Aktuelle zielgerichtete Therapiestrategien für fortgeschrittene Schilddrüsenkarzinome
Das Schilddrüsenkarzinom ist die häufigste maligne Erkrankung des endokrinen Systems. Die meisten Patient:innen mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom – die große Mehrheit der Erkrankten – können durch Operation und Radiojodtherapie geheilt werden. Für einzelne Betroffene im fortgeschrittenen Stadium sind inzwischen präzisionsonkologische Therapieoptionen verfügbar, weil die molekularen Grundlagen der Erkrankung immer besser verstanden werden. Auch für Erkrankte mit medullären Karzinomen, die einer Radiojodtherapie nicht zugänglich sind, stehen heute erste zielgerichtete Optionen zur Verfügung. Es wird empfohlen, die Behandlung fortgeschrittener Erkrankungen in spezialisierte, interdisziplinäre Tumorboards einzubinden.
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Die Inzidenz des Schilddrüsenkarzinoms ist in Deutschland und anderen Staaten der westlichen Welt in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen; dies betrifft allerdings vor allem die prognostisch sehr günstigen papillären Karzinome < 2 cm, die sonographisch aus anderer Indikation diagnostiziert wurden [1, 2]. In Deutschland erkrankten im Jahr 2017 gut 7.200 Patient:innen an einem Schilddrüsenkarzinom, wobei Frauen deutlich häufiger von diesem Malignom betroffen waren als Männer (4.970 vs. 2.100 Neuerkrankungen) [1]. Etwa 700 Erkrankte verstarben im Jahr 2017 an ihrer Tumorerkrankung, ohne dass ein Trend zu einer gestiegenen Mortalität ablesbar wäre [1]. Das mittlere Erkrankungsalter betrug bei Frauen 51 Jahre und bei Männern 56 Jahre und lag damit im Vergleich zu anderen Tumorentitäten vergleichsweise niedrig [1].
Die Einordnung der Subentitäten des Schilddrüsenkarzinoms richtet sich im Wesentlichen danach, von welchem Teil des Schilddrüsengewebes der Tumor ausgeht. In diesem Sinne werden zwei große Kategorien unterschieden [3]:
- differenzierte Karzinome (> 95 %), die aus maligne transformierten follikulären Zellen entstehen, und
- medulläre Karzinome (3–5 %), die von den zwischen den Schilddrüsenfollikeln liegenden parafollikulären, Calcitonin-produzierenden Zellen (C-Zellen) ausgehen.
Die von follikulären Zellen stammenden Karzinome können weiter unterteilt werden in papilläre Schilddrüsenkarzinome (PTC), follikuläre Schilddrüsenkarzinome (FTC), Hürthle-Zell-Karzinome (HCC), schlecht differenzierte Schilddrüsenkarzinome (PDTC) sowie die seltenen, aber sehr aggressiven anaplastischen Schilddrüsenkarzinome (ATC) [3, 4], die fast ausschließlich bei Menschen jenseits des 50. oder 60. Lebensjahres auftreten. PTC, FTC und HCC gelten als gut differenzierte Schilddrüsenkarzinome, ATC als nicht differenziert. PTC, die häufigste Form des Schilddrüsenkarzinoms, bestehen wiederum aus einer heterogenen Gruppe mit über zehn Phänotypen [3]. Ferner finden sich in der Schilddrüse in seltenen Fällen Malignome, die nicht vom Schilddrüsenepithel ausgehen, etwa Lymphome oder Sarkome.
PTC sind mit einem Anteil von 80–85 % die mit Abstand häufigsten Schilddrüsenkarzinome, gefolgt von den FTC (ca. 5–10 %), den PDTC und den anaplastischen Karzinomen (ATC) (zusammen ca. 5–7 %) sowie den MTC (ca. 3–5 %) [5], wenngleich die Angaben über die Häufigkeit der einzelnen Subtypen in der Literatur variieren.
Therapiestrategien bei differenzierten Karzinomen
Im begrenzten Stadium eines differenzierten Schilddrüsenkarzinoms besteht durch frühzeitige chirurgische Intervention, adjuvante Radiojodtherapie und konsekutive TSH-Suppression eine hohe Heilungschance. Die krebsspezifischen 5-Jahres-Überlebensraten für alle Schilddrüsenkarzinome liegen hierzulande bei über 90 % [6].
Anders als MTC und ATC zeichnen sich differenzierte Schilddrüsenkarzinome durch die Expression des Natrium-Iodid-Symporters (NIS) aus, was eine diagnostische und therapeutische Adressierbarkeit mittels radioaktiver Jod-Nuklide ermöglicht [7]. Die therapeutisch wichtigste nuklearmedizinische Therapieoption bei DTC ist deshalb die Radiojodtherapie (RJT), die auch bei metastasierten Stadien eine Therapieoption mit kurativem Anspruch darstellt [7]. Von den 7–23 % Erkrankten mit differenziertem Schilddrüsenkarzinom, die Fern-metastasen entwickeln, werden allerdings etwa zwei Drittel im weiteren Verlauf radiojodrefraktär. Dies geht mit einer erheblich verschlechterten Prognose einher. Die 10-Jahres-Überlebensrate bei radiojodrefraktären Erkrankten – gemessen ab dem Zeitpunkt des Nachweises von Metastasen – liegt bei ca. 10 % [8, 9].
Bei radiojodrefraktären Erkrankten ist Doxorubicin als einzige zytostatische Therapie in Deutschland zugelassen. Die Remissionsraten liegen unter 20 %. Kombinations-Chemotherapien haben gegenüber der Doxorubicin-Monotherapie keinen gesicherten Vorteil [10]. In der vergangenen Dekade wurden allerdings erhebliche Fortschritte beim Verständnis der molekularen Pathogenese des Schilddrüsenkarzinoms erzielt, basierend auf Untersuchungen mit Next-Generation-Sequencing(NGS)-Plattformen [3]. Vor allem die genetischen Alterationen bei PTC sind inzwischen gut beschrieben. Der Cancer Genome Atlas (TCGA) berichtete im Jahr 2014, dass 97 % der PTC einzelne molekulare Veränderungen aufweisen, darunter 74 % mit einzelnen Änderungen der Nukleotide (z. B. BRAF- oder RAS-Mutation), 15 % mit Fusionen, 7 % mit Änderungen der Kopienzahl und 1 % mit Deletionen [12]. Dabei spielen molekulare Alterationen, die zu einer konstitutiven Aktivierung des MAPK-Signalweges mit den Rezeptor-Tyrosin-kinasen VEGFR, RET, ALK und TRK sowie den Proteinen RAS, RAF, MEK und ERK führen, eine wichtige Rolle [3]. In Tab. 1 sind die wichtigsten genetischen Alterationen bei PTC und anderen Sub-entitäten des Schilddrüsenkarzinoms zusammengefasst.