Virale Sepsis: Es müssen nicht immer Bakterien sein
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.04.08Eine durchaus beachtliche Zahl von Sepsen wird in Deutschland durch Viren verursacht. Alle Viren verursachen eine vorübergehende Immunsuppression; hierbei sind sowohl das angeborene als auch das erworbene Immunsystem betroffen. Wie dann eine Sepsis entsteht, ist von Virus zu Virus unterschiedlich. Auch unterschiedliche Menschen sind für bestimmte Viren unterschiedlich empfänglich.
Schlüsselwörter: SIRS, genetische Heterogenität, Pathophysiologie, Mutation, Enzephalitis, HSV, RSV, AdV, IFV
Eine Sepsis ist ein komplexer, lebensbedrohlicher Zustand mit Organschädigung durch virale Komponenten und durch die ausgelöste Immunabwehr. Die Schädigung betrifft Kreislauf, zelluläre Integrität und Stoffwechsel. Ca. 70 % aller Sepsis-Fälle sind bakteriell bedingt und ca. 30 % viral. Zudem können Pilze oder Protozoen eine Sepsis verursachen; dies ist in Deutschland eher selten. Früher wurde der Zustand als SIRS – severe inflammatory response syndrome bezeichnet. Eine virale Sepsis kann jederzeit durch eine zusätzliche bakterielle Infektion aggraviert werden [1, 2].
Grundlagen
Jedes Virus induziert eine temporäre Immunschwäche, die erheblich sein kann wie bei RSV (Respiratory Syncytial Virus) und CMV (Cytomegalievirus), oder mild wie beim Rötelnvirus, EBV (Epstein-Barr-Virus), Rotavirus und weiteren. Eine virale Sepsis entsteht, wenn:
- die primäre Immunantwort zu schwach ist, um das Virus zu eliminieren wie bei Ebolavirus und Bornavirus,
- durch die Zytotoxizität eine Hyperinflammations-Reaktion ausgelöst wird wie bei COVID-19 und toxische Masern,
- die ausgelöste Immunreaktion zu erheblicher Organschädigung führt wie bei der Infektion mit Hantavirus an den Nieren, Hepatitis-B-Virus an der Leber, SFTS-Virus (severe fever thrombocytopenia virus = Dabie-Bandvirus = Huaiyanshan-Virus = SFTS-Phlebovirus, ein Virus der Ordnung Bunyavirales, am Gefäßsystem und Encephalon); SARS-CoV-2, MERS-CoV und Influenzavirus (IFV) an der Lunge,
- die Antikörperantwort zur Zerstörung von Zellen führt wie bei ADCC (antibody dependet cellular cytotoxicity) bei Denguevirus (DENV), und dem ADE (antibody dependent enhancement) beim DENV haemorrhagischen Fieber und DENV-Schocksyndrom [3].
Häufige Erreger einer viralen Sepsis in unseren Breiten sind: HSV (Herpes-simplex-Virus), RSV, AdV (Adenovirus), IFV [1, 3]. Die Prognose einer viralen Sepsis ist sehr schlecht, wenn folgende Symptome vorliegen: Enzephalitis – wie bei EV17, Westnilvirus, Bornavirus, IFV; Pneumonie – wie bei SARS-CoV-2, IFV, RSV, Hantavirus, wobei bei IFV die Co-Infektion mit Streptococcus pneumoniae oder Staphylococcus aureus sehr häufig ist; Hepatitis – wie bei HBV, HCV, CMV und HSV [1, 2].
Pathophysiologie
Ein Virus besteht aus verschiedenen Quasispezies, die sich bei Zelleintritt, Replikation, Zelllyse und toxischer Wirkung auf benachbarte Zellen und Immunzellen pathogenetisch unterschiedlich verhalten. Quasispezies entstehen durch: Mutation, bei DNA-Viren mit einer Häufigkeit von ca. 10-5–6, bei RNA-Viren ca. 10-4 pro Replikationszyklus; durch Insertion/Deletion von Basen; durch Rekombination und Reassortment (IFV, Rotavirus). Auch beim Menschen entstand im Verlauf der Evolution durch Mutation eine unterschiedliche Empfänglichkeit für Viren und deren Immunabwehr, woraus eine unterschiedliche Suszeptibilität und Pathogenität resultiert [1, 3]. Einen Überblick darüber, wie das Ausmaß einer Enzephalitis bei bestimmten Virusinfektionen beeinflusst wird, finden Sie in Tab. 1.
Tab. 1: Einflussfaktoren auf das Ausmaß einer Enzephalitis bei einer Virusinfektion. HPeV = humanes Paraechovirus (aus der Familie der Picornaviren).
Virus | Das Ausmaß der Enzephalitis wird beeinflusst … |
---|---|
HSV | … durch Zellaktivierung über Toll-like-Rezeptor(TLR)-2, TLR-9, IL-6, Erschöpfung des Immunsystems, Virusmenge |
EV | … über TLR-8 und 9, RIG-like-Rezeptor (RLR) – eine RNA-abhängige Helikase, die virale RNA erkennt und verändert |
HPeV | … über TLR-7 und 8, über Aktivierung der Interferon(IFN)-1-Kaskade, die bei der Zellzerstörung effektiver ist als neutralisierende Antikörper |
IFV | … in der Lunge über TLR-3 und 4 und NF-κB mit nachfolgender Zerstörung der Alveolar-Epithel-Schranke, Apoptose der Epithelzellen und Zytokin-Sturm einschließlich Tumor-Nekrose-Faktor(TNF)-α-Freisetzung, die Neutrophile anlockt, als Zeichen von ARDS (acute respiratory distress syndrome). ARDS ist häufig der Beginn einer viralen Sepsis, die dann bei Penetration der Blut-Hirnschranke eine Enzephalitis auslöst. |
Die virale Immunsuppression betrifft das angeborene (innate) und erworbene Immunsystem. Neben der T-Lymphozyten-Erschöpfung durch Hyperaktivierung sind die Funktionen von B-Lymphozyten, Neutrophilen und Makrophagen beeinträchtigt. Ein Zeichen der Aktivierung des angeborenen Immunsystems ist die Erhöhung von Ferritin, das ein Akut-Phase Protein ist [1, 4]. Klinische Zeichen der Immunsuppression sind die Reaktivierung von CMV, EBV, VZV und HSV, und virologisch die prolongierte Elimination von z. B. EV70 und Coxsackievirus B3. Eine Immunsuppression für mehrere Wochen können z. B. Masernvirus, RSV und IFV auslösen. Diese Form der Immunsuppression unterscheidet sich von der bei einer chronischen Infektion, die z. B. durch HBV, HCV und HIV ausgelöst wird [1, 5]. Auch genetische Faktoren können den individuellen Verlauf einer Sepsis beeinflussen (Tab. 2).
Tab. 2: Beispiele für eine genetische Heterogenität, die den individuellen Verlauf einer Infektion – auch Sepsis – beeinflusst [3, 6]. MPXV = Affenpockenvirus.
Virus | Genetische Heterogenität |
---|---|
HIV | Zelloberflächen-Rezeptoren wie CCR5, CCR2, CX3CR1, SDF1 und CD299 |
DENV | Virale Proteine, die die Expression von TGF-ß, CTLA-4, CD209, C-type Lectin und CD299 steuern und damit die Haemorrhagie und Letalität beeinflussen. |
SARS-CoV-2 | Einfluss auf Moleküle wie TLR-7und ABO-Blutgruppen-Glykopeptide: Wenn Blutgruppe O vorliegt, sind die Träger mäßig geschützt, wenn Blutgruppe A vorliegt, leichter infizierbar. APOBEC4-Träger haben eine höhere Suszeptibilität, während die genetische Variabilität des Angiotensin-Converting-Enzyme-2(ACE2)-Moleküls den Infektionsverlauf nicht beeinflusst – eher die beim Zelleintritt beteiligten Enzym-Varianten von Furin und Transmembran-Protein-Serase(TMPRRS) 2 (transmembrane serine protease 2) [6, 7]. |
MPXV | Erhöhte Mengen freigesetzter Cytokine wie Il-2R, IL-10, GM-CSF (granulocyte macrophage stimulating factor) führen zu einem schweren Verlauf [8]. |
Unterscheidung von bakterieller und viraler Sepsis
Eine bakterielle und eine virale Sepsis unterscheiden sich sowohl in der Pathophysiologie, in der Ausprägung der Erkrankung und hinsichtlich der Ergebnisse der Diagnostik als auch in der Therapie (Tab. 3).
Tab. 3: Unterschiede zwischen bakterieller und viraler Sepsis.
Bakterielle Sepsis | Virale Sepsis |
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Blutkultur positiv | Blutkultur negativ |
Antibiotika-Behandlung – bakterizid möglich; Ausnahme multi-resistente Bakterien | Virostatika nur teilweise verfügbar, z. B. Aciclovir bei HSV, hemmen die Replikation, töten das Virus nicht ab |
Gerinnungskaskade wird aktiviert mit nachfolgender Endothelschädigung | Endothelzellschädigung über virale Toxine sind die Regel. Gerinnung wird erst spät beeinträchtigt. Ausnahme: haemorrhagische Fieberviren |
Komplementkaskade wird regelmäßig primär aktiviert | Komplementaktivierung spät durch Zerstörung von Zellen, zirkulierende Zellfragmente und Nukleinsäuren |
Enzephalitis nur bei einigen Bakterien primär vorhanden, z. B. Meningokokken | Enzephalitis durch Viren und/oder virale Toxine primär sehr häufig vorhanden |
Pneumonie häufig als primäre Ursache oder Komplikation der Sepsis | Pneumonie selten als Symptom der Sepsis, eher als Ursache, z. B. bei SARS-CoV, Hantavirus oder Influenzavirus |
Wie erwähnt kann eine virale Sepsis bakteriell superinfiziert werden, so wie auch eine behandelbare/behandelte bakterielle Sepsis viral bei Immunsuppression bei z. B. Transplantierten durch reaktivierte Herpesviren oder aerogen-erworbenes Influenzavirus kompliziert werden kann. Bakterien und Viren gleichzeitig können abhängig von Alter und Grundkrankheit ein fatales Krankheitsgeschehen auslösen mit einer Letalität von ca. 11 % [1, 4].