ASH 2020: Neue Daten zur akuten myeloischen Leukämie und zu myelodysplastischen Syndromen
Die Forschung zur akuten myeloischen Leukämie (AML) ist momentan eines der spannendsten Kapitel der Hämatologie, basierend auf einem besseren Verständnis der molekulargenetischen und pathophysiologischen Mechanismen dieser heterogenen Erkrankung. Eine Vielzahl von pathogenetisch bedeutsamen Mutationen bietet Ansätze für zielgerichtete Therapien, doch auch neue Formulierungen bewährter Wirkstoffe gewinnen an Bedeutung. Neue Substanzen finden auch immer mehr Eingang in die Behandlung myelodysplastischer Syndrome (MDS); bei Hochrisiko-MDS werden wegen biologischer Ähnlichkeiten zur AML auch Konzepte geprüft, die bei dieser Leukämieerkrankung Anwendung finden. Nachfolgend findet sich eine Auswahl neuer Befunde, die im vergangenen Dezember bei der virtuellen Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) 2020 vorgestellt wurden.
akute myeloische Leukämie, myelodysplastische Syndrome, Azacitidin, Gilteritinib, Venetoclax, CPX-351, CC-486, Magrolimab, Luspatercept, Lenalidomid, Imetelstat, Pevonedistat, Sabatolimab
Neue pathogenetische Erkenntnisse zur AML
Die AML ist eine hochkomplexe Erkrankung, die – je nach vorliegender pathogenetischer Grundlage – mit einer unterschiedlichen Prognose für die betreffenden Patienten assoziiert ist. Es kristallisiert sich zunehmend heraus, dass die traditionelle Risikoklassifizierung, die vor dem Einleiten einer Therapie auf der Basis patientenspezifischer, zytogenetischer und molekularer Marker erfolgt, der Komplexität der Erkrankung nicht gerecht wird. Ein Forschungsteam aus Cleveland/Ohio, Houston/Texas, USA, und München (Münchner Leukämielabor, MLL) konnte nun mithilfe von maschinellem Lernen auf Basis eines großen Datensatzes von nahezu 7.000 AML-Patienten einen wichtigen Beitrag zu einer besseren Subklassifikation und Prognoseabschätzung der AML leisten [1]. Die Forscher analysierten zunächst mittels Next Generation Sequencing (NGS) 6.788 Proben von AML-Patienten. Sie entdeckten dabei insgesamt 13.879 somatische Mutationen.
Die Wissenschaftler fanden heraus, dass primäre und sekundäre AML-Erkrankungen unterschiedliche Korrelationen mit bestimmten genetischen Alterationen und dem zytogenetischen Status zeigten. So war die sekundäre AML meist mit Hochrisiko-Alterationen wie einem komplexen Karyotyp und/oder Mutationen in ASXL1 oder RUNX1 assoziiert, während prognostisch günstige Mutationen wie NPM1 oder CEBPA (biallelisch) häufiger bei der primären AML vorkamen. Basierend auf den komplexen Auswertungen des maschinellen Lernens konnten die Forscher insgesamt vier prognostische Subgruppen von AML-Patienten identifizieren, die das Überleben der Patienten auf Grundlage eines spezifischen Mutationsmuster besser vorhersagen können. Die primäre AML war allgemein mit einem geringeren Risiko assoziiert als die sekundäre. Diese neuen Erkenntnisse ebnen nach Ansicht der Forscher den Weg für eine personalisierte Medizin auch im Bereich der AML [1].
In einer weiteren Untersuchung konnte eine via Durchflusszytometrie ermittelte MRD (minimale Resterkrankung)-Negativität, ermittelt vor Einleiten einer allogenen Stammzelltransplantation (allo-SZT), als unabhängiger Prognosefaktor identifiziert werden. Das Erreichen von MRD-Negativität vor allo-SZT war mit einem geringeren Rezidivrisiko und besserem Gesamtüberleben (OS) der Patienten assoziiert [2]. Es erwies sich außerdem als abhängig vom Mutationsmuster zum Zeitpunkt der AML-Diagnose (MRD-Negativität selten bei RUNX1-, TP53- oder SF3B1-Mutation, häufiger bei NPM1-, IDH1- und KRAS-Mutationen). Die Bestimmung des MRD-Status vor allo-SZT könnte somit zukünftig dazu beitragen, Patienten mit erhöhtem Rezidivrisiko im Vorfeld der Transplantation besser zu identifizieren.
Venetoclax-Kombinationen für die AML
Der BCL-2(B-cell lymphoma 2)-Inhibitor Venetoclax, der derzeit zur Behandlung der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) eingesetzt wird, gewinnt auch bei der AML an Bedeutung. Bereits bei der virtuellen Jahrestagung der European Hematology Association (EHA) 2020 waren die Daten der VIALE-A-Studie bei unfitten AML-Patienten vorgestellt worden, die als praxisverändernd gelten. Im Rahmen der Studie hatten 431 neu diagnostizierte AML-Patienten, die nicht für eine intensive Induktionstherapie geeignet waren, 2:1-randomisiert entweder eine Kombination aus Azacitidin und Venetoclax oder Azacitidin und Placebo erhalten. Die Patienten mussten entweder > 75 Jahre alt sein oder eine relevante Komorbidität aufweisen. Die Studienteilnehmer waren im Median 76 Jahre alt und 45 % wiesen einen eingeschränkten Allgemeinzustand (ECOG 2–3) auf. Azacitidin wurde in Standarddosierung verabreicht, Venetoclax (Zieldosis 400 mg) oder Placebo von Tag 1–28 in jedem Zyklus.
Nach einem medianen Follow-up von 20,5 Monaten war das OS im experimentellen Arm gegenüber dem Placebo-Arm signifikant verlängert (median 14,7 vs. 9,6 Monate; HR 0,61; p < 0,001) [3]. Damit erreichte die Studie ihren primären Endpunkt. Bei 36,7 % der Patienten wurde eine komplette hämatologische Remission dokumentiert gegenüber 17,9 % unter Azacitidin/Placebo. Azacitidin/Venetoclax dürfte somit den zukünftigen Behandlungsstandard für ältere komorbide AML-Patienten darstellen, wobei allerdings die nicht selten auftretenden Neutropenien beachtet werden müssen.
Beim ASH-Kongress wurden nun Daten zu anderen Kombinationen mit Venetoclax vorgestellt, wobei die geprüften intensiven Therapien vor allem für fitte Patienten infrage kommen dürften. So wurde eine Interimsanalyse einer Phase-Ib/II-Studie mit 68 Patienten vorgestellt, in der die Kombination von Venetoclax mit dem intensiven Chemotherapie-Regime Fludarabin/Cytarabin/G-CSF (Granulozyten-koloniestimulierender Faktor/Idarubicin (FLAG-IdA)) evaluiert wurde. In die Untersuchung gingen sowohl Patienten mit neu diagnostizierter AML als auch Patienten mit rezidivierter/refraktärer (r/r) AML ein [4]. Nachdem im Ib-Teil der Studie vermehrt Infekte aufgetreten waren, wurden im Phase-II-Teil reduzierte Dosen von Venetoclax und Cytarabin eingesetzt (Venetoclax 400 mg Tag 1 bis Tag 14; Cytarabin 1,5 g/m²). Das Sicherheitsprofil der Kombination entsprach dem, was von einer intensiven Therapie zu erwarten ist.
Es traten hämatologische Nebenwirkungen von Grad 3 oder 4, Infekte wie Bakteriämien oder Pneumonien, aber auch Hypophosphatämien und ALT (Alanin-Aminotransferase)-Erhöhungen auf. Die unter der Behandlung erreichten Remissionsraten waren bemerkenswert: Bei 90 % der Patienten mit neu diagnostizierter AML und bei 67 % der Patienten mit r/r AML wurde eine kombinierte komplette Remission (CRc) dokumentiert (definiert als komplette Remission (CR) plus CR mit unvollständiger hämatologischer Erholung (CRi) plus CR mit unvollständigen Thrombozyten (CRp), Tab. 1).