Die ersten Jahre entscheiden

Entwicklung des kindlichen Mikrobioms

Die Mikrobiota des Gastrointestinaltrakts spielt eine bedeutende Rolle bei der Entwicklung des Immunsystems und metabolischer Funktionen sowie der späteren Ausprägung von Krankheiten. Entscheidend sind vor allem mütterliche Faktoren in der Perinatalphase sowie umweltbedingte Veränderungen in den ersten drei Lebensjahren.

Schlüsselwörter: Mikrobiom, Mikrobiota, NGS

Die Untersuchung möglicher Zusammenhänge zwischen den individuellen Profilen von Mikroorganismen im menschlichen Körper und bestimmten Erkrankungen ist derzeit zweifellos eines der dynamischsten Forschungsgebiete der Biowissenschaften. Insbesondere die Markteinführung von Hochdurchsatzverfahren zur DNA- und RNA-Sequenzierung im Jahr 2005 ermöglichte eine systematische, kultur­unabhängige Analyse des „Mikrobioms". Dieser Begriff bezeichnet die gesamte genetische Information, die in den Bakterien, Archaeen und Eukaryoten – der sogenannten Mikrobiota – unseres Darms, der Haut sowie anderer Körperkompartimente enthalten ist.

 Pionierarbeiten zur Untersuchung des gesunden humanen Mikrobioms starteten 2008 in den USA mit dem Human Microbiome Project (HMP) und in Europa im Rahmen des MetaHIT Konsortiums. Immer intensivere Forschung führte zu der Erkenntnis, dass die wechselseitige Beziehung zwischen Mensch und Mikroorganismen fundamentale Bedeutung für physiologische, immunologische und neurologische Prozesse hat.   

  

Von Allergie bis Depression

  Eine Störung in der Zusammensetzung der Mikroorganismen bezeichnet man als Dysbiose. Sie ist möglicherweise Ursache für eine Vielzahl von Krankheiten – von Allergien und Auto­immunerkrankungen über chronisch entzündliche Darmerkrankungen und Kolonkarzinome bis zu Fettleibigkeit und Typ-2-Diabetes.

 Sogar bei Patienten, die an einer Depression litten, fand man signifikant veränderte Mikrobiotaprofile. Untermauert wurde dieser Befund durch Untersuchungen am Tiermodell, bei denen ein Transfer der fäkalen Mikrobiota depressiver Patienten in keimfreie Mäuse depressives Verhalten induzierte, während der Darminhalt von gesunden Kontrollpersonen keine Auswirkungen hatte.

 Im Säuglings- und Kleinkindalter ist der Organismus besonders anfällig für die Entstehung einer Dysbiose, während sich die Zusammensetzung der Mikroorganismen im Erwachsenenalter als relativ stabil und widerstandsfähig erweist. Wie sich die Mikrobiota nach der Geburt entwickelt und welchen Einfluss ihre Zusammensetzung auf die Entstehung späterer Krankheiten nimmt, ist Gegenstand zahlreicher Studien, darunter der KUNO-Kids Gesundheitsstudie unter Federführung von Wissenschaftlern der Universität Regensburg (http://kunokids.de).

 

Entwicklung der Mikrobiota

Die mikrobielle Besiedelung des Organismus beginnt vermutlich bereits im Uterus und erreicht in der Peri- und Postnatalphase einen immer höheren Grad an Diversität (Abb. 1).

Studien zum Mikro­biom des Meko­niums bei gezielt besiedelten Mäusen legen nahe, dass Bakterien durch Translokation von Zellen aus dem mütterlichen Darm in den Blutstrom des Fötus gelangen können. Auch die direkte Übertragung von Bakterien aus dem Uterus auf das Kind wurde postuliert, doch die Exis­tenz einer lebensfähigen intrauterinen Mikrobiota ist bislang aufgrund der Kontaminationsproblematik mit Haut- und Vaginalkeimen nicht zweifelsfrei nachgewiesen[6].

Pioniere der Besiedlung des kindlichen Gastrointestinaltrakts sind Bakterien, die sich an die anfangs noch sauerstoffreiche Umgebung anpassen können (Enterobacteria­ceae). Durch deren Stoffwechselaktivität wird der Darm innerhalb weniger Tage nach der Geburt nahezu sauerstofffrei; dann dominieren Vertreter der mütterlichen Haut- und Vaginal-Mikrobiota (Bifidobacteriaceae, Clostridiaceae, Enterococcaceae, Lactobacillaceae).

Das Stillen mit Muttermilch führt zur Ausbreitung von Milchsäurebakterien (v. a. Bifidobacterium), die mit Einführung der Breikost wieder zurückgehen, um Spezies mit besserer Anpassung an das geänderte Kohlenhydratspektrum zu weichen (Bacteroides, Clostridium und Ruminococcus).

Äußere Einflüsse, wie der Hautkontakt mit der Mutter und das „Begreifen" von Gegenständen mit Händen, Füßen und Mund, beeinflussen die postnatale Besiedelung von Haut und Darm mit Mikro­organismen. Selbstverständlich spielen auch Infektionen und Anti­biotikatherapien eine wichtige Rolle bei der Ausbildung eines individuellen Keimspektrums.

Der Einfluss mütterlicher Faktoren auf das Immunsystem des Kindes beginnt bereits während der Schwangerschaft: In einer Studie mit Mäusen konnte durch transiente Besiedlung der trächtigen Mütter mit einem Stamm von E. coli gezeigt werden, dass dessen Stoffwechselprodukte im Nachwuchs die Expression von Genen für antibakte­rielle Peptide und die Verstoffwechselung bakterieller Metaboliten förderten. Auch mütterliche Antikörper, die den Transfer der Stoffwechselprodukte von der Mutter zum Nachwuchs begünstigen, spielen hier eine Rolle[5].

Postpartal sind bakterielle Metaboliten weiterhin essenziell für die Entwicklung der darmspezifischen Barrierefunktion sowie für die Differenzierung und Proliferation von T-Helferzellen und regulatorischen T-Zellen (TReg) im Rahmen der Immunabwehr.


Risiken der Dysbiose

Man geht heute davon aus, dass eine nachhaltige Störung der Mikrobiom­konstellation in den ersten Lebensjahren eine ganze Reihe immunologischer Krankheiten nach sich ziehen kann. Zu diesen Störungen zählen durchaus auch Errungenschaften der Zivilisation wie Hygiene, steigende Zahl von Kaiserschnittgeburten oder Einsatz von Antibiotika. All diese Faktoren stehen in Zusammenhang mit dem statistisch belegten Anstieg immunologisch bedingter Erkrankungen in Industrieländern.

Aber auch metabolische und neuro­biologische Störungen können durch eine intrauterine oder frühkindliche Dys­biose begünstigt werden. So ist Fettleibigkeit der Mutter während der Schwangerschaft beispielsweise mit einem erhöhten Risiko für Störungen der neuronalen Entwicklung des Kindes und Erkrankungen aus dem Autismusspektrum assoziiert. Im Mausmodell zeigten sich durch fetthaltige Ernährung der Muttertiere lang anhaltende Veränderungen des Dopaminstoffwechsels im mesolimbischen System der Nachkommen. Durch orale Gabe von Lactobacillus reuteri ließen sich sowohl die synaptischen Funktionsstörungen als auch die sozialen Defizite aufheben[2].

In einer weiteren eindrucksvollen Studie wurde die Mikrobiota aus Mäusen mit fettreicher Ernährung in konventionell gehaltene Tiere übertragen. Unter der hochkalorischen Fettdiät nahmen vor allem Spezies aus unterschiedlichen Familien des Phylums Firmicutes ab; die veränderte mikrobielle Zusammensetzung führte interessanterweise zu einem geschlechtsspezifisch unterschiedlichen Phänotyp: Während weibliche Tiere deutliches Übergewicht entwickelten, zeigten männliche Tiere Störungen kognitiver Funktionen sowie ein verändertes Erkundungs- und Zwangsverhalten[1].

Auch beim Menschen wurde eine intesti­nale Dysbiose vor und nach der Geburt mit pädiatrischen Erkrankungen in Verbindung gebracht. Dazu gehören nekrotisierende Enterokolitiden und chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Fett­leibigkeit und Mangelernährungssyndrome sowie Asthma und Atopien[7].

 

Entbindungsmodus

Nach Angaben des statistischen Bundesamts kommt deutschlandweit mittlerweile fast jedes dritte Kind per Kaiserschnitt zur Welt. Dieser Entbindungsmodus führt bereits wenige Tage nach der Geburt zu erheblichen Unterschieden in der Mikrobiota der Neugeborenen: Unmittelbar nach einer Vaginalgeburt dominieren dort im Nasal-, Oral-, Nasopharyngeal- und Intestinalraum Spezies der Gattung Lactobacillus, einem Hauptvertreter der vaginalen Mikrobiota. Kaiserschnittgeburten sind dagegen in allen Habitaten von typischen Hautkommensalen der Gattungen Streptococcus, Staphylococcus und Propionibacterium besiedelt. Auch ein Jahr nach der Geburt ist die Diversität der Mikrobiota nach einer Kaiserschnittgeburt signifikant reduziert.

Inwieweit dies zu späteren gesundheitlichen Störungen beim Kind führt, ist noch nicht zweifelsfrei geklärt. In einer Studie wurden Kinder unmittelbar nach der Operation mit mütterlicher Vaginalflüssigkeit inkubiert, um die physiologische Mikrobiota zu simulieren. Immerhin konnte dadurch die mikrobielle Zusammensetzung bei Kaiserschnittgeburten und natürlich geborenen Kindern angeglichen werden[4].


Einfluss der Ernährung

Es ist bekannt, dass gestillte Kinder ein allgemein geringeres Risiko für Infektionen oder Allergien aufweisen. In mehreren Studien mit Muttermilch im Vergleich zu Ersatzpräparaten (Pre-Nahrung) konnte gezeigt werden, dass Säuglinge jeden Tag Millionen Bakterien über die Muttermilch aufnehmen, die das Immunsystem in dieser frühen Lebensphase prägen. Der überwiegende Teil stammt sicherlich aus der Hautmikrobiota der Mutter, aber auch ein entero-mammärer Pfad wird diskutiert. Zusätzlich ließ sich die Übertragung von maternalen Antikörpern (IgA), Lactoferrin und anderen antimikrobiell aktiven Faktoren durch das Stillen nachweisen.

Besonders die komplexen, nicht-verdaubaren Kohlenhydrate der Muttermilch (sogenannte humane Milch-Oligosaccharide, HMOs) begünstigen die Ansiedlung von gesundheitsförderlichen Kommensalen. Einige Bifidobakterien – interessanterweise nur aus Mikrobiota von Kindern, nicht aber von Erwachsenen – können solche HMOs zu Milchsäure und kurzkettigen Fettsäuren (Acetat, Propionat und Butyrat) fermentieren.

Das dabei entstehende saure Milieu verhindert die Invasion von darmpathogenen Bakterien. Außerdem sind die gebildeten Fettsäuren wichtige Energielieferanten für die Zellen des Dickdarms. Klinisch bedeutsam könnte dies in Entwicklungsländern sein; so wurde in Malawi ein signifikanter Zusammenhang zwischen vermindertem Gehalt an sialylierten HMOs der Muttermilch und Unterernährung der Kinder gezeigt. Dieser Befund ließ sich auch im Tiermodell belegen: Die Fütterung von bovinen sialylierten HMOs erhöhte das Körpergewicht, verbesserte die Knochenmorphologie und führte zu positiven Veränderungen des anabolen Muskel-, Gehirn- und Leberstoffwechsels[3].

 

Antibiotika

Im Kindesalter besteht eine erhöhte Anfälligkeit für Infektionen, die aber für die Reifung des Immunsystems durchaus wichtig sein können. Eine antibiotische Behandlung kurz nach der Geburt kann die mikrobielle Besiedlung des Neugeborenen nachhaltig stören. In der Tat findet man Dysbiose-assoziierte Erkrankungen wie Diabetes Typ 2, chronische Darmentzündungen oder Allergien im Erwachsenenalter signifikant häufiger, wenn Kinder in den ersten Lebensjahren Antibiotika erhielten. Zusätzlich wurden nekrotisierende Enterokolitiden bei Frühgeborenen und Morbus Crohn im Kindesalter gehäuft beobachtet, wenn die Mütter während der Schwangerschaft antibiotisch behandelt wurden. Bei Neugeborenen konnten sogar schon im Mekonium bakterielle Resistenzgene mit großer Häufigkeit nachgewiesen werden.

Auch wenn der Kausalzusammenhang zwischen frühkindlichen Antibiotika­gaben und den genannten Krankheitsbildern nicht in allen Details gesichert ist, sollte die Indikation bei Säuglingen und Kleinkindern besonders streng gestellt werden, da die Mikrobiota in diesem Alter noch sehr empfindlich ist. Eine restriktive Verordnung schützt ihre entwicklungs­biologische Stabilisierung und trägt so zur Gesundheit im Erwachsenenalter bei.