Erst fragen, dann testen

Evidenzbasierte präoperative Gerinnungsdiagnostik

Im Rahmen der präoperativen Diagnostik werden routinemäßig Blutbild und Globaltests für die plasmatische Gerinnung eingesetzt. Diese erfassen jedoch häufige Blutungsrisiken, insbesondere Thrombozytenfunktionsstörungen und das Von-Willebrand-Syndrom, nicht. Es wird deshalb vorgeschlagen, die Risiken mit einem standardisierten Fragebogen einzuschätzen und gegebenenfalls durch hämostaseologische Spezialuntersuchungen abzuklären.

Schlüsselwörter: Gerinnungsstörungen, Gerinnungsdiagnostik, standardisierte Blutungsanamnese

Trotz moderner Operationstechniken und intensiver Überwachung der Patienten sind perioperative Blutungen weiterhin ein alltägliches klinisches Problem[1]. Neben chirurgischen Ursachen stehen Störungen der primären und/oder sekundären Hämostase im Vordergrund. Diese gilt es im Rahmen der OP-Vorbereitung routine­mäßig auszuschließen.  

In den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde die Kombination „Quick und PTT" weltweit in die präoperativen Screeningkonzepte zahlreicher Fachgesellschaften eingeführt, obwohl diese Globaltests niemals für ein präoperatives Screening von Patienten entwickelt wurden. Armand James Quick etablierte den sogenannten „Quick"-Test (PTZ) vor allem für die Therapieüberwachung von Vitamin-K-Antagonisten, und die aPTT diente amerikanischen Krankenkassen dazu, Versicherte mit Hämophilie A oder B zu erkennen. 

 

 

Abklärung im Speziallabor  

Die häufigsten hämostaseologischen Ursachen einer perioperativen Blutung sind angeborene und erworbene Thrombozytenfunktionsstörungen sowie das Von-Willebrand-Syndrom (VWS), das in der Mehrzahl der Fälle – beim sogenannten Typ 1 – durch verminderte Spiegel von prinzipiell funktionsfähigem Von-Willebrand-Faktor (VWF) bedingt ist. Beide Risiken lassen sich bereits vor einer Opera­tion mit labordiagnostischen Verfahren feststellen. Wie Tabelle 1 zeigt, erkennen die üblichen Routinetests gerade diese zwei häufigsten Ursachen perioperativer Blutungen nicht. So erfasst das kleine Blutbild nur die Anzahl der Thrombozyten im peripheren Blut, nicht jedoch deren Funktion, und die aPTT entdeckt eher seltene Ursachen einer hämorrhagischen Diathese wie etwa die Hämophilie A oder B. Defekte der Plättchenadhäsion und -aggregation sind in der Routinediagnostik regelhaft nicht oder nur eingeschränkt messbar.

 

Die spezifische Abklärung plasmatischer oder thrombozytärer Gerinnungsstörungen erfolgt deshalb überwiegend in Speziallaboratorien. Ihre Ergebnisse liegen allerdings häufig erst nach Tagen vor – zu spät für viele Entscheidungen im präoperativen Arbeitsablauf. Dies ist nicht so sehr durch die Dauer dieser Analysen, sondern häufig durch logistische Unzulänglichkeiten bedingt. Hierzu zählen fehlende oder unpräzise Terminvereinbarungen sowie die Tatsache, dass einige Spezialanalysen nur gesammelt erfolgen können und andere direkt vor Ort durchgeführt werden müssen (beispielsweise die durchflusszytometri­sche Thrombozytenfunktionsdiagnostik). Überlegungen zur Kosteneffektivität, Auslagerung von Laborbereichen sowie eine verbesserte analytische Qualität bei der Messung größerer Probenserien unter kontrollierten Bedingungen sind weitere Gründe, warum prä­operative Gerinnungsuntersuchungen häufig an ein zentrales Einsendelabor geschickt werden und deshalb mehr Zeit benötigen, als den Klinikern lieb ist.

  

Spezielle Risiken 

Trotz noch so guter Spezialanalytik lassen sich nicht alle Blutungsrisiken im Vorfeld einer Operation feststellen. So treten Blutungen durch Verdünnungs­koagulopathie, Hyperfibrinolyse, Überdosierung bzw. Gabe von Koagulanzien in zu geringem Abstand zur Operation sowie Hypothermie oder Azidose erst intraoperativ auf.

 

Auch viele Medikamente bergen spezielle Risiken in sich, weil sie die vielfältigen Funktionen der Thrombozyten und des Von-Willebrand-Faktors stören. Hierzu zählen u. a. ADP-Antagonisten (Clopidogrel, Prasugrel, Ticagrelor), zahlreiche Antibiotika (Penicilline und Cephalosporine, β-Laktam-Antibiotika, Trimethoprim/Sulfmethoxazol) und das Antikonvulsivum Valproinsäure.

 

Ein besonders großes und schwer kontrollierbares Problem sind frei verkäufliche acetylsalicylsäurehaltige Analgetika und nicht-steroidale Antirheumatika (NSAR). Trotz der ärztlichen Warnhinweise zur Karenz vor oder nach einer Opera­tion werden diese Medikamente häufig unbedacht und ohne Dokumentation weiter eingenommen. Es ist so gut wie nicht vorhersagbar, in welchem Ausmaß die betroffenen Patienten eine klinisch relevante Thrombozytenfunktionsstörung ausbilden.

 

Schließlich werden auch hereditäre und erworbene organbezogene Thrombozytenfunktionstörungen, wie sie bei Leber- oder Niereninsuffizienz auftreten, in der prä­operativen Diagnostik häufig nicht in Betracht gezogen, sodass ein perioperatives Blutungsrisiko unerkannt bleibt.

   

Fragebogen zur standardisierten Blutungsanam­nese  

Als erstes Fazit ist also festzustellen, dass die labordiagnostische „Gerinnungs­routine", bestehend aus Blutbild, PTZ und aPTT, das Blutungsrisiko im Rahmen der OP-Vorbereitung nur unzureichend erfasst, und dass andererseits die Ergebnisse von Spezialuntersuchungen entweder zu spät vorliegen oder vor Ort überhaupt nicht erbracht werden können.

 

Aus diesem Grunde haben wir uns an der Charité Universitätsmedizin Berlin bereits vor über zehn Jahren Gedanken gemacht, in welchem Umfang es möglich ist, mithilfe eines standardisierten Fragebogens die wichtigsten Blutungsrisiken, insbesondere Thrombopathien und das Von-Willebrand-Syndrom, auszuschließen. 2007 evaluierten und publizierten wir eine Liste von ursprünglich insgesamt zwölf Fragen[1], von denen sieben vom Patienten mit Ja oder Nein zu beantworten waren. Drei Fragen benötigten Freitextangaben zu Medikamenten und früheren Eingriffen, und eine Frage nach verlängerter oder verstärkter Monatsblutung war nur von Frauen zu beantworten.

 

Im Zuge der damaligen Validierung konnten wir den hohen Vorhersagewert dieses Fragebogens belegen[1]: Bei fast 90% der insgesamt 5.649 Befragten war die Blutungs- und Medikamentenanamnese negativ; von den verbleibenden Patienten wiesen gut 40% eine Hämostasestörung auf, wobei die meisten mit dem PFA-100 („platelet function analyzer" zur globalen Beurteilung der Thrombozyten- und VWF-Funktion) aufgeklärt werden konnten.

 

Die enorme Bedeutung einer standardisierten Blutungsanamnese wurde durch eine Reihe von Arbeiten zur präoperativen Risikoabklärung belegt. In einer von insgesamt sieben weltweiten, prospektiven Untersuchungen zu diesem Thema[3–5] wird zusätzlich zur standardisierten Blutungsanamnese und den Standardgerinnungstests auch die Verschlusszeit im PFA-100 empfohlen[6].

 

Wenn mindestens vier der zwölf Fragen positiv beantwortet wurden, ergab sich ein hervorragender PPV (positive predictive value) von 99% für das Vorliegen einer Hämostasestörung. Die höchste Sensitivität wiesen Fragen nach gerinnungshemmenden Medikamenten und Nachblutungen auf.

 

Im Vergleich dazu konnten bei positiver Anamnese mit dem Quickwert allein nur zwei Patienten (0,04%) korrekt identifiziert werden. Umgekehrt waren aPTT-Verlängerungen bei neun Patienten mit negativer Anamnese durch ein Lupus-Antikoagulans verursacht, welches in der Regel nicht mit einer Blutungs-, sondern mit einer erhöhten Thromboseneigung einhergeht.

 

In der Folge wurde der Fragebogen weiterentwickelt. Ein Muster der derzeit an der Charité eingesetzten Version ist in Tab. 2 gezeigt. Die Fragen wurden vor allem neu untergliedert und sind nun alle eindeutig mit Ja oder Nein beantwortbar. 

Wirtschaftliche Bewertung  

Durch den initialen Einsatz des standardisierten Anamnesefragebogens und den Verzicht auf ungezielte Labor­untersuchungen könnten in Deutschland jährlich über 14 Mio. € für Gerinnungs­diagnostika eingespart werden. Dazu kommen wirtschaftliche Folgen durch OP-Verzögerungen bei „falschen Alarmen". Bei negativen Standardgerinnungstests darf auf eine allgemeine Begutachtung des Patienten nicht verzichtet werden, da z. B. symptomatische Blutungen infolge von Begleiterkrankungen ausgeschlossen werden müssen. Hierzu zählen u. a. Nasenbluten bei Hypertonie, Zahnfleischbluten bei Parodontitis und Menorrhagie bei Uterus myomatosus oder Leberzirrhose.

 

Ein sehr geringes Restrisiko bleibt natürlich immer bestehen, dass potenziell blutgerinnungsgefährdende Pathologien bei unauffälliger Blutungsanamnese übersehen werden. Tritt dann tatsächlich intra- oder postoperativ eine unerwartete Blutung auf, so kann diese symptomatisch und fallspezifisch therapiert werden.

  

Praktisches Vorgehen bei  positiver Blutungsanamnese 

Aus dem Gesagten geht hervor, dass die standardisierte Blutungsanamnese einem alleinigen Screening mit der Erhebung von Routinetests (Thrombozytenzahl, PT, aPTT) bei der präoperativen Hämostaseabklärung deutlich überlegen ist. Durch die Implementierung eines Fragebogens nach dem nebenstehend gezeigten Muster sollte es möglich sein, auch die häufigen Störungen der Thrombozytenfunktion und das Von-Willebrand-Syndrom im Vorfeld zu erkennen und durch spezifische Tests zu sichern. Blutstillende Medikamente wie etwa Desmopressin und Antifibrinolytika können bei positiver Anamnese auch präoperativ eingesetzt werden, um das „Patient Blood Management" zu verbessern. Dabei sollte stets das individuelle Nutzen-Risiko-Verhältnis abgewogen und interdisziplinär entschieden werden.

 

Die Medikamentenanamnese beinhaltet die detaillierte Erfassung der in Frage 7a und b aufgeführten Substanzgruppen . Der Operateur sollte in Abstimmung mit dem Anästhesisten festlegen, ob und wie lange er für den geplanten Eingriff eine optimale Blutgerinnung braucht. Einige Eingriffe sind auch unter Gerinnungshemmung problemlos durchführbar.

   

Publizierte Empfehlungen 

Bereits im Juli 2006 publizierte der wissenschaftliche Arbeitskreis Kinder­anästhesie der Deutschen Gesellschaft für Anästhesie und Intensivmedizin (DGAI) mit Verständigung der Deutschen Gesellschaft für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde, Kopf- und Hals-Chirurgie (DGHNOKC) und der Gesellschaft für Thrombose und Hämostasestörung (GTH) eine Empfehlung zum präoperativen Screening. Hierin wurde festgelegt, dass eine labor­analytische Basisdiagnostik nur noch im Falle einer positiven Blutungsanamnese durchzuführen ist. Diese soll dann auch primäre und kombinierte Hämostasestörungen, wie etwa das VWS, erfassen können. Die Empfehlung basiert im Wesentlichen auf den Ergebnissen des präoperativen Screenings vor Adenotomie und Tonsillektomie bei Kindern[9].

 

Die Schweizerische Gesellschaft für Gastroenterologie empfiehlt seit 2005 über ihre Internetseite www.sggssg.ch die Anwendung des in der Charité validierten Fragebogens zur Abklärung des Blutungsrisikos von Patienten vor endoskopischen Maßnahmen[8].

 

Des Weiteren sind die Daten der Untersuchung in der Charité die Grundlage der aktuellen Empfehlung der ÖGARI (Österreichische Gesellschaft für Anästhesiologie, Reanimation und Intensivmedizin) bzgl. der präoperativen Blutungsanamnese und des Hämostasescreenings. Der in der Charité validierte Fragebogen wurde durch weiterführende Fragen für den Interviewer ergänzt, und der präoperative Algorithmus mit den klinischen ASA-Stadien (American Society of Anesthesiology) kombiniert[7]. 2008 etablierte sich ein Kompetenznetzwerk (www.netzwerk-vws.de) zur Früherkennung von Hämostasestörungen auf nationaler Ebene, und zwar für Laien und Fachgruppen.

 

Weitere Fachgesellschaften in Deutschland beginnen sich dieser Thematik zu widmen, und zunehmend werden internationale Netzwerke in ganz Europa sowie im arabischen Sprachraum etabliert. Ein langjähriger Prozess ist damit angestoßen, der noch viele Jahre andauern wird.