Beim Schilddrüsenkarzinom (thyroid cancer, TC) fallen seit Beginn des neuen Jahrtausends bei insgesamt sehr niedriger Inzidenz weltweit zunehmende Erkrankungszahlen auf; die dadurch bedingte Mortalität bleibt jedoch weiterhin gering. Therapie der ersten Wahl bei Diagnose dieses Tumors ist die Operation. Nach Thyreoidektomie ist die Radiojodablation beim differenzierten TC (dTC) ein inte-graler Therapiebaustein. So werden residuelles Schilddrüsengewebe und eventuell verbliebene Tumorzellen zerstört und die Inzidenz von lokoregionalen Rezidiven und Fernmetastasen gesenkt. „Damit ist in vielen Fällen eine Heilung möglich“, konstatierte Prof. Matthias Kroiß, München. Entsprechend hätten Patienten mit lokalisierten Tumoren der Stadien I–III, die die überwiegende Mehrzahl der Erkrankten stellen, eine exzellente Prognose mit normaler Lebenserwartung.
Therapiebedarf bei progredienten Tumoren
Anders sieht es bei Radiojod-refraktären dTC aus, bei denen das Gesamtüberleben innerhalb weniger Jahre drastisch sinkt. „Hier bedarf es neuer Therapien“, betonte Kroiß. Mit Lenvatinib und Sorafenib beim Radiojod-refraktären dTC sowie Vandetanib und Cabozantinib beim aggressiv verlaufenden progredienten medullären TC (mTC) wurden für diese Situation bereits vor Jahren Multikinase-Inhibitoren zugelassen. Diese Substanzen haben sich in Studien aufgrund der Verlängerung des progressionsfreien Überlebens (PFS) und der hohen Ansprechrate als effektiv erwiesen. „Pferdefuß“ seien jedoch die hohen Nebenwirkungsraten, die die Therapie oft erschwerten und häufige Dosismodifikationen erforderten, erläuterte Kroiß.
Mit Selpercatinib (Retsevmo®) wurde im Februar 2021 der erste RET-Inhibitor beim fortgeschrittenen RET-fusionspositiven TC nach Vorbehandlung mit Sorafenib und/oder Lenvatinib sowie beim fortgeschrittenen RET-mutierten mTC nach Vorbehandlung mit Cabozantinib und/oder Vandetanib in der EU zugelassen [1]. Kroiß bezeichnete die Substanz als hochselektiv: Selpercatinib hemme praktisch ausschließlich die RET-Kinase und ihre onkogen wirkenden Fusionen und Punktmutationen. Hierdurch werde der unregulierte konstitutive Signal-transfer über den MAP-Kinase-Weg in den Zellkern unterbunden und damit die Tumorproliferation blockiert. RET-Alterationen, die zu einer Liganden-unabhängigen Aktivierung der Kinase führen, lassen sich bei zahlreichen Tumoren nachweisen. Beim dTC liegt die Prävalenz von RET-Fusionen bei rund 10 %, während sie beim mTC mit einer Rate von
> 60 % und beim hereditären mTC mit > 90 % deutlich häufiger sind.
Langanhaltende Remissionen
Basis der EU-Zulassung war die Phase-I/II-Studie LIBRETTO-001 bei mit Multikinase-Inhibitoren vorbehandelten Patienten mit RET-mutiertem mTC
(n = 55) bzw. RET-fusionspositivem TC (n = 19) [2]. In beiden Kohorten mit oft stark vorbehandelten Patienten besaß Selpercatinib eine hohe Aktivität: Beim RET-fusionspositiven TC lag die Gesamtansprechrate (ORR) bei 79 %, wobei zwei Patienten eine komplette Remission (CR) erreichten. Kroiß zufolge sprachen selbst Patienten mit dem prognostisch sehr ungünstigen anaplastischen TC an. Auch die Ansprechdauer von median 18,4 Monaten nannte er „bemerkenswert“. Die 1-Jahres-PFS-Rate beträgt 64 %.
Beim mTC mit RET-Punktmutationen war die ORR mit 69 %, davon 11 % CR, ebenfalls hoch. Remissionen wurden zudem bei 10 von 11 Patienten mit ZNS-Metastasen induziert. In der mTC Kohorte wurde der Median der Remissionsdauer und des PFS noch nicht erreicht. Die 1-Jahres-PFS-Rate lag bei 82 %. Zusammenfassend wertete Kroiß Selpercatinib als effektive Option beim molekular definierten TC. Auch bei Patienten mit großer Tumorlast werde nach seiner Erfahrung eine beeindruckende Besserung des Allgemeinbefindens erreicht. Zudem besitze Selpercatinib ein günstiges Nebenwirkungsprofil, mit meist gut kontrollierbaren unerwünschten Ereignissen. Nebenwirkungen vom Grad 3–4 seien mit Ausnahme der Hypertonie selten.
Voraussetzung für eine Behandlung mit Selpercatinib ist die Testung auf RET-Alterationen. Bei positivem Nachweis kann die Substanz als Zweitlinientherapie beim RET-fusionspositiven und RET-mutierten TC zum Einsatz kommen.
Katharina Arnheim