Autoimmunenzephalitis: Angriff aufs Gehirn
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.01.08Bei einer Autoimmunenzephalitis führt eine fehlgeleitete Immunreaktion gegen Selbstantigene, die im Gehirn exprimiert werden, zu Entzündungsreaktionen und in der Folge zu neurologischen und neuropsychiatrischen Symptomen. Bei Testung aller infrage kommenden neuronalen Antikörper kann man in der Diagnostik eine hohe kumulative Sensitivität von ca. 75 % erreichen. Da viele Formen der Autoimmunenzephalitis paraneoplastisch auftreten, ist immer auch ein Tumorscreening indiziert.
Schlüsselwörter: anti-NMDAR, indirekter Immunfluoreszenztest; Western Blot, Line-Assay
In Deutschland treten geschätzt 10 Fälle von autoimmuner Enzephalitis pro 1 Million Menschen pro Jahr auf. Es handelt es sich also um eine seltene Erkrankung, die aber ähnlich häufig auftritt wie ihre infektiösen Formen. Angesichts des z. T. sehr schweren Verlaufs und des häufigen Vorliegens einer Tumorerkrankung, ist eine schnelle und ausführliche differenzialdiagnostische Abklärung sinnvoll. Eine frühe Diagnose und Therapie verbessern das Outcome für die Betroffenen [1].
Pathophysiologie
Seit mehr als 50 Jahren ist bekannt, dass limbische Enzephalitiden als paraneoplastische neurologische Syndrome auftreten können und dabei häufig Antikörper gegen intrazelluläre Antigene von Nervenzellen (onkoneuronale Antikörper) gefunden werden. Seither wurden viele neue Zielstrukturen von onkoneuronalen Autoantikörpern, aber auch von tumorunabhängigen Autoimmunreaktionen gefunden – und es ist zu erwarten, dass auch weiterhin neue neuronale Autoantigene identifiziert werden.
Die Kreuzreaktivität zwischen tumorassoziierten Neo-Antigenen und neuronalen Strukturen ist sowohl pathophysiologisch interessant als auch klinisch relevant. Am Beispiel der erst 2007 beschriebenen Anti-NMDA-Rezeptor-assoziierten Enzephalitis soll hier der Pathomechanismus kurz skizziert werden: Die Neo-Expression von N-Methyl-D-Aspartat(NMDA)-Rezeptoren in Ovarialteratomen fungiert als Triggerfaktor, der eine fehlgeleitete Immunreaktion auslösen kann. Wie sich die fehlgesteuerte Immunreaktion dann weiterentwickelt, hängt offenbar von mehreren Faktoren ab. Bei intakter Blut-Hirn-Schranke können zwar die Antikörper in den Liquor gelangen, aber vermutlich keine antikörperproduzierenden Plasmazellen. Kommt es aber im Rahmen von Entzündungsreaktionen zu einer Störung der Blut-Hirn-Schranke, könnte die erhöhte Diffusion und der Übertritt von Plasmazellen die Symptomatik durch antagonistische Effekte der Antikörper auf Synapsen auslösen. Eine immunsuppressive Therapie und/oder eine Plasmapherese führen zu einer Reduktion der Autoantikörper und Reduzierung der Symptomatik.
Die neuen Therapieansätze in der Tumortherapie zur Aufhebung der Immunzell-Anergie durch Immun-Checkpoint-Inhibitoren können dagegen in einzelnen Fällen zu einer Verstärkung oder Induktion von onkoneuronalen Autoantikörpern und damit Autoimmunreaktionen führen. Bei diesen Patient:innen sollte daher bei entsprechender Symptomatik an paraneoplastische Syndrome (PNS) gedacht werden.
Klinik
Autoimmune Enzephalitiden können mit vielen psychiatrischen und neurologischen Symptomen einhergehen. Aggressivität, Gemütsschwankungen und Schlafstörungen finden sich z. B. häufig bei der anti-NMDAR-assoziierten Enzephalitis. Auch Einschränkungen der Kognition wie Desorientierung, Amnesie und Konfabulationen können auftreten. Zu den neurologischen Symptomen zählen u. a. Krampfanfälle, Bewegungsstörungen, Schmerz und Dysautonomie (z. B. Blutdruckschwankungen und Rhythmusstörungen) [2].
Die limbische Enzephalitis ist eine häufige Manifestation einer autoimmunen Enzephalitis. Hier finden sich psychiatrische Symptome oder eine Bewusstseinsstörung oft in Kombination mit meist fokalen epileptischen Anfällen und Gedächtnisstörungen. Bei den Betroffenen wird daher oft fälschlich ein Delir oder eine neurodegenerative Demenz diagnostiziert. Warnhinweise für eine mögliche autoimmune Enzephalitis sind z. B. rasch progrediente Bewusstseinsstörungen, gestörtes Kurzzeitgedächtnis, Lethargie und Persönlichkeitsveränderungen. Besonders ein erstmaliger Status epilepticus ist verdächtig für eine autoimmune Genese.
Differenzialdiagnostisch muss an infektiöse Enzephalitiden, insbesondere die HSV-Enzephalitis, gedacht werden. Dabei ist zu beachten, dass eine HSV-Enzephalitis in seltenen Fällen auch eine Autoimmunenzephalitis – v. a. anti-NMDAR-assoziiert – induzieren kann. Auch bei SARS-CoV-2-Infektionen wurde das Auftreten von Autoimmun-Enzephalitiden untersucht, jedoch keine signifikante Häufung gefunden [3]. Bei einigen Long-COVID-Betroffenen können zwar Autoantikörper und neurologische oder psychiatrische Auffälligkeiten gefunden werden, jedoch gibt es weder eine spezifische Symptomatik noch spezifische Autoantikörper, die für eine Autoimmunenzephalitis sprechen würden.
Weitere Differenzialdiagnosen sind Hirntumoren (insbesondere Temporallappen-Gliome), Creutzfeldt-Jakob-Krankheit, metabolische Enzephalitiden und Hashimoto-Enzephalopathie.
Therapeutisch steht bei allen paraneoplastischen Syndromen die Therapie des Tumors im Vordergrund. Eine frühe immunsuppressive Therapie verbessert den Outcome der Betroffenen unabhängig von der Genese.
Diagnostik
Bei einer Autoimmunenzephalitis ergeben sich Auffälligkeiten im Bereich der Temporallappen in der Magnetresonanztomographie (MRT) und in der Elektroenzephalografie (EEG). Entzündliche Veränderungen des Liquors sollten zur Bestimmung eines ausreichend weiten Spektrums an antineuronalen Antikörpern veranlassen [4, 5]. Differenzialdiagnostisch müssen auch infektiöse Ursachen oder eine Meningeosis carcinomatosa in Betracht gezogen werden.
Autoantigene finden sich auf verschiedenen neuronalen Zellen, auf verschiedenen Strukturen wie Axonen und Dendriten sowie sowohl intrazellulär als auch auf der Zellmembran (Oberflächenantigene); meist handelt es sich um Rezeptoren oder synaptische Gerüstproteine (Tab. 1).
Tab. 1: Auswahl wichtiger anti-neuronaler Autoantikörper (in Anlehnung an [1] und https://www.mayocliniclabs.com/test-catalog/Overview/92116).
Antigen | Lokalisation | Nachweismethode (Zweitmethode)* | Syndrom | Tumorassoziation |
---|---|---|---|---|
ANNA-1 / Hu | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | > 95 %; kleinzelliges BC |
ANNA-2 / Ri | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | kleinzelliges BC; Mamma-CA |
ANNA-3 | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | kleinzelliges BC |
Ma2/Ta (Ma1) | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | > 95 %; Hoden-CA |
PCA-1 / Yo | intrazellulär | IFA/Blot | Kleinhirndegeneration | Ovarial-CA, Mamma-CA |
PCA-2 | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | Ovarial-CA, Mamma-CA |
PCA-Tr | intrazellulär | IFA/Blot | Kleinhirndegeneration | M. Hodgkin |
CRMP-5 / CV2 | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | > 95 %; kleinzelliges BC |
Amphysin | intrazellulär | IFA/Blot | limbische E. | > 95 %; kleinzelliges BC |
GAD65 | intrazellulär | RIA/Immunoasssay | limbische E., Temporallappenepilepsie; Stiff-Person-Syndrom | ca. 25 %; Thymom; kleinzelliges BC |
NMDA-Rezeptor (GluN1) | Zelloberfläche | CBA/Blot | anti-NMDA-R-Encephalitis | ca. 40 %; Ovarial-CA |
LGl-1 | Zelloberfläche | CBA/Blot | limbische E. | ca. 10 %; Thymome |
CASPR2 | Zelloberfläche | CBA/Blot | limbische E. | bis 50 %; Thymome |
GABA-B-Rezeptor | Zelloberfläche | CBA/Blot | limbische E. | ca. 50 %; kleinzelliges BC |
AMPA-R. (mGluR1) | Zelloberfläche | IFA/Blot | limbische E. | ca. 60 %; Thymom; kleinzelliges BC |
mGluR5 | Zelloberfläche | CBA/Blot | limbische E. | 70 %; Hodgkin-Lymphome |
DPPX | Zelloberfläche | IFA/Blot | limbische E., Stiff-Person-Syndrom | < 10 %; Lymphome |
IgLON-5 | Zelloberfläche | IFA/Blot | Enzephalitis mit Schlafstörungen | nicht bekannt |
AGNA-1 (SOX1) | glial | IFA/Blot | LEMS, Kleinhirndegeneration | kleinzelliges BC |
* IFA = Immunfluoreszenzassay; Blot = Immunoblot; CBA = Cell based assay (i. d. R. IFA mit transfizierten Zellen); RIA = Radioimmunoassay
Ein Großteil der relevanten Autoantikörper kann zwar im Serum gefunden werden, trotzdem wird für eine komplette Diagnostik die gleichzeitige Einsendung von Liquor empfohlen. So können z. B. die anti-NDMRA-Autoantikörper in ca. 20 % der Fälle nur im Liquor nachgewiesen werden. Es wird diskutiert, dass zumindest in einigen Fällen eine autochtone Antikörperproduktion stattfindet. Insbesondere bei onkoneuronalen Autoantikörpern handelt es sich aber in erster Linie um passiv übergetretene Antikörper: Die Induktion der Antikörperproduktion geschieht durch den Tumor in der Peripherie und damit werden auch antikörperproduzierende B-Zellen v. a. in der Peripherie bleiben. Wie schon erwähnt gibt es Hinweise darauf, dass in einigen Fällen Autoantikörper-produzierende Plasmazellen die Blut-Hirn-Schranke überqueren.
Methodisch ist der Nachweis neuronaler Autoantikörper anspruchsvoll und sollte daher auch nach den Empfehlungen der Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Neurologie (DGN) in einem in der Diagnostik erfahrenen Labor erfolgen. Auch sollte das Ergebnis immer mit einer zweiten unabhängigen Labormethode bestätigt werden. Der Erstansatz ist meist der indirekte Immunfluoreszenztest auf Kryostatschnitten von verschiedenen Hirnarealen und/oder auf transfizierten Zelllinien. Als Zweitmethode haben sich Immunoblot und Line-Assay etabliert; für einige Antigene gibt es auch ELISAs. Bei jedem Verdacht auf eine Autoimmunenzephalitis, insbesondere bei PNS, sollte auf alle bekannten etablierten und gut charakterisierten Antikörper untersucht werden [6].
Ziel der Autoantikörperdiagnostik ist eine optimale diagnostische Spezifität und Sensitivität unter ökonomischen Gesichtspunkten. Für jedes Serum sollte ein Screening mittels Immunhistochemie sowie mit Western-Blot erfolgen. In der Immunhistochemie werden meist Schnitte aus unterschiedlichen Hirnbereichen verwendet, z. B. Ratten-Kleinhirn und Ratten-Hirnstamm, jeweils mit zentralen Neuronen, Plexus myentericus (mit peripheren Neuronen) und Hep-2-Zellen zum Ausschluss von ANA. Je nach gesuchter Antikörper-Reaktivität reagieren bestimmte Hirnregionen und Fixationsmethoden sensitiver oder weniger sensitiv. Western-Blots sind mit Neuronenextrakten oder kommerziell verfügbaren rekombinanten Proteinen erhältlich. Auch hier kann es je nach Testsystem zu unterschiedlicher Sensitivität und Spezifität einzelner Reaktionen kommen. Die initiale Serumverdünnung liegt je nach Testverfahren meist zwischen 1 : 50 und 1 : 200. Der diagnostisch relevante Cut-off kann sich ebenfalls bei verschiedenen Tests unterscheiden. Bemühungen, eine Standardisierung dieser Autoantikörper zu erreichen, zeigen Erfolge und Ringversuche sind seit einigen Jahren erhältlich. Die Laborergebnisse sind aber weiterhin zwischen verschiedenen Methoden, Herstellern und damit Laboren eingeschränkt vergleichbar.
Es gibt Hinweise darauf, dass Assays mit vitalen Zellen die Autoantikörper-Diagnostik möglicherweise verbessern könnten. Diese Assays sind wenig standardisiert und nur in entsprechenden Forschungslaboren vorhanden. In besonderen Antikörper-negativen Fällen mit überzeugender klinischer Symptomatik kann hier eine weitere Abklärung in Betracht gezogen werden [2].