Biologische, psychische und soziale Faktoren sind bei der Entstehung und Aufrechterhaltung von chronischen Schmerzen beteiligt. Insofern ist Schmerz ein komplexes bio-psycho-soziales Phänomen, geprägt durch Körpererleben, Gefühle, Gedanken, Verhalten, Lebenshintergrund und sozialen Kontext. „Schmerz belastet die Psyche, aber psychische Belastungen können auch den Schmerz deutlich verstärken und befördern“, erklärte Dr. med. Silvia Maurer, Bad Bergzabern, Tagungspräsidentin des Deutschen Schmerz- und Palliativtags 2021. Ein ähnlicher Zusammenhang gelte für die soziale Ebene: „Patienten, die jetzt in der COVID-19-Pandemie in Einsamkeit leben, empfinden ihren Schmerz deutlich stärker als Patienten, die ein gut funktionierendes soziales Netzwerk haben“, verdeutlichte die Vizepräsidentin der Deutschen Gesellschaft für Schmerzmedizin (DGS). Dies hat sich auch in einer Befragung an der Schmerzklinik Wuppertal gezeigt, die Dr. Thomas Cegla, Wuppertal, Vizepräsident der DGS, vorstellte. 44 % der Patienten gaben an, ihre Schmerzen hätten in der Pandemie zugenommen, 70 % meldeten eine Stimmungsverschlechterung. Gleichzeitig stehen viele Therapieangebote nur eingeschränkt zur Verfügung oder Patienten nehmen sie aus Angst vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus nicht wahr. Auch Treffen von Selbsthilfegruppen waren/sind im Lockdown nicht möglich. So wurde „vielen chronischen Schmerzpatienten der Boden unter den Füßen weggezogen; durch diese Einschränkungen hat das Ausmaß des Leidens unter den chronischen Schmerzpatienten dramatisch zugenommen“, so PD Dr. Michael A. Überall, Nürnberg, ebenfalls DGS-Vizepräsident.
Eine COVID-19-Infektion verschlechtert die Situation der Schmerzpatienten zusätzlich. Prof. Dr. Dieter F. Braus, Wiesbaden, erläuterte die bidirektionale Beziehung zwischen COVID-19 und psychischen Erkrankungen. Menschen mit psychischen Erkrankungen, die bei chronischen Schmerzpatienten vermehrt auftreten, erkrankten häufiger an COVID-19, und in der Folge einer Infektion komme es oft zu psychiatrischen Symptomen. Bereits während der akuten Infektion würden bei vielen Patienten Depressionen sowie Angst- und Schlafstörungen auftreten, doch auch danach leiden viele Patienten weiter, meist unter Fatigue.
Als sinnvoll in der Pandemie erachten die Experten die Nutzung von Telefon- oder Videosprechstunden sowie digitaler Angebote, wie verschiedene bereits zugelassene digitale Gesundheitsanwendungen zur Behandlung depressiver Symptome.
PraxisRegister Schmerz
Darüber hinaus und auch unabhängig von der Pandemie sei es wichtig, die Schmerzen in allen Facetten zu erfassen und bei Diagnose und Therapie nicht nur auf organische Dinge zu achten, sondern auch auf Lebenshintergrund, soziale Faktoren und Komorbiditäten wie z. B. Depression, Angststörungen oder posttraumatische Belastungsstörungen, forderte Maurer. Hilfreich hierfür seien das PraxisRegister Schmerz und die diesem zugrunde liegende Online-Plattform iDocLive® der DGS für alle DGS-Mitglieder und Schmerzpatienten. Komplementär gibt es die Patientenplattform mein-schmerz.de. Anhand von Schmerzfragebögen wird die Kommunikation zwischen Schmerztherapeut, Patient und weiteren Behandlern erleichtert sowie die Versorgung optimiert.
Curriculum zur psychosomatischen Grundversorgung
Zusätzlich verwies Maurer auf die Kooperation der DGS mit der Deutschen Gesellschaft für Psychosomatische Me-dizin und Ärztliche Psychotherapie
(DGPM). Die beiden Gesellschaften haben gemeinsam ein Curriculum zur psychosomatischen Grundversorgung erarbeitet, das laut Maurer auch im Nachgang an den Schmerzkongress angeboten wird. „Jeder Haus- oder Facharzt kann die psychosomatische Grundversorgung durchführen“, ermunterte sie zur Teilnahme.
Sabrina Kempe
Pressekonferenz „Individualisierung statt Standardisierung – wie Schmerzpatienten sicher versorgt werden können“ im Rahmen des Deutschen Schmerz- und Palliativtags 2021 am 09.03.2021.