Rätselhafte Krankheitsbilder aufgeklärt

CME-Beitrag: Antikörper-vermittelte Enzephalitis

Auto-Antikörper, die gegen Strukturen des zentralen Nervensystems gerichtet sind, können Enzephalitiden mit einem breiten Spektrum neurologischer und psychiatrischer Symptome auslösen. Der Schlüssel zur korrekten Diagnose ist die Testung von Blut oder Liquor auf die zugrunde liegenden pathogenen Auto-Antikörper. Der 2007 erstmals beschriebene NMDA-Rezeptor-Antikörper wurde inzwischen bei Tausenden von Patienten nachgewiesen.

Schlüsselwörter: Antikörper-vermittelte Enzephalitis, Autoantikörper, NMDA-Rezeptor, LGI1

Klinisches Fallbeispiel

Noch vor zehn Jahren hätte niemand damit gerechnet, dass durch die Labortes­tung auf anti-neuronale Autoantikörper ein fundamentales Umdenken in der Neurologie und Psychiatrie eingeleitet werden würde. Seither sind etliche Krankheiten in ihrem Wesen aufgeklärt worden, die zuvor unter fraglichen Diagnosen wie Enzephalitis ohne Erregernachweis, nicht-infektiöse Enzephalopathie oder unter psychosomatischen Erklärungsmodellen behandelt wurden. Allen gemeinsam ist, dass sich bei ihnen aus zum Teil noch ungeklärter Ursache Autoantikörper bilden, die körpereigenes Hirn- oder Nervengewebe angreifen.

Erstbeschreibung 2007

Den Startschuss für diesen Paradigmenwechsel gab die Entdeckung der Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis bei mehreren jungen Frauen mit einer schweren Hirnentzündung, psychiatrischen Auffälligkeiten, epileptischen Anfällen und Bewusstseinsstörungen. Der amerikanische Neurologe Josep Dalmau publizierte 2007 eine wegbereitende Untersuchung, indem er Liquor dieser Patientinnen auf den Hirnschnitt einer Ratte gab und die Bindung der darin enthaltenen Autoantikörper durch eine Farbreaktion sichtbar machte [1]. Die Antikörper reagierten mit den Nervenzellen im gesamten Gehirn, besonders stark aber mit Nervenfasern im Hippocampus und im Kleinhirn. 

Nur ein Jahr später hatte die Arbeitsgruppe dann herausgefunden, gegen welches Protein die Antikörper gerichtet sind. Sie binden an den sogenannten N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor, einen Glutamatrezeptor, der insbesondere für Gedächtnis, Emotions- und Impulskontrolle sowie für vegetative Funktionen essenziell ist. 

Klinisches Bild

Durch diese Beobachtung wurde die häufigste Autoimmun-Enzephalitis entdeckt. Mehrere Tausend Patienten sind inzwischen beschrieben, und für Medizinstudierende gehört der sperrige Name zum selbstverständlichen Lernstoff. 

Im Verlauf der Erkrankung treten meist sehr ähnliche Symptome auf. Nach einer durch Kopfschmerzen oder Krankheitsgefühl gekennzeichneten Prodromalphase kommt es zu einem schizophreniformen Syndrom. Bei den Patienten wird dann häufig eine Drogen-induzierte Psychose vermutet. 

Im Verlauf entwickelt die Mehrzahl epileptische Anfälle, Hyperkinesien vor allem im Gesicht sowie vegetative Störungen mit Blutdruckkrisen oder sogar Herzstillstand. Einige Patienten benötigen eine lange intensivstationäre Behandlung und Be­atmung. Bei rascher Einleitung einer ausreichend aggressiven  Immuntherapie ist die Prognose aber so gut, dass die Mehrheit in Schule oder Beruf zurückkehren kann. Betroffen sind vor allem junge Frauen, aber auch Männer aller Altersklassen und Kinder können darunter leiden.

Neuere Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass die NMDA-Rezeptor-Anti­körper direkt pathogen wirken [2]. Die Herstellung monoklonaler Antikörper erlaubte den Nachweis, dass sie selbst zu Veränderungen der Synapsen und damit zu Funktionsstörungen der Neurone führen. Diese Befunde brachten die Erkenntnis, dass Patienten mit einer NMDA-Rezeptor-Enzephalitis möglichst früh und auch ausreichend aggressiv mittels Immuntherapie behandelt werden müssen, um Folgeschäden zu reduzieren. Leider lassen sich diese trotzdem selten ganz verhindern und die Patienten behalten milde Störungen von Gedächtnis, Stimmung, Aufmerksamkeit oder Affekt zurück.

Labordiagnostik

Im Umkehrschluss ist in der Labordiagnostik der Nachweis genau dieser Autoantikörper erforderlich (Abb. 1), um die Pa­tienten mit einer behandelbaren Enzephalitis möglichst früh zu identifizieren. Dazu stehen mehrere Testverfahren zur Verfügung, bei denen man sich die Bindung der Antikörper an ihr Zielprotein zunutze macht. Besonders für Suchtests nach neuen Antikörpern werden Liquor oder Serum der Patienten auf Hirnschnitte einer Maus oder Ratte gegeben, wo die Antikörper spezifisch binden, zum Beispiel an den NMDA-Rezeptor im Hippocampus (Abb. 1 B, links). 

Verfeinerte Tests mit noch höherer Sensitivität für einen bestimmten Antikörper basieren auf gentechnisch veränderten nicht-neuronalen Zellen, die auf ihrer Oberfläche das Zielprotein in hoher Konzentration aufweisen. Gibt man Serum oder Liquor betroffener Patien­ten dazu, dann färben sich genau die Zellen an, gegen deren künstlich eingeschleustes Antigen die Betroffenen Antikörper entwickelt haben. Diese zellbasierten Tests (Abb. 1 B, rechts) sind heute der Goldstandard in der Diagnostik anti-neuronaler Autoantikörper, und ein positiver Befund gilt im Kontext der klinischen Symptomatik als beweisend für eine Enzephalitis.

Es ist sinnvoll, immer Liquor und Serum zu untersuchen, da die Antikörper bei einigen Patienten nur in einem Material nachweisbar sein können – NMDA-Rezeptor-Antikörper beispielsweise in 15–20% nur im Liquor und Leucine-rich, glioma in­activated 1 (LGI1)-Antikörper nahezu durchweg im Serum. Die Testung des Liquors ist ohnehin schon bei leisestem Verdacht auf eine autoimmune Enzephalitis indiziert, da sich aus den Liquor-Basisparametern (Eiweiß, Zellzahl, Laktat) viele weitere Anhaltspunkte für einen Entzündungsprozess ergeben können. Ein unauffälliger Liquor-Basisbefund schließt aber eine Antikörper-vermittelte Enzephalitis keineswegs aus, beispielsweise ist selbst bei hochtitrigen LGI1-Antikörpern ein Normalbefund die Regel.

Weitere anti-neurale Antikörper

Längst kennt man nicht mehr nur den NMDA-Rezeptor-Autoantikörper, sondern etliche weitere anti-neuronale Antikörper (Tab. 1, Abb. 2). Jeder von diesen steht für ein eigenständiges Krankheitsbild mit unterschiedlichen klinischen Symptomen und variabler Schwere. So kommen bei der zweithäufigsten Form Antikörper gegen LGI1 vor, ein lösliches Protein in der Nähe spannungsgesteuerter Kaliumkanäle mit zentraler Funktion für den Aufbau von Synapsen im zentralen Nervensys­tem. 

Entsprechend der anatomischen Verteilung leiden die Patienten mit einer LGI1-Antikörper-Enzephalitis an Schädigungen der Schläfenlappen mit Gedächtnisstörungen, psychiatrischen Auffälligkeiten, epileptischen Anfällen und einer Hyponatriämie, besonders häufig sind ältere Männer betroffen. Zunehmend werden Patienten mit LGI1-Antikörpern identifiziert, bei denen eine Demenz im Vordergrund der Beschwerden steht, die zunächst als Alzheimer-Erkrankung oder frontotemporale Demenz eingeschätzt wurde. In diesen Fällen ist die korrekte und zügige Labordiagnostik besonders wichtig, da eine unterlassene Immuntherapie unvermeidlich zu bleibenden schwersten Gedächtnisstörungen führt. 

Zu den weiteren Antikörpern zählen solche gegen GABAA- und GABAB-Rezeptoren, die bei betroffenen Patienten vor allem epileptische Anfälle auslösen. Antikörper gegen Glyzin-Rezeptoren sind vor allem mit überschießender Erregbarkeit der Nerven assoziiert, was sich in Schreckhaftigkeit, Reflexsteigerung und einschießenden Muskelspasmen zeigt. 

Einige Antikörper führen besonders häufig zu psychiatrischen Störungen, hinter denen zunächst eine Psychose oder Schizophrenie vermutet wird. Dazu gehören Antikörper gegen den Amino­methylphosphonsäure (AMPA)-Rezeptor, Neurexin-3α oder den metabotropen Glutamatrezeptor 5 (mGluR5). 

Die Vorhersage des Antikörpers ist allerdings selbst bei charakteristischen Verläufen schwierig, sodass heute immer mehr eine Panel­diagnostik mit gleichzeitiger Testung der häufigsten Antikörper stattfindet. Prinzipiell wäre eine Testung auf möglichst viele der bereits bekannten Antikörper sinnvoll. Aus Kostengründen findet aber in aller Regel eine Gewichtung anhand von Risikofaktoren statt. 

Für Patienten mit Psychosen und Demenzen gehören zu diesen Risikofaktoren beispielsweise autonome Störungen, rasches Voranschreiten, Bewegungs- oder Bewusstseinsstörungen, das Vorliegen anderer Autoimmunerkrankungen (z. B. Hashimoto-Schilddrüsen­erkrankung) oder neurologische Ausfälle [3].

Sonstige Antikörper

Nicht unerwähnt bleiben sollen die „klassischen“ Antikörper gegen intrazelluläre Strukturen von Nervenzellen, z. B. Anti-Hu, -Yo (Abb. 2 E–F), -Ma2, -Ri oder -Amphiphysin. Sie können ebenfalls wichtigster diagnostischer Baustein einer Enzephalitis sein, sind aber nicht direkt die Auslöser der Erkrankung, da sie anders als die oben beschriebenen Antikörper nicht an neuronale Oberflächen binden. 

Bei diesen sogenannten onkoneuronalen Antikörpern liegt sehr häufig ein Tumorleiden zugrunde. Vor allem Mamma- oder Bronchialkarzinome, Lymphome, Melanome oder Ovarialkarzinome sind hier zu nennen.

Bei einigen Patienten spielen Tumoren für die Krankheitsentstehung eine besondere Rolle. Bei Frauen mit einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis liegt in ca. 30% ein Teratom der Eierstöcke zugrunde, dessen Zellen Nervengewebe mit NMDA-Rezeptoren exprimieren. Offenbar greift das Immunsystem den Tumor durch eine eigentlich positive Bildung von Antikörpern an, die dann aber auch überall dort Schaden anrichten, wo NMDA-Rezeptoren ursprünglich vorkommen. 

Eine zweite Ursache wurde kürzlich bei Patienten mit einer Herpes-Enzephalitis entdeckt [4]. In 20% der Fälle einer Hirnentzündung mit Herpes-simplex-Virus Typ 1 entwickeln Patienten nach wenigen Wochen erneut eine schwere Symptomatik, die an einen Rückfall erinnert. In Wirklichkeit kommt es dabei aber zu einer sekundären Bildung von NMDA-Rezeptor-Antikörpern, die eine Autoimmun-Enzephalitis auslösen. Bei Kindern führt diese zu Bewegungsstörungen, während bei Erwachsenen psychiatrische und Gedächtnisstörungen im Vordergrund stehen. Auch hier muss die zügige Labordia­gnostik die Abgrenzung einer viralen Genese (mittels PCR) und einer Antikörper-Enzephalitis (mit Zell-basierten Tests) erbringen, da sich die Therapie fundamental unterscheidet. 

Offenbar können auch andere Viren (Epstein-Barr-Virus, Hepatitis-Viren) zur Bildung von NMDA-Rezeptor-Antikörpern führen. Die interessanteste Frage ist daher, ob schon kleine Virusmengen oder sogar unbemerkte Infektionen ausreichen, das Immunsystem zur Bildung von Auto­antikörpern zu stimulieren. Vielleicht sind sogar milde klinische Syndrome darauf zurückzuführen, die bisher nicht als auto­immun interpretiert wurden, z. B. Unterformen von Gedächtnisstörungen, Fatigue oder Depressionen.

Ein Ende dieser Entwicklung ist noch nicht in Sicht. Jedes Jahr berichten mehrere Publikationen über die Entdeckung weiterer Antikörper bei Patienten mit besonderen klinischen Symptomen, sodass selbst Spezialisten kaum den Überblick über das rasch wachsende Spektrum behalten können. Sogar im Tierreich kommen diese Erkrankungen vor, z. B. Katzen mit LGI1-Antikörpern. Der wohl prominenteste Fall ist der Berliner Eisbär „Knut“, der nachweislich an einer Anti-NMDA-Rezeptor-Enzephalitis litt [5]. 

Es ist vorhersehbar, dass sich in der Labordiagnostik größere Antikörper-Panels immer weiter verbreiten. Oberste Priorität sollte es sein, das Ergebnis einer Antikörpertestung zuverlässig innerhalb weniger Tage zu liefern, da von diesem Befund oft sehr weitreichende Therapieentscheidungen abhängen.

Autor
Priv.-Doz. Dr. med. Harald Prüß
Klinik für Neurologie
Charité – Universitätsmedizin Berlin
Im Kontext
Aus der Rubrik