Warum die Schwindsucht nicht schwindet

Tuberkulose

Multiresistente Erreger der Tuberkulose stehen vor unserer Haustür und belasten unser Gesundheitssystem schon heute mit erheblichen Kosten. Internationale Initiativen sollen helfen, die Zahl der Neu­infektionen deutlich zu senken. Dabei spielt die Labordiagnostik eine wichtige Rolle.

Schlüsselwörter: Tuberkulose, MDR-TB, End TB Strategy, TB Leitlinie

  

Weltweit stirbt alle 18 Sekunden ein Mensch an Tuberkulose (TB), doch in Deutschland sorgt diese Zahl kaum für Aufregung – zu fern scheint das Problem sowohl zeitlich als auch räumlich zu sein. 1882, als Robert Koch Mycobacterium tuberculosis (MTB) als Erreger identifizierte, fiel fast jeder vierte Deutsche der „Schwindsucht" zum Opfer; heute sind die einst überfüllten Lungenheilanstalten wie zum Beispiel Berlin Beelitz nur noch gespenstische Ruinen (siehe Bild oben).

Weit weg liegen auch die Brennpunkte der Seuche in Afrika und Asien; deshalb kommt hierzulande allenfalls hin und wieder die Frage auf, ob Flüchtlinge aus diesen Ländern für uns eine Ansteckungsquelle darstellen. Hierzu sind sich die Experten einig: Auch wenn etwa ein Viertel der gemeldeten TB-Patienten Asylsuchende sind, kommt das Robert-Koch-Institut (RKI) zu der Auffassung, dies sei Dank der für Migranten vorgeschriebenen Screening-Programme nicht anders zu erwarten und bedeute keine erhöhte Infektionsgefährdung für die Allgemeinbevölkerung[1].

Ist in Deutschland also „alles in Butter"? Diese Frage stellte Dr. med. Christian Herzmann vom Leibniz Forschungszentrum Borstel beim LabMed Forum auf der MEDICA 2017, und verneinte sie gleich im selben Atemzug: Während die Zahl der Neuerkrankungen seit Einführung der Tuberkulostatika im Jahr 1943 kontinuierlich fiel, steigt sie – auch unabhängig von der Asylproblematik – aktuell wieder deutlich an, beispielsweise durch Ansteckung bei Fernreisen und Zuzug von Personen aus Endemiegebieten (Abb. 1).

  

Zunahme von Resistenzen

Noch bedenklicher, so Herzmann, ist aber die Zunahme von resistenten MTB-Stämmen direkt vor unserer Haustür, insbesondere in Osteuropa (Abb. 2). Die Bezeichnungen RR-, MDR- und XDR-TB* richten sich nach der Anzahl der Medikamente, auf die diese Erreger nicht mehr ansprechen (beginnend vom Klassiker Rifampicin über Isoniazid, Pyrazinamid und Ethambutol bis zu Fluorchinolonen und anderen Reserveantibiotika wie Amikacin, Capreomycin oder Kanamycin).

Je mehr Resistenzgene das Bakterium entwickelt, desto aggressiver, langwieriger und teurer wird die Behandlung. Ein typischer MDR-TB-Patient muss 20 Monate lang therapiert werden (davon acht Monate mit täglichen Infusionen) und kostet das Gesundheitssystem rund 100.000 €.

Diese lange Therapiedauer in Verbindung mit vielfältigen Nebenwirkungen von Übelkeit bis zu Leber-, Nieren- und Nervenschäden führt immer wieder zu Therapieabbrüchen und -versagern, die wiederum die Entwicklung neuer Resis­tenzen fördern. Noch werden Antibiotika entwickelt, die selbst bei XDR-TB erfolgreich zum Einsatz kommen (die jüngsten Zulassungen betreffen Bedaquilin und Delaminid), doch für die Pharmaindustrie lohnt sich diese Forschung kaum, weil die Hauptklientel – etwa in den Krisengebieten der Ukraine oder den Slums von Indien – nicht gerade als zahlungskräftig gilt.

 

TB und kein Ende?

In Deutschland nimmt die Inzidenz von MDR/XDR-TB – wenn auch auf niedrigem Niveau – um erschreckende 20% pro Jahr zu. Waren es 2012 gerade einmal 56 Fälle, so wird im Jahr 2017 mit Sicherheit die Hundertermarke deutlich überschritten. Bei steigender Reiselust der Deutschen dürfte die Kurve auch weiterhin nach oben zeigen. Somit besteht wenig Hoffnung, dass die „Schwindsucht schwindet".

Deshalb haben nationale und internatio­nale Organisationen Kampagnen gegen die weitere Ausbreitung der TB ins Leben gerufen, allen voran die WHO mit ihrer 2014 proklamierten „End TB"-Strategie (Abb. 3)[4].

Der Slogan lautet: A world free of TB: end the global TB epidemic. Durch weltweite politische und medizinische Anstrengungen soll bis zum Jahr 2035 die Zahl der Neuinfektionen um 90% und der TB-bedingten Todesfälle um 95% gesenkt werden. Die Strategie ruht auf drei Säulen: Früherkennung und Prävention, Verbesserung der Gesundheitssysteme in den am stärksten betroffenen (und ärmsten) Ländern der Erde sowie intensivierte Forschung in den Bereichen Diagnostik, Therapie und Sozialwesen.

In ihrem Statusbericht kommt die WHO zu dem Schluss, dass in den letzten zehn Jahren zwar erhebliche Erfolge erzielt wurden, beispielsweise mit der Senkung der HIV-bedingten TB-Todesfälle um 32%; dennoch sei der aktuelle Rückgang der Neuinfektionen um ein bis zwei Prozent pro Jahr zu gering, um die TB-Epidemie noch in diesem Jahrhundert zu stoppen. Abb. 3 zeigt, welche Abnahmeraten nötig sind, um bis zum Jahr 2035 bei pessimistischer bzw. optimistischer Schätzung einen Rückgang um 75% bzw. 90% zu erreichen.

Die Labormedizin spielt in der WHO-Strategie eine bedeutsame Rolle: Ausdrücklich erwähnt der Report „bessere Diagnostik einschließlich neuer Point-of-Care-Tests" – nicht nur für die akuten Fälle, bei denen der Keimnachweis aus dem Sputum schon heute mit patientennahen molekularbiologischen Assays gelingt (S. 234 ff.), sondern auch für die weitaus häufigere latente TB, die nur mit aufwendigen Labormethoden erfassbar ist.

 

Eine globale DNA-Datenbank

Ein weiterer wichtiger Aspekt aus dem Laborbereich ist die Sequenzierung des Genoms möglichst vieler Erregerstämme. Dank dieser Technik ist es nach Aussage von Dr. Herzmann vom Forschungszentrum Borstel inzwischen möglich, bestimmte Antibiotikaresis­tenzen vorherzusagen, sodass man nicht mehr auf das Ergebnis der langwierigen Bakterienkultur warten muss.

Dieses Teilprojekt der WHO-Strategie wird in Borstel von einem multidisziplinären Team um den Molekularbiologen Prof. Stefan Niemann und den Bioinformatiker Dr. Thomas Kohl vorangetrieben. Die Forscher arbeiten an einer sequenzbasierten DNA-Datenbank für MTB; sie ist von vornherein global ausgelegt, denn die meisten neuen Resistenzmutationen entstehen naturgemäß in den am stärksten betroffenen Ländern – und das, obgleich MTB ihre Resistenzgene nicht über horizontalen Gentransfer weitergeben, wie das bei anderen Mikro­organismen bekannt ist.

Wegen der hohen Mutationsrate von MTB ist die laufende Aktualisierung des Genom-Lexikons eine Sisyphus-Aufgabe, die neben wissenschaftlicher Kompetenz und modernster NGS-Technik vor allem auch ein hohes Maß an Fleiß und Geduld erfordert. Tritt ein neues Resistenzmus­ter auf, wie es beispielsweise 2009 mit der rpoB-I491F-Mutation in Swasiland der Fall war, so muss die DNA-Struktur umgehend aufgeklärt und funktionell bewertet werden, um Diagnostik und Therapie rasch anpassen zu können.

Deshalb erhält das Forschungszentrum Borstel aufgereinigte und dekontaminierte DNA-Proben aus aller Welt. Im Labor erfolgt die Quantifizierung, Reinheits­prüfung und Fragmentierung der DNA, die Markierung mit spezifischen Oligonukleotiden (library preparation), sowie die Sequenzierung und bioinformatische Auswertung. Als Referenz­genom dient die Sequenz des Stamms H37Rv, die bereits 1998 aufgeklärt wurde, und als interne Kontrolle eine DNA-Bibliothek des Virus PhiX, dessen Genom klein und sehr gut erforscht ist.

Neue S2k-Leitlinie

Schließlich spielt die Labordiagnostik auch in der neuesten, 2017 erschienenen S2k-Leitlinie zum Management der Tuberkulose bei Erwachsenen eine wesentliche Rolle[5]. Die Aktualisierung der Fassung aus dem Jahr 2012 war notwendig geworden, da sich das Fachwissen zur TB aufgrund der (erfreulich!) niedrigen Inzidenzen der letzten Jahre immer stärker auf spezialisierte Zentren konzentriert hatte und Kenntnisse in anderen Fachbereichen verloren zu gehen drohten.

Wenig geändert hat sich bei der Standardtherapie der unkomplizierten Tuberkulose mit einer initialen Vierfachkombination, bestehend aus Isoniazid (INH), Rifampicin (RMP), Pyrazinamid (PZA) und Ethambutol (EMB). Voraussetzung ist allerdings, dass mit molekular- und mikrobiologischen Verfahren keine Resis­tenzen nachgewiesen wurden.

In das Kapitel Labordiagnostik wurden präanalytische Qualitätsaspekte neu aufgenommen. Wichtige Punkte sind:

• Entnahme vor Therapiebeginn

• bevorzugt Morgen­sputum

• drei unterschiedliche Tage.

Das Untersuchungsgut muss schnell ins Labor gesandt werden; ist dies nicht sofort möglich, wird eine Lagerung bei 2 bis 8 °C empfohlen.

Abschnitt 3.2. der Leitlinie beschreibt neuere Studien, in denen die molekularbio­logische Erregerdiagnostik sowie die Resis­tenztestung validiert wurden. Vor allem die Empfindlichkeit für Medikamente der Standardtherapie muss vor Beginn der Behandlung zeitnah gesichert werden.

Die mikroskopische Untersuchung ist das schnellste und kostengünstigste Verfahren. Wegen der hohen Aussagekraft eines positiven Befundes bleibt sie für die Erstuntersuchung unverzichtbar, doch in 54% der Fälle von offener TB fällt sie falsch negativ aus. Der Goldstandard ist weiterhin die Kultur mithilfe einer Flüssig- und zweier Festkulturen, doch sind hier 3 bis 8 Wochen bis zum endgültigen Befund zu veranschlagen. Deshalb werden molekularbiologische Erreger- und Resis­tenznachweise als schnelle Ergänzung mit hoher Sensitivität und Spezifität empfohlen (vgl. auch S. 226–227 und 234–237). Der Nachweis aller Tuberkulosebakterien, mit Ausnahme von M. bovis BCG, ist nach dem Infektionsschutzgesetz meldepflichtig.

Die Autoren der Leitlinie geben auch Konsensempfehlungen ab, welche Personen bei positivem Testergebnis präventiv behandelt werden sollten. Zu unterscheiden sind hier Chemoprävention (Therapie einer latenten Tuberkulose, um eine Reaktivierung zu verhindern) und Chemo­prophylaxe (Therapie zur Vermeidung einer Konversion mit Reaktion des Immunsystems auf MTB-Kontakt).

*Rifampicin-, multi-drug- and extended-drug-resistant

 Autoren

Priv.-Doz. Dr. Andreas Ambrosch

Dr. Gabriele Egert

Prof. Dr. Georg Hoffmann

Mitglieder der Redaktion