Pharmakogenetik: Anwendung im klinischen Alltag

Genetische Informations-Management-Systeme

Genetisch bedingte Varianten von Proteinen des Medikamentenstoffwechsels können zu unerwünschten oder unzureichenden Arzneimittelwirkungen (UAW) führen. Mindestens 5–10% aller Krankenhauseinweisungen in Europa und Nordamerika sind auf UAW zurückzuführen [1–5]. Die damit verbundenen Leiden bis hin zum Tod implizieren sowohl ethische Aspekte als auch eine hohe ökonomische Relevanz für die Gesundheitssysteme. Das Projekt „Ubiquituous Pharmacogenomics“ soll nun die Erkenntnisse der Pharmakogenetik jedem Bürger Europas zugänglich machen.
Schlüsselwörter: Pharmakogenetik, UAW, Wirkstoffspiegel, Therapieempfehlung, Medication Safety Pass

Mit der pharmakogenetischen Diagnostik – also der Analyse auf Genvarianten, die UAW hervorrufen – eröffnet sich die Möglichkeit, Medikamente und deren Dosierung an die genetische Ausstattung eines Patienten anzupassen [6]. Wenn bei einem Patienten genetische Varianten nachgewiesen wurden, die den Wirkstoffspiegel eines Medikaments nach Verabreichung einer Standarddosis bekanntermaßen um das bis zu 10-Fache erhöhen, kann mit diesem Wissen rechtzeitig entsprechend reagiert werden [7]. So lässt sich die Arzneimittelsicherheit und -wirkung durch eine konsequente Berücksichtigung pharmakogenetischer Faktoren erheblich verbessern.
Diese Zusammenhänge sind zum Teil seit vielen Jahrzehnten sowohl bekannt als auch hinreichend wissenschaftlich validiert. Sie haben Eingang in zahlreiche, nach rigorosen Qualitätsstandards erstellte Leitlinien hochkarätiger interdisziplinärer Expertengremien gefunden. Die amerikanische Zulassungsbehörde FDA (Food and Drug Administration) veröffentlichte bereits für mehr als 200 Medikamente Verweise auf pharmakogenetische Varianten und entsprechende Warnhinweise [8]. Die zwei internationalen wissenschaftlichen Konsortien für klinische Pharmakogenetik, CPlC (Clinical Pharmacogenomics lmplementation Consortium) in den USA [9] und die DPWG (Dutch Pharmacogenetic Working Group) in Europa [10] haben auf der Basis umfassender und systematischer Reviews mittlerweile mehr als 150 Leitlinien erstellt. Unter deren Berücksichtigung sind 95% aller Patienten Anlageträger von mindestens einem, für eine Arzneimittel-Therapie zu beachtenden, wichtigen Geno­typ [11].

Bisherige Hürden

Trotz der hervorragenden Evidenz- und Erkenntnislage wird die Mehrheit der Patienten – um nicht zu sagen nahezu alle – immer noch in Unwissenheit der vorhandenen, genetischen Varianten behandelt. Die Ursachen dafür sind vielgestaltig und nicht nur in der – oft bei der Einführung neuer Methoden noch nicht hinreichend geklärten – Frage der Kostenerstattung begründet.
So muss ein Arzt für die medikamentöse Therapieplanung wissen, welche Varianten welcher Gene für welches Medikament bzw. dessen Alternativen von Bedeutung sein könnten – und zwar bevor er eine Therapie einleitet. Diese Informationen standen bisher eher fragmentiert zur Verfügung, denn die genetischen Analysen erfolgten aus methoden- und kostentechnischen Gründen immer nur bezogen auf einzelne Varianten. Der behandelnde Arzt muss außerdem, sobald ein Analyseergebnis auf die modifizierte Metabolisierung eines Medikamentes hinweist, wissen, welche Auswirkungen die Medikamentengabe auf den betroffenen Patienten in praxi haben wird. Für alle diese Schritte stand bisher kein Medium zur Verfügung, in dem dieses breite Informationsspektrum für die praktische Anwendung zusammengefasst war.

Klinische Implementierung

Im Jahr 2016 wurde das europäische Projekt „Ubiquitous Pharmacogenomics“ (U-PGx) mit dem Ziel ins Leben gerufen, den vorhandenen reichlichen Erkenntnissen der Pharmakogenetik den Weg in die Praxis zu ebnen und die bekannten Hürden abzubauen. Insgesamt 20 Institutionen mit pharmazeutisch-pharmakologischer Expertise, vom klinisch-pharmakologischen Institut bis hin zur Zulassungsbehörde mit dem Auftrag der Sicherstellung von Arzneimittel- und Patientensicherheit, begründeten ein Konsortium, um in sieben Ländern eine Infrastruktur aufzubauen, die für jeden Bürger Europas pharmakogenetische Informationen nutzbar macht [13–16]. Als möglichst kosteneffektive Strategie hierfür wurde die einmalige Analyse eines Genvarianten-Panels identifiziert. Um sicherzustellen, dass die Ergebnisse lebenslang genutzt werden können, sollen sie möglichst in eine elektronische Gesundheitsakte des jeweiligen Patienten eingebunden werden [12]. Kritische Elemente für die erfolgreiche klinische Implementierung einer solchen Strategie sind:

  1. die Anwendung eines standardisierten diagnostischen Test-Panels,
  2. eine präemptive Testung, d. h. die Ergebnisse der DNA-Analyse stehen vor Therapiebeginn zur Verfügung,
  3. digitale Lösungen zum Management der genetischen und klinischen Informationen (genetic information management system, GIMS).

Dabei kommt dem GIMS die zentrale Aufgabe zu, alle beteiligten Akteure mit den notwendigen Informationen zu versorgen. Mit verschiedenen Modulen werden die essenziellen, digitalen Funktionalitäten zur Verfügung gestellt. So fungiert das GIMS als
zentrale Knowledge Base zur Kuratierung und Verbreitung der Empfehlungen der unter dem Dach der niederländischen Pharmazeutischen Gesellschaft (KMNP) wirkenden Expertengruppe DPWG,
Portal zum Upload der Genotypisierungsdaten zur automatischen Übersetzung in Diagnosen und Empfehlungen sowie zur Befunderstellung und
clinical decision support tool mit Zugang zu konkreten Dosierungs- und Therapieempfehlungen, die der klinisch arbeitende Arzt direkt am point of care anwenden kann (Abb. 1).
Ein GIMS kann, je nach Ausstattung des Laboratoriums, pharmakogenetische Therapieempfehlungen über verschiedene digitale Medien sowie mit einer mit QR-Code versehenen Medikamenten-Checkkarte (Medication Safety Pass) an Ärzte und Patienten ausgeben.

Zusammenfassung und Ausblick

Der erfolgreiche Einsatz eines GIMS im Kontext des europäischen Konsortiums stellt einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zur Implementierung der Pharmakogenetik im klinischen Alltag dar. Das Potenzial solcher Systeme wird sich mit deren Verbreitung und der weiteren Vernetzung klinischer Strukturen und Experten vervielfachen.  
Für das genetische Informationsmanagement stehen nun multimodale, digitale Werkzeuge zur Verfügung, die endlich eine klinische Anwendung des seit vielen Jahrzehnten vorhandenen Expertenwissens ermöglichen. Mit der Integration genetischer Informationsmanagement- und Verschreibungssysteme und elektronischer Gesundheitsakten in die Versorgungsstrukturen kann eine sichere und wirksamere Arzneimitteltherapie realisiert werden. Damit wird unser Gesundheitssystem einen Leistungsstandard erreichen, wie er in anderen Lebensbereichen aufgrund der Einbettung digitaler Lösungen längst Realität ist.    

Autor
Prof. Dr. med. Daniela Steinberger
bio.logis Zentrum für Humangenetik
Partner im Diagnosticum