Hämostaseologie: Von Menschen und Fledermäusen
Was haben Fledermäuse mit Gerinnung zu tun? Für zoologisch bewanderte „Vampirfreunde“ ist die Antwort einfach: Die sogenannten Vampirfledermäuse (Desmodontinae) ernähren sich vom Blut anderer Säugetiere – und, damit ihre Nahrung während des Trinkens nicht gerinnt, ist ihr Speichel ein wahres Schatzkästchen bioaktiver Substanzen für die Gerinnungsforschung. Darin findet man unter anderem ein Glykoprotein mit dem bezeichnenden Namen „Draculin“. Es handelt sich dabei um einen Faktor-Xa-Inhibitor, der ähnlich wie Apixaban oder Rivaroxaban die Blutgerinnung hemmt.
Nun eine etwas komplexere Frage: Was haben Menschen, Fledermäuse, Coronaviren und Gerinnung gemeinsam? Dass Fledermäuse ein natürliches Reservoir für humanpathogene Coronaviren darstellen, ist bekannt, doch das hat primär noch nichts mit Gerinnung zu tun. Die Lösung des Rätsels findet sich in einer soeben erschienenen Publikation über proteomische „Consensus Patterns“ [1]: Die Autoren erforschten die Struktur des Spikeproteins von CoV-2 und stießen dabei auf eine Abfolge von insgesamt 13 Aminosäuren (CSCLKGCCSCGSC), die für Coronaviren eher untypisch ist – sie existiert nur in den Viren von Mensch und Fledermaus. Beim Menschen kommt diese Sequenz in einigen Proteinen der Hämostase vor, darunter im Gerinnungsfaktor X, im von-Willebrand-Faktor und in einem Aggregationsrezeptor auf Thrombozyten. Das gemeinsame Merkmal aller Proteine, die dieses Aminosäuremotiv enthalten, ist ihre Fähigkeit, Calcium zu binden.
Diese Entdeckung regte die Autoren zu allerlei Spekulationen über die Ursachen der COVID-19-Koagulopathie an. Davon angespornt entwickelte sich unter den Corona- und Gerinnungsexperten unserer Redaktion eine lebhafte Diskussion über die Frage: Wie kommt das Consensusmotiv des Menschen in genau dieses Virus, und welche Konsequenzen könnte es haben, wenn befallene Körperzellen dieses gerinnungsaktive Motiv massenweise reproduzieren?
Zur ersten Frage bestätigt Lutz Gürtler aus der Redaktion unseres Corona-Newsletters, dass Viren von ihrem Wirt durchaus DNA- oder RNA-Bruchstücke übernehmen und in ihren Proteinen exprimieren können. Meister darin sind zum Beispiel die Retroviren mit ihren Onkogenen. Wenn Coronaviren durch Insertion bestimmter Motive einen Selektionsvorteil beim Menschen erlangen, so kann dieser auch konserviert werden.
Zur zweiten Frage postuliert Rudolf Gruber, Ressortleiter dieser Zeitschrift, in seinem Kommentar auf der nächsten Seite eine direkte thrombosefördernde Aktivität des so entstandenen Spikeproteins an den befallenen Endothelzellen. Dazu passt indirekt, dass der Gerinnungsantagonist Heparin bei COVID-19 offenbar den durch das Spikeprotein vermittelten Eintritt von CoV-2 in die Zellen hemmt [2].
Unser Gerinnungsspezialist Hans-Jürgen Kolde (Artikel hier) gibt zu bedenken, dass die Bindung von Calcium nicht nur für Gerinnungsfaktoren, sondern auch für viele andere Proteine bzw. Proteasen ein evolutionärer Vorteil zu sein scheint. Es ist also zu erwarten, dass das neue Spikeprotein-Motiv dem ohnehin schon komplizierten COVID-19-Puzzle noch viele weitere Steinchen hinzufügen wird, deren Platz im Gesamtbild allerdings erst noch gefunden werden muss.