Die Wirkung von selektiven Serotonin-Reuptake-Inhibitoren auf das Gerinnungssystem: Ist der Nutzen größer als das Risiko?
Selektive Serotonin-Reuptake-Inhibitoren (SSRI) gehören in Deutschland zu den am häufigsten verordneten Antidepressiva. Das Risiko für eine gastrointestinale Blutung ist moderat erhöht, steigt aber durch die Kombination mit thrombozytenfunktionshemmenden Mitteln (z. B. NSAR, ASS, Clopidogrel) und/oder Antikoagulantien (z. B. DOAKs, VKA) an. Laboranalytisch kann eine gestörte Thrombozytenfunktion unter SSRI mit Plättchenfunktionstests nicht zuverlässig erfasst werden, sodass der zeitlichen Zuordnung zwischen Blutung und SSRI-Einnahme eine besondere Bedeutung zukommt. Für den Einsatz im klinischen Alltag sollte der Nutzen gegenüber dem Blutungsrisiko vor allem bei älteren, multimorbiden Patienten abgewogen werden.
Schlüsselwörter: SSRI, 5-HT, obere gastrointestinale Blutung, Hirnblutung, NSAR, TAH, DOAK, VKA, PFA-Test
SSRI sind in Deutschland mit 693 Millionen definierten Tagesdosen die am häufigsten verordneten Antidepressiva [1]. Neben dem Hauptindikationsgebiet der Depression kommen SSRI aber auch u. a. in der Behandlung von Angst-, Schlaf-, Ess- und Zwangsstörungen oder bei chronischen Schmerzen zur Anwendung. Dabei werden SSRI aufgrund ihrer Selektivität häufig und oft bei älteren Patienten eingesetzt. Dies ist von klinischer Bedeutung, da diese Patienten aufgrund ihrer Ko-Medikation und Ko-Morbidität sowie Gebrechlichkeit („Fraility“) häufiger bereits ein höheres Blutungsrisiko aufweisen. In diesem Kontext ist hervorzuheben, dass die Depression als unabhängiger kardiovaskulärer Risikofaktor angesehen werden kann.
Wirkprinzip
Unerwünschte Blutungen unter SSRI sind bereits seit über zwei Dekaden in den Fokus der beobachteten Nebenwirkungen gerückt. Pharmakologisch werden hierfür gleich mehrere Mechanismen angenommen. Die Gesamtmenge des körpereigenen Serotonins wird zu über 99 % in den Thrombozyten gespeichert [2]. Die Wiederaufnahme von Serotonin über das Serotonin(5-HT)-Transporterprotein wird somit nicht nur in den präsynaptischen Neuronen, sondern auch in den Thrombozyten gehemmt. Die Freisetzung von Serotonin ist jedoch für eine effektive Vasokonstriktion und Plättchenaktivierung essenziell. Hierdurch werden – zusammen mit anderen aggregierenden Mediatoren (z. B. Adenosindiphosphat (ADP)) – zudem auch andere Plättchen stimuliert und rekrutiert. Da Blutplättchen selbst kein Serotonin synthetisieren, führt eine SSRI-Behandlung nach zwei Wochen zu einer 90 %igen Reduktion der Serotonin-Konzentration in den Plättchen und trägt damit zu einer reduzierten primären Hämostase bei (Abb. 1) [3, 4]. Des Weiteren erhöhen SSRI auch die Azidität des Magens, was die in der Literatur am häufigsten beschriebene Blutungslokalisation des oberen Gastrointestinaltrakts erklären dürfte [3, 5–7]. Zudem wird ein Großteil des 5-HT in den enterochromaffinen Zellen des Gastrointestinaltrakts synthetisiert [8].
Abkürzungen: 5-HT: Serotonin, 5-HTT: 5-HT-Transporter, ADP: Adenosindiphosphat, ArA: Arachidonsäure, COX: Cyclooxygenase, KOL: Kollagen, PAR: Protease-aktivierter Rezeptor, PF4: Plättchenfaktor 4, TF: Tissue Factor, TXA: Thromboxan, vWF: von-Willebrand-Faktor.
Blutungstyp/Lokalisation
Blutungen unter SSRI werden systematisch in der Literatur vor allem im oberen Gastrointestinaltrakt und als intrakranielle, postpartale oder perioperative Blutung beschrieben. Weitere Blutungslokalisationen (u. a. Ekchymosen, Zahnfleischbluten, Epistaxis, vaginale Blutungen, Gelenkblutungen) werden nur anekdotisch beschrieben, was nahelegt, dass ein Zusammenhang zwischen SSRI-Einnahme und Blutung entweder nicht vorliegt oder aber häufig nicht vermutet wird. Ein perioperativ erhöhtes Blutungsrisiko konnte sowohl für orthopädische (einschließlich Wirbelsäulenchirurgie) [9, 10] als auch senologische Eingriffe gezeigt werden [11], nicht jedoch in der kardialen Bypass-Chirurgie [12]. Ein erhöhtes Blutungsrisiko in der Schwangerschaft bzw. für eine postpartale Hämorrhagie ist in mehreren Studien beschrieben, das absolute Risiko wird jedoch insgesamt als eher niedrig eingeschätzt [13].
Gastrointestinale Blutung
Das absolute Risiko einer oberen gastrointestinalen Blutung (OGIB) unter SSRI wird mit 3,1 pro 1.000 Behandlungsjahre angegeben [14]. Das relative Risiko einer OGIB ist bei SSRI-Anwendung 1,55-mal höher als bei Nicht-Anwendern und steigt mit der Einnahme von Thrombozytenaggregationshemmern (TAH) oder Nichtsteroidalen Antirheumatika (NSAR) (OR 5,0 bzw. 10,9) bzw. bei der Kombination aller drei Substanzgruppen (OR 9,1). Analog sinkt die errechnete „number needed to harm“ (NNH in Patientenjahren) von 791 (für SSRI alleine) auf 294 (für SSRI und TAH), 160 (für SSRI und NSAR) und 53 (für SSRI, NSAR und TAH) [15]. Für Patienten, die mit einem LVAD (Left Ventricular Assist Device) behandelt werden, konnte kürzlich eine NNH von 7,6 berechnet werden [16].
Diese Beobachtungen erklären sich einerseits durch die direkte toxische Wirksamkeit von NSAR auf die Magenschleimhaut und andererseits durch die synergistische Hemmung der Thrombozytenfunktion (über eine verminderte Thromboxan-Synthese). So erschließt sich umgekehrt ein niedrigeres Blutungsrisiko unter gleichzeitiger Einnahme eines Protonenpumpenhemmers (PPI) [15, 17].
Dall et al. konnten auch zeigen, dass das Risiko einer OGIB während der ersten Wochen einer SSRI-Behandlung am höchsten ist [17]. In der Studie von Loke et al. lag der mediane Zeitraum der OGIB bei 25 Wochen, wobei der Anteil der Patienten, die gleichzeitig ein NSAR erhielten, bei 67 % lag [18]. Es wird zudem diskutiert, dass das Blutungsrisiko mit der Affinität zum Serotonin-Rezeptor (Tab. 1) [2, 19] ansteigt. So fand sich bei den gastrointestinalen Blutungen ein um 1,17 höheres relatives Risiko in der Gruppe mit hoher gegenüber der Gruppe mit geringer Affinität [20]. Während das gastrointestinale Blutungsrisiko für SSRI unter gleichzeitiger Gabe von NSAR und/oder TAH erhöht ist, scheint dies für die gleichzeitige Einnahme von Warfarin nicht der der Fall zu sein [21]. Vergleicht man die unter SSRI konkomitante Therapie mit direkten oralen Antikoagulantien (DOAK) gegenüber einer Therapie mit Vitamin-K-Antagonisten (VKA), so findet sich unter DOAKs eine signifikant höhere GI-Blutungsrate (RR 1.53) [22].
Risiko intrakranieller Blutungen
Ein erhöhtes Hirnblutungsrisiko konnte für SSRI bisher nicht sicher belegt werden, eine moderate Erhöhung (OR < 1,4), insbesondere von SSRI gegenüber trizyklischen Antidepressiva, wird aber durch kürzlich erschienene Studien nahegelegt [2, 23–25]. Das absolute Risiko ist mit 1:100 000 als sehr gering einzuschätzen [26], steigt jedoch vor allem bei gleichzeitiger VKA-Therapie [21] und ist signifikant höher als unter Einnahme eines DOAK [22]. Ein in den ersten Behandlungswochen erhöhtes Blutungsrisiko findet sich auch bei den Hirnblutungen wieder.
Wechselwirkungen
Das erhöhte Blutungsrisiko unter SSRI-Behandlung scheint für die üblichen therapeutischen Verabreichungen nicht dosisabhängig zu sein [27], wird aber durch die Ko-Medikation von Antikoagulantien (z. B. DOAKs, VKA) und TAH bei einzelnen SSRI durch CYP450-Wechselwirkungen erhöht, z. B. bei Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin. Dies ist insofern von besonderer Bedeutung, da SSRI bei fast 20 Prozent der kardiovaskulären Patienten mit Depression verschrieben werden. Bei Patienten, die eine alleinige oder duale TAH nach einem Herzinfarkt einnahmen, konnte gezeigt werden, dass sich das Blutungsrisiko unter SSRI und TAH erhöht: HR 1.57 SSRI und duale Plättchenhemmung gegenüber der alleinigen ASS-Einnahme [28].
Testmethoden im Labor
Zur Beurteilung der primären Hämostase eignet sich die Durchführung der In-vitro-Blutungszeit (PFA 100, PFA 200). Hierbei handelt es sich um einen Screening-Test, bei der das Gerät die Strömungsverhältnisse in einem kleinen Blutgefäß nach dessen Verletzung simuliert. Die Messzellen des Gerätes sind mit Agonisten (Epinephrin, ADP und Kollagen) beschichtet. Gemessen wird die Zeit von Beginn der Stimulation der Thrombozyten bis zum vollständigen Verschluss einer Membran durch die aktivierten Thrombozyten. Durch die Kollagenbeschichtung der Membran wird unter hohen Scherkräften auch die von-Willebrand-Faktor-vermittelte Thrombozytenadhäsion gemessen. Der PFA-Test ist daher geeignet, nicht nur Thrombozytenfunktionsstörungen, sondern auch ein von-Willebrand-Syndrom zu detektieren. Da SSRI die primäre Hämostase beeinflussen, sollte der PFA-Test (In-vitro-Blutungszeit) als Screening-Test geeignet sein, eine entsprechende Störung zu erkennen. Dies scheint aber bei SSRI nicht zuverlässig der Fall zu sein [29]. Dasselbe gilt auch für die Untersuchung der Thrombozytenfunktion mittels Aggregometrie durch verschiedene Agonisten wie Arachidonsäure oder Kollagen. Diese Beobachtungen legen nahe, dass die Blutungsneigung unter SSRI weniger durch eine eingeschränkte Aggregometrie begründet ist, sondern dass der verminderte 5-HT-Gehalt der Plättchen zu einer reduzierten 5-HT-vermittelten Vasokonstriktion führt bzw. dass die eingeschränkte 5-HT-assoziierte Wundheilung zu der Entstehung einer Ulcus-assoziierten OGIB beiträgt [30]. Eine normale In-vitro-Blutungszeit bzw. eine normale Thrombozytenaggregometrie schließt somit ein erhöhtes Blutungsrisiko unter SSRI-Einnahme nicht aus, weswegen im Falle von Blutungen oder bei der Beurteilung eines erhöhten Blutungsrisikos der gezielten Frage nach einer SSRI-Einnahme eine besondere Bedeutung zukommt. Im Falle von Blutungen sollten immer auch anderweitige Hämorrhagien (z. B. von-Willebrand-Syndrom) durch eine hämostaseologische Untersuchung ausgeschlossen werden.
Fazit für die Praxis
Die Einnahme von SSRI ist mit einem erhöhten Blutungsrisiko verbunden, vor allem am Anfang der Behandlung. Hierüber sollten Patienten grundsätzlich vor einer geplanten Therapie aufgeklärt werden. Dies gilt insbesondere, wenn bereits eine antithrombotische Therapie besteht. In Abhängigkeit des zugrunde liegenden Blutungsrisikos (Evaluation z. B. mittels HAS-BLED-Score) wären daher ggf. SSRI mit einer niedrigeren Affinität zu bevorzugen (siehe Tab. 1), wenngleich eine Risikoreduktion (z. B. für Bupropion und Mirtazapin) nicht ausreichend belegbar ist [31].
Sofern möglich sollte prophylaktisch und vor allem perioperativ auf die Einnahme NSAR-/ASS-haltiger Analgetika verzichtet werden. Ggf. empfiehlt sich die prophylaktische Einnahme eines Protonenpumpenhemmers, z. B. im Falle einer dauerhaften ASS-Therapie (z. B. bei KHK) oder wenn passager eine längere oder höher-dosierte NSAR-Einnahme unvermeidbar ist. Eine PPI-Prophylaxe wäre in jedem Fall bei einer stattgehabten oberen gastrointestinalen Blutung bei Fortsetzung der SSRI-Therapie indiziert. Bei schweren SSRI-assoziierten Blutungen sollte die weitere Einnahme einer dokumentierten Nutzen-/Risikokalkulation unterliegen. Eine Reduktion der SSRI-Dosis führt jedoch nicht zu einer Verminderung des Blutungsrisikos. Keinesfalls sollte eine SSRI-Therapie bei psychisch auffälligen Patienten im Falle einer (milden) Blutungsneigung (z. B. Hämatomneigung im Alltag) unkritisch beendet werden. Im Falle von geplanten Eingriffen mit einem hohen Blutungsrisiko kann diese aber präoperativ 10–14 Tage pausiert werden, sofern ein stabiler psychiatrischer Befund vorliegt.
Wenn eine Fortsetzung der SSRI-Behandlung aufgrund des Blutungsrisikos nicht vertretbar erscheint, sollte eine alternative antidepressive Therapie erfolgen. In jedem Fall sollte möglichst immer eine interdisziplinäre Absprache erfolgen.