Neues vom Faktor XII

Kontaktphasesystem

Das Kontaktphasesystem vermittelt zwischen Blutgerinnung und Entzündung. Neue Erkenntnisse über die zugrundeliegenden biochemischen Mechanismen revidieren alte Vorstellungen über die Rolle von Faktor XII und ermöglichen die Entwicklung neuer antithrombotischer Medikamente.

Schlüsselwörter: Hämostase, Inflammation, Kontaktphase, Faktor XI

Blutgerinnung und Entzündung werden häufig als unabhängige pathophysiologische Vorgänge angesehen; in Wirklichkeit interagieren beide Systeme aber vielfältig auf verschiedensten Ebenen[1], insbesondere bei der Abwehr von Infektions­erkrankungen[2].

Klassischerweise unterscheidet man bei der Blutgerinnung zwischen dem extrinsischen System, das auf Verletzungen der Gefäßwand reagiert, und dem intrinsischen oder „Kontaktphase"-System, dessen komplexe Enzymkaskade durch den Faktor XII (FXII, Hageman-Faktor) gestartet wird. Seine inaktive Zymogenform wird in der Leber synthetisiert, ins Plasma sezerniert und bei Kontakt mit negativ geladenen Oberflächen durch eine Konformationsänderung zu FXIIa aktiviert[3]. Dieser wiederum aktiviert die Protease Plasma-Kallikrein, die weitere proteolytische Aktivierungen in Gang setzt. So kommt es über einen Kaskadenmechanismus zur Bildung von Fibrin, das korpuskuläre Bestandteile, zum Beispiel Blutzellen, wie mit einem Netz einschließen kann (Abb. 1). Dieser Mechanismus ist die Basis eines der wichtigsten Blutgerinnungstests, der aktivierten partiellen Thromboplastinzeit (aPTT)[4].

Aktives Kallikrein setzt aber zusätzlich auch aus hochmolekularem Kininogen das kurzlebige Bradykinin (BK, ein Peptidhormon) frei[5], das an G-Protein-gekoppelte Kinin-B2-Rezeptoren bindet und proinflammatorische Signalwege aktiviert (Abb. 1). Sie stellen zur Erhöhung des Blutflusses die Gefäße weit, erhöhen die Gefäßpermeabilität und locken chemo­taktisch neutrophile Granulozyten an[6].

In den letzten Jahren wurden mehrere biologische Substanzen identifiziert, die eine Kontakt-vermittelte Autoaktivierung von FXII induzieren können; hierzu gehören RNA (beispielsweise aus Viren), Aggregate von fehlgefalteten Proteinen sowie Kollagen und Polyphosphat[7]. Die Autoaktivierung von FXII durch das unphysiologische Material Kaolin (ein Silikat) wird diagnostisch eingesetzt, um die aPTT zu starten.

Trotz der Bedeutung von FXII für die Bildung von Fibrin im Reagenzglas nahm man über Jahrzehnte an, dass FXII unter phy­siologischen Bedingungen beim Menschen keine relevante Funktion habe. Diese Annahme basiert auf der Tatsache, dass Menschen mit vollständiger FXII-Defizienz keine erhöhte Blutungsneigung aufweisen[8]. Der erste Patient, bei dem ein familiärer FXII-Mangel beobachtet wurde, verstarb sogar paradoxerweise an einer Thromboembolie. Dies passte ganz und gar nicht zu dem klinischen Bild, das man vom Mangel an anderen Faktoren der Blutgerinnungskaskade wie etwa FVIII oder FIX kannte (Hämo­philie A und B). Lange Zeit nahm man deshalb an, dass das Kontaktphase­system möglicherweise nur für Abwehr- und Entzündungsvorgänge verantwortlich sei, während die Blutstillung (Hämostase) in vivo ausschließlich durch „tissue factor" (TF) und FVII über den extrinsischen Gerinnungsweg initiiert wird[9].

   
Eigene Untersuchungen

Vor etwa 15 Jahren begannen wir mit tier­experimentellen Untersuchungen, um die physiologische Rolle von FXII genauer zu untersuchen. Zusammen mit anderen Forschern hat unsere Arbeitsgruppe die ersten FXII-defizienten (FXII-/-) Mäuse[10] generiert und deren Phäno­typ in einem experimentellen Thrombosemodell charakterisiert. Überraschenderweise fanden wir – ent­gegen dem bis dahin akzeptierten Lehrbuchdogma – erhebliche Defekte bei der arteriellen und venösen Thrombusbildung[11]: Die FXII-defizienten Tiere neigten zwar nicht zu vermehrten Blutungen, waren aber offenbar vor pathologischer Thrombosierung geschützt. So konnten wir zeigen, dass FXII-/--Mäuse keinen ischämischen Schlaganfall erleiden[12], und dass Rekonstitution mit humanem FXII diesen protektiven Effekt wieder vollständig aufhob (Abb. 2).

 

Pathophysiologische Bedeutung

Diese antithrombotische Schutzwirkung des FXII-getriebenen Kontaktphasesystems ist nicht auf Mausmodelle beschränkt: 2009 fanden Salomon et al. Hinweise, dass die Defizienz des FXIIa-Substrats FXI auch Menschen vor ischämischem Schlaganfall schützt[13]. Unsere Arbeitsgruppe konnte darüber hinaus zeigen, dass auch ein Fehlen bzw. eine Hemmung anderer Kontaktsystemfaktoren wie Plasma-Kallikrein und hochmolekulares Kininogen vor Thrombosen schützt, ohne die Blutungsneigung zu erhöhen[14].

Somit ist die durch das Kontaktphasesys­tem vermittelte Fibrinbildung möglicherweise nicht für die Blutstillung notwendig, sondern hat im Rahmen der Thrombogenese andere Funktionen. Durch unsere Studien wurde klar, dass das Konzept eines „hämostatischen Thrombus", der durch überschießende Aktivierung der fibrinbildenden Gerinnungsmechanismen entsteht, einer Revision bedarf[15, 16]. Außerdem zeigen die Daten zu FXII, dass die klassische Gerinnungsbalance nicht allgemein gültig ist, sondern bei Kontaktfaktoren Ausnahmen kennt. Allerdings kommt die Analyse der physio­logischen Funktionen von FXII über die humangenetische Forschung nur langsam voran, weil angeborene Mängel der Kontaktphase­systemfaktoren sehr selten sind[3].

Wir laden deshalb alle FXII-defizienten „Patien­ten" ein, sich unter www.factor12.net zu registrieren, sodass wir ein Register dieser selten angeborenen „Gerinnungsstörung" aufbauen können. Ergänzende biochemische Grundlagenforschung bleibt weiterhin unabdingbar.

Die Rolle der Thrombozyten

Schon 2009 gelang es uns, Polyphosphat als den endogenen Aktivator von FXII auf aktivierten Thrombozyten zu identifizieren[18]. Hierbei handelt es sich um ein stark negativ geladenes anorganisches Polymer aus linear verknüpften Phosphatresten, das von aktivierten Blutplättchen sekretiert wird. Diese Makromoleküle bilden Nanopartikel auf der Zelloberfläche, die FXII analog zum Kaolin im aPTT-Assay aktivieren[19] (Abb. 3). Daneben gibt es im Blut auch lösliche kurzkettige Polymere mit ca. 60 bis 100 Phosphateinheiten, die keine Partikel bilden und nur gering aktivierenden Effekt aufweisen.

Die Polyphosphatpartikel initiieren über die lokale FXII-Aktivierung die Bildung von Fibrin auf den Thrombozyten und im wachsenden Thrombus. Gleichzeitig starten sie die in Abb. 1 gezeigte Brady­kininkaskade und führen so zur Gefäßerweiterung und zu Ödemen. Baut man Polyphosphat durch Gabe von alkalischer Phosphatase ab, so kann man sowohl die Thrombusbildung in vitro als auch thromboembolische und inflammatorische Erkrankungen in vivo im Mausmodell unterbinden[18].

Klinische Anwendungen

Aus unseren Ergebnissen leiten sich möglicherweise Ansätze für die Entwicklung antithrombotischer und antiinflam­matorischer Medikamente ab. 2016 konnten wir mit selektiven Polyphosphat-Inhibitoren demonstrieren, dass die Blockade des Polymers in Mausmodellen vor arteriellen und venösen Thrombosen schützt[20]. Ob Polyphosphat zudem ein neuer Thrombose-Risikomarker sein könnte, bedarf langfris­tiger klinischer Studien; ein FACS-basierter Assay zur Detektion und Quantifizierung des Polymers auf Thrombozyten ist ein erster Schritt in diese Richtung[21].

Auch zum besseren Verständnis des allergischen Formenkreises könnten unsere Beobachtungen beitragen, denn wir wissen, dass Allergen/IgE-stimulierte Mastzellen das Polysaccharid Heparin sekretieren, das FXII ebenfalls durch Kontakt aktiviert. So generiert endogenes Heparin Bradykinin, das entzündlich-hyperergische Reaktionen in Gang setzt. Interessant ist dieser Effekt vor allem, weil Heparin im Gegensatz zu Polyphosphat die Fibrinbildung nicht aktiviert; offenbar verstärkt das Polysaccharid die Wirkung von FXI-nachgeschalteten Inhibitoren[22].

Zusammenfassend haben die letzten zehn Jahre das FXII-getriebene Kontakt­system als zentralen Spieler bei thrombotischen Erkrankungen identifiziert[14]. Die pharmakologische Blockade des Systems könnte es erstmals erlauben, antithrombotische und antientzündliche Medikamente mit geringen Nebenwirkungen zu entwickeln. Es ist zu hoffen, dass diese im Gegensatz zu Therapeutika vom Typ ASS keine Blutungskomplikationen induzieren. Erste Studien hierzu an Herz-Lungenmaschinen sind Erfolg versprechend[23].

Autor
Prof. Dr. Dr. Thomas Renné
Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin
Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
Im Kontext
Aus der Rubrik