Probleme und Lösungsvorschläge

Referenzintervalle in der Pädiatrie

Referenzintervalle im Kindes- und Jugendalter sind durch eine hohe altersabhängige Dynamik gekennzeichnet, die durch starre Altersgruppen nur unzureichend abgebildet werden kann. Abhilfe schaffen kontinuierliche Grenzwertverläufe. Diese können dank neuerer statistischer Verfahren auch aus Routinewerten abgeleitet werden.

Schlüsselwörter: Referenzintervalle, Pädiatrie, Reference Limit Estimator, PEDREF Initiative

 

Referenzintervalle sind ein essenzielles Hilfsmittel zur Beurteilung von Labor­untersuchungen. Auch wenn sie keinesfalls das einzige Bewertungskriterium sein dürfen, zieht die Frage, ob ein Messwert in den Referenzbereich fällt oder außerhalb liegt, für den behandelnden Arzt und den betroffenen Patienten eine Vielzahl dia­gnostischer und therapeutischer Konsequenzen nach sich. Aus dieser weichenstellenden Bedeutung für weitere Maßnahmen ergibt sich damit auch eine hohe gesundheitsökonomische Relevanz. Die Bereitstellung valider Referenzintervalle ist daher eine verantwortungsvolle Aufgabe für den Labormediziner.

 

Besonderheiten in der Pädiatrie

Herausfordernd ist diese Aufgabe vor allem für den Altersbereich von der Neugeborenenperiode bis zum 18. Lebensjahr, da in dieser Zeit physiologische Wachstums- und Reifungsprozesse zu ausgeprägten Veränderungen der Richtwerte für die meis­ten biochemischen und häma­tologischen Analyte führen. Das für Erwachsene häufig angewandte Konzept eines einheitlichen Referenzintervalls für alle Altersstufen, allenfalls nach dem Geschlecht differenziert, kann daher auf Kinder nicht übertragen werden.

Für ein altersangepasstes Vorgehen exis­tieren zwei Herangehensweisen, die in Abb. 1 am Beispiel von Kreatinin erläutert werden[1]. Am gebräuchlichsten ist die Unterteilung in getrennte Altersgruppen. Diese basieren im Idealfall auf statistischen Partitionierungsverfahren, die angeben, für welche Altersgruppen gemeinsame Referenz­intervalle sinnvoll sind[2].

Dieses Vorgehen ist allerdings wenig geeignet, um die kontinuierliche Altersdynamik im Kindesalter adäquat abzubilden, denn es führt prinzip­bedingt an den Grenzen zwischen den Altersgruppen zu Fehlklassifikationen. So würde nach Abb. 1 ein Kreatininwert von 0,8 mg/dl (70 mmol/l) im Alter von 14 Tagen als „normal", einen Tag später dagegen als deutlich erhöht (mehr als das Zweifache des oberen Referenzlimits) eingestuft.

 

 

Kontinuierliche Grenzwerte

Da solche Sprünge der biologischen Rea­lität nicht gerecht werden, wird heute eine kontinuierliche Darstellung der Altersabhängigkeit favorisiert. Perzentilenkurven für Größe und Gewicht sind in der Pädia­trie weit verbreitet und ähnliche Präsentationsformen kommen vereinzelt auch zur Beurteilung von Laborwerten zum Einsatz (Abb. 2). Neben der optimalen Abbildung der Altersabhängigkeit berücksich­tigt diese Darstellung auch, dass der Übergang zwischen physiologischen und pathologischen Werten fließend ist. Letztlich ist die Verwendung der 2,5. und 97,5. Perzentile als Unterscheidungskriterium zwischen „normal" und „abnormal" ja ein recht willkürlicher Kompromiss zwischen dem Wunsch, alle Werte der Gesunden abzudecken und trotzdem möglichst viele Kranke zu erkennen.

Leider schränken die grafischen Limitationen der Labor-, Krankenhaus- und Praxis-Informations­systeme eine Visualisierung kontinuierlicher Referenz­grenzen bislang ein. Hier sind Verbesserungen wünschenswert, weil die zugrunde liegende Logik gerade dem mit Perzentilenkurven vertrauten Kinderarzt sehr eingängig ist.

 

Ethische Herausforderungen

Die Problematik der Altersabhängigkeit wird durch ethische und praktische Schwierigkeiten bei der Erhebung solcher Perzentilenkurven noch verschärft. Nach der Leitlinie von CLSI und IFCC zur laborinternen Erstellung von Referenz­intervallen – also der 2,5. und 97,5. Perzentile – sollen für jeden Analyten Blutproben von mindestens 120 gesunden Probanden einer homogenen Gruppe gemessen werden[3]. Blutentnahmen bei gesunden Kindern, allein zum Zwecke der Referenzintervall­erstellung, sind jedoch nur im Rahmen aufwendiger Kooperationsprojekte wie beispielsweise der CALIPER-Initia­tive (Abb. 3) oder den deutschen KiGGS- und LIFE-Untersuchungen möglich, bei denen eine sehr große Zahl freiwilliger Probanden rekrutiert und klinisch intensiv untersucht wurde. Ein einzelnes Labor kann diesen Aufwand nicht leisten.

Zudem limitieren bei Kindern die geringen Probenvolumina die Anzahl bestimmbarer Analyte, und die dynamische Altersabhängigkeit erfordert eine Unterteilung in sehr viele möglichst homogene Gruppen, sodass die Anzahl notwendiger Blutproben bei 120 Probanden pro Gruppe dramatisch ansteigt.

Obwohl die von diesen Einschränkungen besonders betroffenen Neugeborenen (erster Lebensmonat) und Säuglinge (erstes Lebensjahr) nur einen Bruchteil des kindlichen Altersspektrums darstellen, sind gerade diese Gruppen aufgrund der erhöhten Morbidität und Mortalität im Krankenkollektiv deutlich überrepräsentiert und benötigen eine aussagekräftige Labordiagnostik. Das heißt letztlich: Verlässliche Referenzintervalle fehlen genau dort, wo sie am nötigsten wären.

Angesichts dieser vielschichtigen Problematik erstellt praktisch kein Labor in Deutschland eigene leitliniengerechte pädiatrische Referenzintervalle, sondern verwendet vom jeweiligen Testanbieter empfohlene Richtwerte oder Angaben aus der Literatur.

 

Ein Data-Mining-Ansatz 

Alternativ zu den hier beschriebenen direkten bzw. populationsbasierten Verfahren kamen in den letzten Jahren auch indirekte Data-Mining-Verfahren zum Einsatz. Dabei macht man sich den Umstand zunutze, dass aus den Laborinformationssystemen problemlos Tausende von Laborwerten abgefragt werden können, von denen ein Großteil medizinisch unauffällig ist. Es gibt inzwischen verschiedene statis­tische Verfahren, um aus diesem Datenbestand die Verteilung der „normalen" Werte zu schätzen und zur Erstellung von Referenzinter­vallen zu verwenden[4, 5]. Hier ist insbesondere das von der AG Richtwerte der DGKL entwickelte und im Internet verfügbare Software­paket Reference Limit Estimator zu nennen (Download unter www.dgkl.de).

Diese Data-Mining-Verfahren kommen ohne Rekrutierung von Probanden aus und erlauben eine im Vergleich zu direkten Verfahren wesentlich detailliertere Altersauflösung der Referenzgrenzen. Kritiker führen oft an, dass die Grenzen durch den Einschluss pathologischer Proben unscharf seien (was nicht ganz von der Hand zu weisen ist), übersehen dabei aber, dass auch die direkten Verfahren – wegen der geringen Fallzahl pro Altersgruppe – eine erhebliche Impräzision aufweisen und dass durch die Einteilung in Altersgruppen eine zusätzliche Ungenauigkeit entsteht. In zahlreichen Evaluationen konnte gezeigt werden, dass der Reference Limit Estimator auch bei Einschluss vieler abnormaler Proben stabile Referenzgrenzen liefert, die mit den publizierten Werten aus den direkten Verfahren gut übereinstimmen.

  

 

Deutsche Data Mining-Initiative

Um die Vorteile indirekter Verfahren für die Ermittlung kontinuierlicher pädia­trischer Referenzgrenzen in Deutschland zu nutzen, haben wir die multizentrische Data-Mining-Studie PEDREF (Next-Generation Pediatric Reference Intervals) ins Leben gerufen. An dieser von der Kinder- und Jugendklinik des Universitätsklinikums Erlangen initiierten und von der AG Richtwerte der DGKL unterstützten Studie beteiligen sich derzeit zehn pädia­trische Zentren und zwei Einsendelabore. Die Teilnahme weiterer großer Zentren ist ausdrücklich erwünscht, um die Breite der labormedizinischen Methoden adäquat abzubilden und eine hohe Altersauflösung zu erreichen. Durch internationale Kooperationen ist im weiteren Verlauf auch die Untersuchung genetischer und umweltbedingter Einflussfaktoren geplant.

 

Tab. 1: Ausgewählte Studien und Initiativen zur Ermittlung pädiatrischer Referenzintervalle.

 

Labordatenstandardisierung

Ein großer Vorteil kontinuierlicher Referenzintervalle ist die Möglichkeit, die absoluten Laborresultate jeder Altersstufe zu den jeweiligen Grenzwerten in Bezug zu setzen und auf diese Weise zu standardisieren. Man erhält dadurch sehr leicht interpretierbare Relativwerte[6]: Ein Resultat im Zentrum des Referenzintervalls ist beim sog. Ergebnisquotienten beispielsweise immer 100 und beim zlog-Wert 0. Entsprechend können die Referenzgrenzen einheitlich auf 80 bis 120 bzw. -2 bis +2 gesetzt werden.

Der Vorteil dieser Transformation besteht darin, dass die Kenntnis von Referenz­intervallen für die Einordnung in „normal" und „abnormal" nicht mehr notwendig ist, und dass der fließende Übergang zwischen diesen beiden Kategorien transparent wird. Insbesondere das Konzept des Ergebnisquotienten (in Analogie zum Intelligenzquotienten) ist allen Ärzten und selbst Laien bestens vertraut.

Auch eine etwaige Verunsicherung durch verschiedene Einheiten (z. B. mmol/l versus mg/dl beim Blutzucker) oder unterschiedliche Analysenverfahren (Kreatinin nach Jaffé versus enzymatisch) gehört damit der Vergangenheit an. Speziell für Pädiater besteht der Charme dieser Labordatenstandardisierung darin, dass die Ergebnisquotienten bzw. zlog-Werte vom Alter der Kinder unabhängig werden. Wenn also zum Beispiel der Hämoglobinwert eines gesunden Mädchens im Verlauf des ersten Lebensmonats physiologischerweise von 18 auf 14 g/dl absinkt, dann bleibt der Relativwert konstant bei etwa 100 bzw. 0, weil sich das Referenzintervall als Bezugsgröße gleichsinnig verändert.