Eine Medizin, die sich an genetischen und soziokulturellen Unterschieden zwischen Männern und Frauen ausrichtet, erfordere die Trennung von alten Denkmustern, sagte Prof. Anne Letsch, Kiel. Zwar sei vielen Behandelnden klar, dass Unterschiede zwischen den Geschlechtern bestehen, doch fände dies zu selten Eingang in Behandlungsschemata [1]. Letsch stellte klar, dass die Begriffe Geschlecht und Gender unterschieden werden müssen. Während „Geschlecht“ die biologischen Attribute von Menschen beschreibt – etwa ihre Chromosomen, Genexpression, Hormone, physiologische Funktionen und Anatomie –, umfasst der Begriff „Gender“ die strukturellen und sozialen Determinanten von Gesundheit. Bei der geschlechts- und gendersensiblen Medizin, die beide Aspekte vereint, geht es laut Letsch darum, Verständnis dafür zu wecken, dass Körpersysteme bei Männern und Frauen anders funktionieren können und dass sich Verhaltensweisen, Präferenzen und Einflüsse zwischen den Geschlechtern unterscheiden. All dies erfordere angepasste Strategien für Prävention, Screening, Diagnose, Behandlung und Nachsorge. Das heiße nicht, dass die Medizin nur an den Bedürfnissen von Frauen auszurichten sei. Vielmehr diene geschlechts- und gendersensible Medizin beiden Geschlechtern, wie Letsch betonte.
Krebsinzidenz und -mortalität: deutliche Unterschiede
Gut dokumentiert seien Geschlechtsunterschiede hinsichtlich der Inzidenz und Mortalität von Krebsentitäten, sagte Letsch. Insgesamt seien Männer häufiger von Krebs betroffen als Frauen, und sie würden auch häufiger daran sterben. Als mögliche Ursachen nannte sie geschlechtsspezifische Unterschiede hinsichtlich Genetik, Epigenetik, Immunität, Metabolismus, zellulärer Seneszenz und Angiogenese. PD Dr. Ute Seeland, Berlin, ergänzte, dass das Vorhandensein von zwei X-Chromosomen weiblichen Zellen den Vorteil verschaffen könne, krebstreibende Genmutationen auszugleichen [2].
Im Sinne der Gendermedizin kommen soziale Einflüsse hinzu, die die Häufigkeit und Schwere von Krebserkrankungen mit beeinflussen. So sind Lifestylefaktoren, Verhaltensweisen wie Rauchen oder Alkoholtrinken, die beruflich bedingte Exposition gegenüber Noxen, Ernährung und/oder Stress in beiden Geschlechtern oft unterschiedlich ausgeprägt. Am Beispiel des Kolonkarzinoms erläuterte die Wissenschaftlerin die komplexen Zusammenhänge: Neben einem Gendereinfluss auf krankheitsrelevante Risikofaktoren seien klare biologische beziehungsweise genetische Unterschiede zwischen den Geschlechtern dokumentiert. So seien Tumoren bei Männern vor allem im distalen Kolon und Rektum lokalisiert, die von Frauen dagegen eher im proximalen Kolon. Darüber hinaus herrschen bei Tumoren beim männlichen Geschlecht oft chromosomale Instabilität sowie TP53- und APC-Mutationen vor, bei Frauen dagegen Mikrosatelliteninstabilität und BRAF-Mutationen [3]. Letschs Fazit: „Geschlecht, Gender und Genomik spielen zusammen.“
Toxizität und Ansprechen gegenüber Krebstherapien
Frauen entwickeln gegenüber Krebstherapien grundsätzlich mehr Nebenwirkungen als Männer, was mit einer unterschiedlichen Körperzusammensetzung (bei Männern stellt die metabolisch aktive fettfreie Körpermasse 85 % des Body Mass Index dar, bei Frauen 65 %) sowie geschlechtsspezifischen Unterschieden hinsichtlich der Pharmakokinetik und -dynamik begründet wird. All diese Erkenntnisse stammen fast ausschließlich aus retrospektiven Analysen. Wünschenswert sei, dass solche Fragestellungen zukünftig prospektiv untersucht werden könnten – darin waren sich Letsch und die anderen Expertinnen der Session einig. Ziel sei es, solche geschlechts- und genderspezifischen Unterschiede zu validieren und in angepasste Behandlungsregime einfließen zu lassen, um letztlich die Sterblichkeit durch Krebserkrankungen zu vermindern.
Männliches und weibliches Immunsystem
Die geschlechtsspezifischen Unterschiede zwischen Mann und Frau seien hinsichtlich ihres Immunsystems besonders ausgeprägt, berichtete Dr. Kathrin Heinrich, München. So differiere sowohl die Zusammensetzung als auch die Aktivität der Immunzellpopulationen in beiden Geschlechtern. Diese und andere Einflüsse hätten etwa zur Folge, dass Frauen häufiger an Autoimmunerkrankungen leiden, während Männer eher an Krebs erkranken (Abb. 1) [4].