Herzkrankheit, Adipositas oder Demenz berücksichtigt. Das aktualisierte Gutachten wird als 14. Band der Gesundheitspolitischen Schriftenreihe der DGHO herausgegeben [1].
Ausblick 2025: Im Kern werden als Folge von demographischem Wandel und medizinischem Fortschritt die Anforderungen an die Krebsversorgung in Deutschland bis 2025 deutlich steigen. Nicht nur die Zahl der neu diagnostizierten Krebspatienten wird voraussichtlich um rund 10% zunehmen. Auch die Zahl der Menschen, die mit Krebs leben, wird in Deutschland stark ansteigen, genauso wie die Zahl der Krebserkrankten mit chronischen Begleiterkrankungen [1].
Hintergrund und Methodik: Wie bei der ersten Auflage im Jahr 2013 wurde die wissenschaftliche Analyse vom Institut für Community Medicine der Universitätsmedizin Greifswald (Direktor: Prof. Dr. med. Wolfgang Hoffmann) erstellt. Wie Prof. Hoffmann in Berlin erläuterte, sei aufgrund des demographischen Wandels in Deutschland und der starken Altersassoziation vieler Krebsarten von einem Anstieg der Krebsneuerkrankungen auszugehen. Aufgrund neuer Therapiekonzepte konnten aber selbst bei einigen sehr aggressiven Krebserkrankungen die 5-Jahres-Überlebensraten seit 2000 deutlich verbessert werden. Dadurch steige der Anteil der Menschen mit prävalenten Krebserkrankungen in der Bevölkerung. Beide Trends erhöhten die Anforderungen an die stationäre und ambulante onkologische Versorgung.
Die epidemiologischen Daten der Krebsneuerkrankungen und die zugehörigen tumor- und altersspezifischen Überlebensraten wurden auf Landkreisebene vom Zentrum für Krebsregisterdaten (ZfKD) zur Verfügung gestellt. „Auf dieser Basis wurden die absoluten Neuerkrankungszahlen, Inzidenz- wie auch Prävalenzraten berechnet. Die Hochrechnungen für das Jahr 2025 erfolgten für alle Landkreise auf der Basis der Bevölkerungsprognose der statistischen Landesämter. Bei dieser Projektion wurde angenommen, dass die jeweiligen Raten von 2014 für die jeweiligen Altersgruppen je Geschlecht konstant bleiben“, sagte Hoffmann.
Im Gegensatz zu anderen Hochrechnungen nutze die DGHO-Studie unterschiedliche Datenquellen wie Bevölkerungsregister und epidemiologische Krebsregister und modelliere die voraussichtliche Entwicklung bei wichtigen Kenngrößen wie Krebsneuerkrankungen und Prävalenzen bis auf Landkreisebene, erklärte Prof. Dr. Carsten Bokemeyer, Vorsitzender der DGHO und Direktor der II. Medizinischen Klinik und Poliklinik für den Bereich Onkologie, Hämatologie und Knochenmarktransplantation mit Sektion Pneumologie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf: „Dadurch werden sehr genaue und sehr differenzierte Aussagen zu den Trends bei der Krebsversorgung in Deutschland möglich, die sonst nicht ohne weiteres ersichtlich wären.“
Prognosen für 2025
Im Ergebnis ist auf Grundlage der Bevölkerungsdaten der statistischen Landesämter eine deutliche Alterung der Bevölkerung erkennbar, so Hoffmann weiter. Die Altersgruppen der über 60-Jährigen und der über 80-Jährigen werden überproportional ansteigen. Die Anzahl der jährlichen Krebsneuerkrankungen wird 2025 gegenüber 2014 rechnerisch um 52.720 Fälle auf 522.500 zunehmen. Die Prävalenz von Krebserkrankungen steigt zwischen 2014 und 2025 rechnerisch um insgesamt 243.585 auf 2.846.400 Fälle an. Den stärksten Zuwachs zeigen Entitäten, die im Alter häufig sind: bei Männern Prostatakrebs, bei Frauen Brustkrebs. Die höchsten relativen Zuwachsraten werden für Männer beim Harnblasenkrebs, für Frauen beim Magen- und Bauchspeicheldrüsenkrebs erwartet.
Mit der demographischen Alterung steigt die Zahl der Patienten, die neben Krebs an mindestens einer weiteren chronischen Erkrankung leiden. Die Anzahl von Patienten, die beispielsweise sowohl von Krebs als auch Niereninsuffizienz betroffen sind, wird 2025 voraussichtlich etwa 20.000 Fälle mehr betragen als 2014.
Wie Hoffmann genauer ausführte, wurde für die Hochrechnung vereinfachend angenommen, dass sowohl die alters- und geschlechtsspezifische Inzidenz- als auch die Überlebensrate für jede Entität bis 2025 konstant bleibe. Neue Therapieansätze, die im hier betrachteten Zeitraum zu einer Verbesserung der Überlebenswahrscheinlichkeit führen, blieben deshalb unberücksichtigt. „Wenn Krebserkrankungen in zehn Jahren früher erkannt und besser behandelt werden können als heute, dann könnte die tatsächliche Prävalenz im Jahr 2025 höher liegen als in der rein Demographie-basierten Hochrechnung.“ Umgekehrt könnten Erfolge bei der Prävention dazu führen, dass Inzidenz und Prävalenz geringer ausfallen als prognostiziert.
Hoffmann zufolge zeige das vorliegende Gutachten, dass aufgrund des demographischen Wandels und der Morbiditätsentwicklung für Krebserkrankungen verstärkt onkologische internistische Therapien und Langzeittherapien erforderlich werden: „Eine entsprechende Zusammenarbeit zwischen Onkologen, Krankenhaus- und Hausärzten ist daher für eine optimale Behandlung der Krebspatienten zwingend notwendig.“
Positionspapier der DGHO
Vor diesem Hintergrund veröffentlichte die DGHO ein Positionspapier, das Schlussfolgerungen aus dem Gutachten zieht [2]: Zum einen werden verstärkt onkologisch und internistisch ausgerichtete Therapien und Langzeitbehandlungen in der Versorgung der Patienten erforderlich sein. Der wachsende Anteil an komplexen Therapien erfordere zudem eine große Anzahl und hohe Expertise von in diesem Bereich ausgebildeten Spezialisten. Zwar sei die Anzahl von Ärztinnen und Ärzten mit der Qualifikation Innere Medizin mit Schwerpunkt Hämatologie und Onkologie zwischen 2014 und 2018 von 2.213 auf 2.650 gestiegen, und auch die Zusatzweiterbildungen „Medikamentöse Tumortherapie“ hätten um etwa 800 zugenommen. Gleichzeitig stehe die deutsche Ärzteschaft aber vor einer starken Ruhestandswelle, deren Auswirkungen auf die Zahl der Ärzte, die Krebserkrankte versorgen, und damit auf die Krebsversorgung insgesamt, sich bisher noch schwer abschätzen ließen.
Ein weiterer Punkt ist die Organisation einer flächendeckenden Versorgung. Eine hochwertige Krebsbehandlung besteht nach Ansicht der Experten nicht nur in einer kurzfristigen Therapie in einem spezialisierten Zentrum, sondern auch in der wohnortnahen Langzeitbetreuung. „Wir müssen in Deutschland Versorgungsstrukturen schaffen, die es erlauben, die Kompetenz der spezialisierten Zentren in der Fläche verfügbar zu machen, wenn wir nicht riskieren wollen, dass ganze Landstriche oder alte Menschen bei der Krebsversorgung abgehängt werden“, betonte Prof. Dr. Maike de Wit von der Arbeitsgemeinschaft der Hämatologen und Onkologen im Krankenhaus e. V. (ADHOK) auf der Pressekonferenz. Auch bezüglich der wohnortnahen terminalen Betreuung krebskranker Patienten sind laut DGHO Verbesserungen der Struktur hinsichtlich Hospizversorgung und Palliativeinheiten notwendig.
Bei der Umsetzung dieser Punkte sieht die Fachgesellschaft die „Hämatologie und Internistische Onkologie“ gefordert: Das Fachgebiet müsse als Spezialdisziplin für die „Medikamentöse Tumortherapie“ eine entscheidende Rolle bei der Versorgung der steigenden Anzahl der Krebspatienten in Deutschland des nächsten Jahrzehnts spielen.
Bettina Baierl