Im Laufe des Lebens treten in menschlichen Zellen somatische Mutationen auf, die zu einem klonalen Wachstum bestimmter Klone führen können. Ist die Hämatopoese betroffen, spricht man von klonaler Hämatopoese (CH) – einem Prozess, der das Auftreten von MPN begünstigt. Ein Vortrag beim ASH 2021 in der Late-Breaking-Abstracts-Session brachte neue Erkenntnisse zum Zusammenwirken verschiedener somatischer Mutation, der klonalen Selektion und dem Entstehen von MPN [1].
Wie Margarete A. Fabre, Cambridge, UK, berichtete, wurden knapp 1.600 DNA-Proben von 385 Personen im höheren Lebensalter über ein Zeitraum von 13 Jahren evaluiert. Dabei konnten knapp 700 CH-Klone ermittelt und im Hinblick auf ihre Mutationen analysiert werden, sodass Rückschlüsse auf den longitudinalen Verlauf der CH möglich wurden. Es zeigte sich, dass 92,4 % der Klone eine stabile exponentielle Rate aufwiesen, also gut vorhersagbar waren. Klone mit Mutationen in TET2, PPM1D, SF3B1 oder ASXL1 vermehrten sich stark mit einer Rate von 10 %/Jahr, während solche mit Mutationen in TP53 oder DNMT3A nur halb so schnell wuchsen. Klone mit sog. Hotspot-Mutationen zeigten kein schnelleres Wachstum als Klone mit anderen Mutationen. Durch retrograde Extrapolation konnten die Forschenden zudem zeigen, dass das Klon-Wachstum allgemein im jüngeren Lebensalter schneller ablief; so wuchsen DNMT3A-Klone im jüngeren Alter mehr als doppelt so schnell wie im höheren. Dagegen war das klonale Wachstum von TET2-Mutationen –die häufigste Ursache für klonale Expansion bei Personen ab 75 Jahren –, über alle Altersstufen vergleichbar. Klone mit U2AF1- und SRSF2-P95H-Mutationen trate erst im höheren Lebensalter auf und zeichneten sich dann durch besonders schnelles Wachstum aus [1]. Auch wenn die neuen Erkenntnisse noch kein Gesamtbild ergeben, könnten sie zukünftig ggf. zur Früherkennung von MPN genutzt werden.
Neue Ansätze bei FGFR1-Aberrationen
Für Patient:innen mit myeloischen/lymphatischen Neoplasien und FGFR1-Rearrangement (MLNFGFR1) wurden Daten der Phase-II-Studie FIGHT-203 mit dem FGFR1(–3)-Inhibitor Pemigatinib vorgestellt [2]. Betroffene mit dieser Aberration sprechen oft nur unzureichend auf eine zytoreduktive Therapie mit Hydroxyurea (HU), Multikinase-Inhibitoren oder Zytostatika an und haben eine entsprechend schlechte Prognose. In die Studie gingen 33 Patient:innen (median 64 Jahre alt) nach mindestens einer Vortherapie ein, die täglich 13,5 mg Pemigatinib (je 2 Wochen, dann eine Woche Pause) erhielten; Patient:innen ohne Vortherapie bekamen die Substanz kontinuierlich. 85 % der Betroffenen waren vorbehandelt; 55% befanden sich in der chronischen Phase (CP) und 39 % in der Blastenkrise. Primärer Endpunkt war die Rate an kompletten Remissionen (CR). 64,5 % der Patient:innen erreichten nach einer medianen Behandlungsdauer von ca. 30 Wochen eine CR und 72,2 % sogar eine komplette zytogenetische Remission, 18 % konnten einer allogenen Stammzelltransplantation (allo-HSCT) zugeführt werden. Das Sicherheitsprofil entsprach dem einer FGFR-Inhibition, wobei durchaus belastende Nebenwirkungen wie Stomatitis, Diarrhö, Alopezie, Anämie oder Schmerzen an den Extremitäten möglich waren. Unerwartete Toxizitäten traten nicht auf [2]. Pemigatinib ist die bislang erste Substanz, die bei Patient:innen mit meist weit fortgeschrittenen MLNFGFR1 in der überwiegend chronischen Phase anhaltende und erstaunlich hohe Raten an CR und zytogenetischen Remissionen erzielte.
Polycythaemia vera
Neue Risikofaktoren für thromboembolische Ereignisse
Seit Längerem deutet sich an, dass die Faktoren höheres Lebensalter und stattgehabte Thrombosen unzureichend sind, um das Risiko für thromboembolische Ereignisse (TE) bei der PV ausreichend zu beschreiben. Eine beim ASH 2021 vorgestellte Analyse der Real-World-Studie REVEAL mit 2.271 Betroffenen legt nahe, dass auch erhöhte Blutbildwerte auf ein gesteigertes TE-Risiko hindeuten: Bei 106 Patient:innen mit TEs (30 arteriell, 76 venös) waren ein Hämatokrit > 45 %, eine Leukozytenzahl > 11 x 109/l sowie eine Thrombozytenzahl > 400 x 109/l signifikant mit einem erhöhten TE-Risiko verbunden [3].
Große Aufmerksamkeit fand auch die Untersuchung, die Guiseppe Loscocco, Florenz, Italien, vorstellte. Darin konnte eine JAK2V617F-Allellast > 50 % als starker unabhängiger Prädiktor für zukünftige Venenthrombosen (HR 3,8; p = 0,0006), aber nicht für arterielle Thrombosen identifiziert werden. Es wird diskutiert, ob die JAK2V617F-Allellast ggf. in zukünftige Risiko-Scores bei der PV aufgenommen werden sollte [4].
Ruxolitinib auch bei Älteren wirksam und sicher
Der JAK-Inhibitor Ruxolitinib ist in der Zweitlinie bei PV-Patient:innen zugelassen, die gegen HU resistent/intolerant sind. Da in den Zulassungsstudien ältere Patient:innen unterrepräsentiert waren, evaluierte eine Real-World-Studie, ob Ruxolitinib in der Versorgungsroutine ab einem Alter von 75 Jahren sicher anwendbar und vergleichbar wirksam ist. Dazu wurden Daten von 934 Betroffenen aus 29 Zentren retrospektiv analysiert. Alle waren HU-resistent/-intolerant und nach Versagen der zytoreduktiven Primärtherapie auf Ruxolitinib umgestellt worden. Wie Roberto Latagliata, Viterbo, Italien, berichtete, gab es bei den bislang 168 analysierten Betroffenen im Hinblick auf das Ansprechen auf Ruxolitinib zu keinem Zeitpunkt signifikante Unterschiede zwischen den drei Alterskohorten ≥ 75 Jahre, 60–74 Jahre und < 60 Jahre [5]. Auch hinsichtlich der Nebenwirkungen fanden sich kaum relevante Unterschiede zwischen Älteren und Jüngeren. Lediglich Anämie und Thrombozytopenie aller Grade wurden bei Patient:innen ab 75 Jahren etwas häufiger beobachtet als bei den jüngeren (68,3 % vs. 51,7 % für Anämie; p = 0,06; und 12,2 % vs. 3,5 % für Thrombozytopenie; p = 0,04). Latagliata schließt daraus, dass ein höheres Lebensalter nicht von einer Ruxolitinib-Therapie abhalten sollte, wenngleich bei älteren Patient:innen ein strengeres hämatologisches Monitoring anzuraten sei [5].
Ermutigende Daten für Hepcidin-Mimetikum Rusfertide
Ein neuer Therapieansatz bei der PV besteht darin, durch eine Eisenumverteilung mit dem Hepcidin-Mimetikum Rusfertide (PTG-300) die Frequenz von Phlebotomien zu senken – offenbar ein sinnvoller Ansatz, wie aktuelle ASH-Daten zeigen.
In der Phase-II-Studie PTG-300-04 wurden Eisenstatus und Phlebotomiebedarf bei PV-Patient:innen mit ≥ 3 Aderlässen mit oder ohne zytoreduktive Therapie vor und während der Behandlung mit Rusfertide verglichen. Dabei wurde die Rusfertide-Dosis (10–120 mg subkutan) so angepasst, dass der Hämatokrit konstant unter 45 % blieb. Die Auswertung nach Abschluss der Rekrutierung bei 63 Personen nach 8–92 Wochen Behandlung ergab, dass bei nahezu allen Patient:innen Phlebotomien nicht mehr notwendig waren – unabhängig von der Vortherapie. Bei einem Drittel der Betroffenen verbesserte sich unter der gut verträglichen Therapie auch die Symptomatik um ≥ 40 % [6]. Die Daten werden in einer Phase-III-Studie weiter evaluiert.
Die vom Design her ähnliche Phase-II-Studie PTG-300-08 ging noch einen Schritt weiter und untersuchte, ob es möglich ist, durch eine Induktionstherapie mit zweimal wöchentlich verabreichtem Rusfertide den Hämatokrit bei PV-Patient:innen ohne Aderlässe und ohne neu begonnene zytoreduktive Therapie zu normalisieren. Auch dieses erscheint ersten Daten zufolge möglich. In 11 auswertbaren Fällen betrug der absolute Hämatokrit-Abfall im Mittel 1,8 % pro Woche; die mediane Zeit bis zum Erreichen des Ziel-Hämatokrits betrug 4,8 Wochen. Nach Erreichen des Zielwertes konnte der Hämatokrit durch wöchentliche Rusfertide-Dosen konstant gehalten werden [7].
Myelofibrose
Fedratinib nach Ruxolitinib sicher anwendbar
Der JAK-Inhibitor Fedratinib ist bei Myelofibrose sowohl für die Erst- als auch die Zweitlinientherapie nach Vorbehandlung mit Ruxolitinib zugelassen. In der Phase-II-Studie JAKARTA 2 hatte sich unter Fedratinib (400 mg/Tag) bei rund 30 % der MF-Patient:innen mit Resistenz/Intoleranz gegenüber Ruxolitinib ein Ansprechen gezeigt [8]. Die einarmige Phase-IIIb-Studie FREEDOM evaluiert derzeit die Sicherheit/Verträglichkeit von Fedratinib nach Ruxolitinib-Vortherapie bei 34 MF-Patient:innen. Im Speziellen wurde untersucht werden, ob gastrointestinale (GI)-Nebenwirkungen und Thiaminabfall durch Begleitmedikationen vermindert werden können. Nach median rund 7 Monaten waren 47 % der Patient:innen noch unter Therapie, der Rest hatte die Behandlung meist wegen mangelnder Wirksamkeit abgebrochen. 65 % hatten begleitend Ondansetron und 32 % Loperamid erhalten; dadurch konnte die Häufigkeit von GI-Nebenwirkungen im Vergleich zu früheren Untersuchungen reduziert werden (Diarrhö 35 %, Übelkeit 26 %, Erbrechen 18 %) [9]. Zudem waren die Nebenwirkungen leichtgradig und nahmen im Behandlungsverlauf weiter ab. Grad 3/4-Nebenwirkungen – ausschließlich hämatologischer Art – wurden bei etwa einem Drittel dokumentiert. Bei vier Patient:innen erforderte ein abgefallener Thiaminspiegel eine Supplementation. Der JAK-Inhibitor wurde somit unter dem Einfluss einer GI-Begleitmedikation gut toleriert. Die Tatsache, dass knapp die Hälfte der Betroffenen nach 7 Monaten die Behandlung fortführte, lässt auf eine gewisse Wirksamkeit bei dieser schwierig zu behandelnden Population schließen [9].
Neue Substanzen auf dem Prüfstand
Beim ASH 2021 wurden die finalen Daten einer Phase-II-Studie mit Sotatercept für weit fortgeschrittene MF-Pati-ent:innen mit Anämie vorgestellt. Die Substanz wurde, ähnlich wie Luspatercept, als selektive Ligandenfalle für Mitglieder der TGF-beta-Superfamilie entwickelt – mit dem Ziel, die Erythropoese-Suppression aufzuheben. Die anämischen Patient:innen mit oder ohne Transfusionsbedarf erhielten Sotatercept mono (n = 34) oder kombiniert mit Ruxolitinib (n = 21). Während sich das Gesamtansprechen in beiden Armen kaum unterschied (je etwa 30 %), war das Anämie-Ansprechen unter der Monotherapie schlechter als unter der Kombination (19 % vs. 32 %) [10]. 94 % bzw. 89 % hatten die Therapie zum Analysezeitpunkt abgebrochen, meist wegen fehlenden Ansprechens. Abgesehen von hypertensiven Entgleisungen bei 11 und Myalgien bei 22 Betroffenen war Sotatercept ein sicheres Medikament. Das Therapiekonzept wird in einer Phase-III-Studie weiterverfolgt, allerdings mit Luspatercept in Kombination mit Ruxolitinib [10].