Morbus Waldenström – Pathobiologie und Therapie
In den letzten Jahren sind erhebliche Fortschritte im Verständnis der Pathogenese des Morbus Waldenström erzielt worden. So wissen wir, dass diese seltene Lymphom-Erkrankung, die durch eine Knochenmarksinfiltration mit einem lymphoplasmozytischen Lymphom und dem Nachweis einer monoklonalen IgM-Produktion gekennzeichnet ist, in ihrem Wachstum von Mutationen im MYD88- und CXCR4-Gen abhängt. Bei Vorliegen einer MYD88-Mutation erreichen Patienten unter Ibrutinib hohe Ansprechraten, wohingegen die aktivierende CXCR4-Mutation zu einer deutlichen Abnahme des Therapieansprechens auf Ibrutinib führt. Einblicke in die Biologie des Morbus Waldenström haben zur klinischen Testung weiterer innovativer Substanzen geführt, etwa der CXCR4-Antagonisten.
Morbus Waldenström, MYD88-L265P-Mutation, CXCR4-Mutation, monoklonale IgM-Gammopathie, Neuropathie, Bendamustin, Rituximab, Dexamethason, Cyclophosphamid, Doxorubicin, Vincristin, Prednison, Ibrutinib, Bortezomib, Acalabrutinib, Zanubrutinib, Ulocuplumab, Mavorixafor, Venetoclax, Daratumumab
Einleitung
Eines der Hauptziele der Krebsforschung besteht darin, zugrunde liegende Mechanismen, die das Tumorwachstum initiieren und aufrechterhalten, zu verstehen. Mit diesem Wissen können letztendlich innovative therapeutische Konzepte entwickelt und die Patientenversorgung langfristig verbessert werden. Dies ist bei der Erkrankung Morbus Waldenström (MW) in den letzten Jahren gelungen. MW gehört zur Gruppe der indolenten B-Zell-Lymphome und ist durch monoklonales Immunglobulin M (IgM) im Serum und klonale lymphoplasmozytische Zellen im Knochenmark gekennzeichnet [1]. Durch umfassende molekulare Analysen ist es gelungen, die molekularen Eigenschaften dieser Erkrankung detailliert zu beschreiben und zwei häufig vorkommende mutierte Gene zu identifizieren: MYD88 und CXCR4. Das MYD88-Gen ist durch eine nahezu konstante Punktmutation, die bei über 90 % der Patienten vorhanden ist, gekennzeichnet, während CXCR4 über 40 verschiedene Mutationen aufweist, die bei bis zu 40 % der Patienten vorkommen.
Interessanterweise sind beide Muta-tionen aktivierende Mutationen, die im Fall von CXCR4 zu einer dauerhaften Aktivierung und permanenten Signalübertragung des Chemokinrezeptors führen [2–4]. Diese Forschungsergebnisse erlauben es heute, den MW in unterschiedliche Genotypen einzuordnen, die eine Vorhersage hinsichtlich des An-sprechens auf den BTK-Inhibitor Ibrutinib erlauben. Zudem haben diese Erkenntnisse dazu geführt, dass weitere innovative Therapiekonzepte wie die Inhibierung von CXCR4 durch CXCR4-Antagonisten derzeit bei Patienten mit MW in klinischen Studien getestet werden. Damit ist der MW eine Lymphom-Erkrankung, bei der das vertiefte
Verständnis der Biologie eine individualisierte, Genotyp-orientierte Therapie ermöglicht hat.
Morbus Waldenström – die Skylla unter den Lymphomen
Klinische Merkmale
76 Jahre sind vergangen, seit Jan Waldenström über eine Krankheit berichtete, die später nach ihm benannt wurde [5]. Bereits einige Jahre zuvor hatten Bing und Neel über drei Fälle mit Makroglobulinämie und einer Infiltration von malignen B-Lymphozyten des zentralen Nervensystems (ZNS) berichtet. Diese Fälle mit einem Befall des ZNS werden als Bing-Neel-Syndrom bezeichnet [6, 7]. Noch heute wird MW als klinisch-pathologische Einheit definiert, die durch das Vorhandensein eines lymphoplasmo-zytischen Lymphoms im Knochenmark (KM) und einen erhöhten monoklonalen Serum-IgM-Spiegel gekennzeichnet ist [8].
Die zelluläre Zusammensetzung des Morbus Waldenström zeigt ein Skylla-ähnliches heterogenes Bild und umfasst zwei Zelltypen: maligne Lymphozyten und Plasmazellen. Das klinische Bild ist entsprechend heterogen und durch konstitutionelle Symptome wie Anämie und Müdigkeit sowie IgM-bedingte Symptome wie Hyperviskosität oder Neuropathie gekennzeichnet [1]. MW ist eine seltene Erkrankung, mit einer Inzidenzrate von 4 bis 7 pro 1 Million europäischer Frauen und Männer pro Jahr [9]; die Erkrankung macht 1 % aller lymphatischen Neoplasien aus [10]. MW betrifft häufig ältere Menschen und tritt bei Männern häufiger auf als bei Frauen, und bei Kaukasiern häufiger als bei Afroamerikanern [11].
Die Ursache der unheilbaren Krankheit ist bisher unbekannt. Eine hohe familiäre Inzidenz ist jedoch naheliegend, da ungefähr ein Viertel der Patienten Familienmitglieder mit einer Vorgeschichte von lymphoproliferativen Neoplasien hat [12]. MW geht häufig auf eine monoklonale Gammopathie unklarer Signifikanz (MGUS) zurück [13] und kann in ein aggressives diffus großzelliges B-Zell-Lymphom (DLBCL) transformieren [14]. Die Gesamtüberlebensrate (OS-Rate) beim MW liegt nach 10 Jahren bei etwa 40 %, mit einem Durchschnittsalter von 69 Jahren bei Diagnose. Haupttodesursachen sind Infektionen, Progression, Transformation in ein hochgradiges Lymphom oder therapiebedingte Komplikationen [15].
Genetische Landschaft des MW
Array-basierte genomische Hybridisierungsanalysen konnten zeigen, dass 83 % der MW-Patienten Chromosomenanomalien aufweisen. Dabei sind Deletionen von Chromosom 6q 21-25 die am häufigsten beobachtete Aberrationen, die jeden zweiten Patienten betreffen [16]. Zweithäufigste Aberration ist ein 6p-Gewinn bei etwa jedem fünften Patienten, der oft auf eine 6-Arm-Deletion folgt [17].
Weitere zytogenetische Aberrationen umfassen 13q14- und 17p-Deletionen sowie Trisomie 4, 12 und 18 [18]. Auch microRNAs spielen eine Rolle in der Biologie des MW, ebenso wie epigenetische Veränderungen, die zu verminderten Expressionen bestimmter microRNAs wie miRNA-9* führen [19].
Sequenzierungen des Gesamtgenoms von Patienten mit MW haben zur Identifizierung hochrekurrenter somatischer Mutationen in zwei Genen, MYD88 und CXCR4, geführt [18]. MYD88-Mutationen treten bei über 90 % der Patienten mit MW hauptsächlich monoallelisch auf und sind bei Weitem am häufigsten, jedoch nicht spezifisch für diesen Lymphom-Subtyp [20]. MYD88-Mutationen werden, wenn auch seltener, beim diffus großzelligen B-Zell-Lymphom (DLBCL), Marginalzonen-Lymphom (MZL) und der chronisch lymphatischen Leukämie (CLL) festgestellt. Das Vorhandensein der Mutation ermöglicht jedoch eine Differenzierung zu anderen Lymphomen wie dem IgM-Multiplen Myelom (MM), bei dem praktisch keine MYD88-Mutation auftritt [21].
Die mit Abstand häufigste Mutation verändert die Nukleotidbase T durch C an Position 265 (MYD88-Punktmutation L265P). MYD88 ist ein Proteinadapter, der an den Signalwegen des Toll-like-Rezeptors (TLR) und des IL-1-Rezeptors beteiligt ist und zu einer konstitutiven Aktivierung von BTK (Bruton-Tyrosinkinase) führt. BTK ist in der Lage, den NF-κB-Signalweg zu aktivieren, wodurch Immunantwort, Zellproliferation und Zelltod reguliert werden. Damit spielt BTK eine wichtige Rolle als onkogener Faktor bei der Entwicklung maligner Lymphome [22].
Die zweithäufigste Mutation beim MW betrifft das CXCR4-Gen: Mutationen in diesem Gen werden bei bis zu 40 % der Patienten gefunden, mit insgesamt mehr als 40 verschiedenen beschriebenen Mutationen [23]. Der betroffene Bereich erstreckt sich von Aminosäureposition 308 bis 352 und betrifft ausschließlich die regulatorische zytosolische Domäne des Rezeptors. Im Gegensatz zu MYD88 können mehrere CXCR4-Mutationen gleichzeitig auftreten, da die Mutationen subklonal vorliegen [18]. Die am häufigsten (50 %) mutierte Region ist die Aminosäure S338X an Position 1013 mit Nukleotid-Veränderungen von C > G in 54 % und C > A in 25 % der Fälle, die in beiden Fällen zu einem Stopcodon führen. An dritter Stelle ist die S338-Frameshift-Mutation zu nennen, die in 21 % der Fälle beobachtet wird. Fast alle beschriebenen Mutationen führen beim MW zu einem Stopcodon oder einer Leserasterverschiebung (frameshift), die aber alle die Internalisierung des CXCR4 nach Ligandenbildung beeinträchtigen und damit die Signalübertragung nach Bindung des Chemokin-Liganden CXCL12 verlängern [2]. Die Hauptsignalachse, die durch CXCR4-Mutationen verändert ist, fördert eine verstärkte AKT(Proteinkinase B)- und die anschließende MAPK 1/2-Signalisierung, was zu anhaltenden Überlebenssignalen für die Krebszellen führt (Abb. 1) [24].