Thrombotische Mikroangiopathien: Interdisziplinäre Zusammenarbeit gefragt!
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.04.08Thrombotische Mikroangiopathien sind seltene, potenziell lebensbedrohliche Erkrankungen mit vielfältiger Ätiologie. Sie präsentieren sich klinisch als Trias aus mikroangiopathischer hämolytischer Anämie, Thrombozytopenie sowie variablen Organdysfunktionen, typischerweise in Form von akutem Nierenversagen oder neurologischen Defiziten, bedingt durch thrombotische Verschlüsse der Mikrozirkulation. In den letzten Jahren wurden bedeutende Fortschritte erzielt, die zur Entdeckung wichtiger zugrunde liegender Pathomechanismen geführt und somit die Entwicklung gezielter therapeutischer Ansätze ermöglicht haben.
Schlüsselwörter: Thrombotische Mikroangiopathie, TMA, thrombotisch-thrombozytopenische Purpura, TTP, ADAMTS13, hämolytisch-urämisches Syndrom, HUS
Der Begriff thrombotische Mikroangiopathie (TMA) beschreibt eine äußerst vielfältige Gruppe von Erkrankungen mit unterschiedlicher Pathophysiologie, die mit erheblicher Morbidität und Mortalität (unbehandelt bis zu 90 %) verbunden sind. Trotz der Diversität der zugrunde liegenden Krankheiten sind TMA durch gemeinsame, charakteristische klinische und pathologische Merkmale miteinander verbunden. Klinisch zeigen sie sich als Trias von mikroangiopathischer hämolytischer Anämie (MAHA), Thrombozytopenie und ischämischen Organschäden. Die pathologischen Merkmale manifestieren sich durch Endothelschäden und mikrovaskuläre Thrombosen in kleinen Arteriolen und Kapillaren [1].
Die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP) und das hämolytisch-urämische Syndrom (HUS), zu dem auch das klassische Shigatoxin-assoziierte HUS (STEC-HUS) und das komplementvermittelte HUS (CM-HUS oder atypische HUS) gehören, gelten traditionell als primäre Formen der TMA. Sie treten jedoch häufiger in Verbindung mit einer Schwangerschaft oder einer koexistierenden Erkrankung wie einer Infektion, einer Autoimmunerkrankung oder malignem Bluthochdruck auf. Die Identifizierung der zugrunde liegenden Ätiologie ist zwingend erforderlich, um adäquate Therapiestrategien rasch einleiten zu können.
Um die klinische Entscheidungsfindung zu erleichtern und zukünftige Studien zu unterstützen, hat die internationale Arbeitsgruppe zu TTP und den damit verbundenen TMA ein Konsensus-Dokument erstellt [2]. Dieser Konsens umfasst klare Definitionen sowie die Klassifizierung der Ursachen von TMA (Abb. 1).
Klinisches Bild
Die klinischen Leitsymptome von TMA sind hämolytische Anämie, Thrombozytopenie sowie ischämische Organschäden. Die Symptome der Organdysfunktion sind sehr variabel und hängen vom auslösenden Agens ab. Charakteristischerweise treten zum Beispiel bei TTP neurologische Ausfallserscheinungen auf, die von Kopfschmerzen, Desorientiertheit und Schwindel bis zu Schlaganfall und Koma reichen, während beim HUS eine akute Nierenschädigung und Bluthochdruck die führende Symptomatik darstellt [3]. Die EHEC-assoziierte TMA tritt in der Regel fünf bis sieben Tage nach einer hämorrhagischen Gastroenteritis auf [4]. Durch die ischämisch bedingte Mikrozirkulationsstörung können aber nahezu alle Organe betroffen sein und dementsprechend kardiale, respiratorische, visuelle oder gastrointestinale Symptomatik auftreten [5].
Pathogenese
Der zentrale Pathomechanismus der TMA liegt in der Schädigung des Endothels in der Mikrozirkulation, was zum Verlust der physiologischen antithrombotischen Eigenschaften des Endothels führt. Dieser Prozess beinhaltet die massive Freisetzung von Von-Willebrand-Faktor (VWF) aus dem geschädigten Endothel, die Aktivierung und Adhäsion von Thrombozyten und Leukozyten sowie den Verbrauch des Komplementsystems, was zur Bildung von plättchenreichen Thromben beiträgt. Dies wiederum führt zu einem erhöhten Scherstress und mechanischer Hämolyse mit der Bildung von Fragmentozyten (Abb. 2).
Thrombotisch-thrombozytopenische Purpura (TTP)
Die thrombotisch-thrombozytopenische Purpura ist durch einen schweren Mangel an ADAMTS13-Aktivität (< 10 %) gekennzeichnet. Die kongenitale Form (cTTP; auch bekannt als Upshaw-Schulman-Syndrom) entsteht durch Mutationen im ADAMTS13-Gen auf Chromosom 9q34 [6]. Häufiger ist die TTP jedoch erworben und durch IgG-Autoantikörper gegen ADAMTS13 verursacht. Sie wird dann als immunvermittelte TTP (iTTP) bezeichnet [2, 7]. Der schwere Mangel an ADAMTS13 (Aktivität < 10 %), der für die Regulierung der Multimerenstruktur des VWF verantwortlich ist, führt zu der Akkumulation von hyperadhäsiven, ungewöhnlich großen VW-Multimeren (UL-VWF). Es kommt zur spontanen Thrombozytenadhäsion-/aggregation an VWF, was zur Bildung von plättchenreichen Thromben innerhalb der Arteriolen und Kapillaren mit der Folge einer disseminierten mikrovaskulären Ischämie führt.
Hämolytisch-urämisches Syndrom (HUS)
Die häufigste Form des HUS, die 90 % der Fälle ausmacht – das klassische HUS – wird durch eine direkte Schädigung des Endothels und Aktivierung des Komplementsystems durch Infektionen mit Shigatoxin produzierenden Escherichia coli (STEC) hervorgerufen. Shigatoxin transloziert aus dem Darm in den Blutkreislauf und bindet an das Globotriaosylceramid 3 (Gb3). Über den Gb3-Rezeptor, der in der Niere stark exprimiert wird, gelangt es in die Endothelzellen und hemmt dort die Proteinsynthese. Dies führt dann zur Schädigung des Endothels und zu einer gesteigerten Freisetzung von inflammatorischen Zytokinen, Gewebe- sowie von Von-Willebrand-Faktor [4]. Das atypische HUS (aHUS) wird klinisch nach Ausschluss anderer Ursachen für eine TMA diagnostiziert. aHUS wird durch eine Dysregulation des alternativen Komplementwegs verursacht, die entweder erworbenen oder genetischen Ursprungs ist. Die häufigsten Komplementregulationsdefekte betreffen die Gene für Faktor H, Faktor I, Faktor B, C3 sowie MCP (membrane cofactor protein) oder entstehen durch Autoantikörper gegen Faktor H [2, 8].
Tab. 1: Pathophysiologie und Therapie nach TMA-Ätiologie (modifiziert nach [1, 3]).
Ätiologie | Pathophysiologie/klinische Besonderheiten | Therapie |
---|---|---|
cTTP (Upshaw-Schulman-Syndrom) | ADAMTS13-Mangel; autosomal rezessiv; Komplementaktivierung potenziell involviert; Erstdiagnose typischerweise im Kindesalter, selten bei Erwachsenen; Schwangerschaft als Trigger; selten akute Nierenschäden | Plasmainfusion |
iTTP | Erworbener ADAMTS13-Mangel durch ADAMTS13-Autoantikörper, Komplementaktivierung potenziell involviert | TPE; Caplacizumab; Steroide/Rituximab; Bortezomib, bei Refrakterität ggf. Bortezomib |
Hereditäre CM-TMA | Unkontrollierte Aktivierung des alternativen Komplementwegs, Mutationen in CFH, CFI, CFB, C3, MCP-Genen | Eculizumab oder Ravulizumab; TPE vs. Plasmainfusionen; Lebertransplantation |
Erworbene CM-TMA | Dysregulation des Komplementsystems durch zirkulierende Autoantikörper gegen Faktor H | Eculizumab oder Ravulizumab; TPE; Rituximab oder Cyclophosphamid |
Metabolisch: Cobalamin-Mangel | Homozygote Mutationen in MMACHC-Gen, typischerweise bei Kindern < 1 Jahr | Vitamin B12, Folsäure |
Gerinnungs-abhängige TMA | Dysregulation von Endothelzellen durch Thrombomodulin , DGKE-, Plasminogenmutationen (PLG, THBD, DGK ε) | Experimentell Eculizumab; ggf. Plasmapherese |
Hypertensiver Notfall | Mechanischer Scherstress | Kontrolle des Blutdrucks |
Arzneimittel-induziert | Immunvermittelt: Entwicklung von Autoantikörpern gegen ADAMTS13 (z. B. Ticlopidin) gegen Blutplättchen oder Endothelzellen (z. B. Chinin); nicht-immunvermittelt: endotheliale Toxizität (z. B. Gemcitabin) | Medikament absetzen; supportive Maßnahmen; TPE in iTTP, experimentell Eculizumab |
Tumor-assoziiert | Endotheliale Dysfunktion; intravaskuläre Tumorembolie; Aktivierung des Gerinnungs- und Komplementwegs | Chemotherapie |
Infektionsassoziiert | ||
STEC-HUS | Gerinnung und Komplementaktivierung über Shigatoxin; typischerweise 5–7 Tage nach hämorrhagischer Kolitis | Supportive Maßnahmen |
S. Pneumoniae; viral | Dysregulation des Komplementsystems impliziert | Supportive Maßnahmen einschließlich Antibiotika |
SARS-CoV-2 | Dysregulation des Komplementsystems; Zytokin-Sturm; iTTP | Supportive Maßnahmen; Steroide; Remdesivir; Tocilizumab, Baricitinib |
Schwangerschaftsassoziiert | ||
Präeklampsie/ HELLP-Syndrom | Ungleichgewicht der Antiangiogenese; Dysregulation des Komplementsystems; Transaminaseerhöhung, Krampfanfälle, Hypertonus | Supportive Maßnahmen, Entbindung |
Transplantationsassoziiert | ||
HSCT | Multifaktoriell (genetische Veranlagung, Konditionierungsschema und Auslöser) | Supportive Maßnahmen, Anpassung der Immunsuppression/ Chemotherapie |
Nierentransplantation | Multifaktoriell (rezidivierende oder de novo Erkrankung, medikamenteninduzierte, Antikörper-vermittelte Abstoßung, Infektion) | Gerichtet auf die zugrunde liegende Ursache (Antibiotika/Virostatika, Anpassung der Immunsuppression oder Eculizumab/TPE) |
Autoimmunerkrankungen | ||
APS, einschließlich CAPS | Unklar, kann aber genetische Veranlagung und zirkulierende Antikörper beinhalten | Antikoagulation; Immunsuppression und IVIg oder TPE; bei Refraktärität ggf. Rituximab oder Eculizumab |
SLE | Unklar, Komplementaktivierung impliziert | Immunsuppression; TPE für schwere Fälle; bei Refraktärität ggf. Eculizumab |
Labordiagnostik
Typischerweise liegt eine Coombs-negative hämolytische Anämie mit Retikulozytose, Haptoglobinverminderung, freiem Hämoglobin, erhöhtem indirekten Bilirubin, erhöhter Lactatdehydrogenase sowie eine unterschiedlich ausgeprägte Thrombozytopenie vor. Typisch ist der Nachweis von Fragmentozyten im Blutausstrich. Eine Nierenbeteiligung führt zu erhöhtem Serum-Kreatinin, Oligo- oder Anurie und Hämolyse-induzierter Hämoglobinurie. Im Falle kardialer Komplikationen kommt es zum Anstieg der Herzenzyme (Troponin T, CK und CK-MB). Die Differentialdiagnose der TMA stellt häufig eine diagnostische Herausforderung dar, da nur begrenzte krankheitsspezifische Tests verfügbar sind. Abb. 3 bietet einen umfassenden diagnostischen Algorithmus.
In der Regel können Basisuntersuchungen bereits einige wesentliche Differentialdiagnosen ausschließen. Zum Beispiel sind verlängerte Gerinnungstests (PTT, PT) und niedrige Fibrinogenwerte charakteristisch für disseminierte intravaskuläre Gerinnung (DIC), jedoch nicht für TTP und HUS. Eine ausgeprägte Thrombozytopenie (Thrombozytenzahl < 30 x 109/l) ist für TTP wegweisend, wohingegen die TMA höchstwahrscheinlich als HUS klassifiziert wird, wenn die führende Symptomatik eine schwere Nierenschädigung ist. Die Unterscheidung zwischen TTP und HUS beruht jedoch auf der Bestimmung der ADAMTS13-Aktivität. Bei dringendem klinischen Verdacht auf TTP sollte daher vor Beginn der lebensrettenden Plasmatherapie die ADAMTS13-Diagnostik durchgeführt werden. Dies umfasst die Bestimmung von ADAMTS13-Aktivität und -Antigen sowie den Nachweis von Anti-ADAMTS13-Autoantikörpern. Die Identifizierung von IgG-Antikörpern gegen ADAMTS13 kann zwischen angeborener und erworbener TTP unterscheiden. Bei fehlendem Nachweis von Anti-ADAMTS13-Autoantikörpern sollte die Genotypisierung des ADAMTS13-Gens in Betracht gezogen werden. Eine ADAMTS13-Aktivität < 10 % ist diagnostisch für TTP.
Wenn die Plasma-ADAMTS13-Aktivität jedoch über 10 % liegt, sollte die Diagnose eines HUS erwogen werden, insbesondere wenn andere sekundäre Ursachen einer TMA ausgeschlossen werden konnten. Eine zunehmend wichtige Rolle spielt hierbei die Bestimmung von Defekten im Komplementweg (C3, C4, CH50, löslicher Komplementkomplex (sC5b-9)) sowie die Genanalyse von Mutationen im CFH-, CFI-, CFB-, CFHR-1 und MCP-Gen [9]. Bei Patient:innen mit Durchfall sollte eine Stuhlprobe für eine Kultur und einen Shigatoxin-Nachweis eingeschickt werden. Bei Kindern mit ungeklärter TMA sollten die Homocystein-, Methionin- und Methylmalonsäure-Spiegel überprüft werden und gegebenenfalls die Genotypisierung der Diacyl-Glycerol-Kinase-Epsilon (DGKE)- und der Methylmalonsäure-und-Homocystein-Typ-C (MMACHC)-Gene veranlasst werden [1].
Therapie
TTP und HUS werden als hämatologische Notfälle betrachtet. Gemäß den aktuellen Leitlinien sollte bei dringendem Verdacht auf TTP innerhalb von vier bis acht Stunden ein therapeutischer Plasmaaustausch (TPE) eingeleitet werden [8, 9]. Der PLASMIC-Score hilft, die Wahrscheinlichkeit einer TTP abzuschätzen und unterstützt somit die Entscheidung über eine empirische Behandlung. Der PLASMIC-Score setzt sich aus sieben Komponenten zusammen, wobei für jeden der beschriebenen Parameter ein Punkt vergeben wird (Tab. 2).
Tab. 2: Plasmic-Score prognostiziert die Wahrscheinlichkeit eines schweren ADAMTS13-Mangels bei einem Verdacht auf TTP (modifiziert nach [10, 11]).
Parameter | Punkt |
---|---|
Thrombozytenzahl < 30 × 109/l | 1 |
Hämolyse (indirektes Bilirubin > 2 mg/dl, unkorrigierte Retikulozyten > 2,5 % oder Haptoglobin unterhalb der Nachweisgrenze) | 1 |
Keine aktive Tumorerkrankung im letzten Jahr | 1 |
Keine solide Organ- oder Stammzelltransplantation in der Vorgeschichte | 1 |
MCV („mean cell volume“) < 90 fl | 1 |
INR (International Normalized Ratio) < 1,5 | 1 |
Serumkreatinin < 2,0 mg/dl | 1 |
Wahrscheinlichkeit eines schweren Mangels an ADAMTS13-Aktivität (< 10 %) | 0–4: 0–4 %, 6: 5–24 %, 6–7: 72–82 % |
Bei einem Score von sechs bis sieben Punkten beträgt der positive prädiktive Wert für das Vorliegen einer TTP 72 %, der negative prädiktive Wert 98 % (Sensitivität: 90 %, Spezifität: 92 %) [10, 11]. Der Plasmaaustausch stellt die Standardtherapie der erworbenen TTP dar. Dabei erfolgt gleichzeitig die Substitution des fehlenden ADAMTS13 und die Entfernung der vorhandenen Autoantikörper. Eine Immunsuppression mit Kortikosteroiden wird empfohlen, und ein früher Einsatz von Rituximab sollte in Betracht gezogen werden.
Seit September 2018 ist der spezifische humanisierte Nanoantikörper Caplacizumab, der die Bindung von Thrombozyten an die A1-Domäne der VWF-Multimere verhindert, als Zusatztherapie zum Plasmaaustausch bei erworbener TTP zugelassen. Beim Verdacht auf ein komplementvermitteltes HUS (CM-HUS) sollte eine empirische Behandlung mit einem C5-Inhibitor eingeleitet werden. Zur Behandlung des CM-HUS sind zwei humanisierte, monoklonale Antikörper zugelassen, Eculizumab und Ravulizumab, die durch Bindung an C5 die Entstehung des terminalen Komplementkomplexes blockieren [12].
Fazit
In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich der Wissensstand zu thrombotischen Mikroangiopathien trotz ihrer Seltenheit enorm erweitert. Dies ermöglichte die Entwicklung von gezielten Therapeutika für TMA, die wiederum die Morbidität und Mortalität deutlich verringert haben. Der Einsatz gezielter Therapien macht jedoch eine rasche und präzise Diagnose erforderlich, insbesondere sind ADAMTS13-Testverfahren essenziell bei der schnellen Differentialdiagnose zwischen TTP und HUS. Die Etablierung von ADAMTS13-Diagnostik im Routinelabor, damit die Ergebnisse innerhalb von Stunden vorliegen, würde einen großen Beitrag zur Differentialdiagnose von thrombotischen Mikroangiopathien leisten. Angesichts der Komplexität dieser lebensbedrohlichen Erkrankungen ist eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, vorzugsweise an spezialisierten Zentren, unerlässlich, um Diagnose und Therapieentscheidungen zu