Genetische Durchbrüche in der Blutgruppenanalyse - Jenseits der traditionellen Serologie

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2024.02.04

Transfusionsmedizin kann nicht ohne genetische Techniken gedacht werden, insbesondere nicht in der Blutgruppen­analytik, die auf exakte Ergebnisse angewiesen ist. Gleichwohl hat die Genetik die Blutbank nicht im Sturm erobert. Warum nicht?

Schlüsselwörter: AB0, Rhesusfaktor, Sichelzellanämie, CD38-Antikörper, personalisierte Medizin

Von der Serologie zur Genomik: Eine neue Grenze

Der Weg der genetischen Techniken in der Blutgruppenanalyse hat dem Humangenomprojekt (HGP) viel zu verdanken. Das HGP aus den frühen 1990er-Jahren wurde 2003 abgeschlossen. Man entwickelte insbesondere in der Dokumentation fundamentale Methoden, die wiederum die Grundlage für fundamentale Fortschritte gebildet haben [1]. Die HGP-Ära hat die Blutgruppengenetik über vier Jahrzehnte vorangetrieben, und seit 25 Jahren sind kommerzielle Kits für die Blutgruppengenotypisierung erhältlich. Diese Fortschritte beschränken sich nicht nur auf Einzel-Nukleotid-Polymorphismen (SNPs) oder -Variationen (SNVs), sondern erstrecken sich auch auf Ganzgenomanalysen durch Next Generation Sequencing (NGS) [2]. Damit können Haplotypen erfasst werden – auch wenn die immensen Datenmengen eine Herausforderung darstellen und die Auswirkungen zufällig erfasster SNVs nur teilweise verstanden werden. Nichtsdestotrotz ermöglicht die Sequenzierung ganzer Genome neue Entdeckungen in der Blutgruppenforschung und bildet die Basis für eine präzisere, individualisierte Patientenversorgung.

Festigung der Nische in der Transfusionsmedizin

Die Blutgruppengenetik hat ihren Platz im Bereich der Blutbanken und der Transfusionsmedizin unbestreitbar gefestigt. Der zunehmende Rückgriff auf genetische Blutgruppenbestimmungen spiegelt eine unverändert hohe medizinische Bedeutung wider, auch wenn die Forschungsleistung seit der COVID-19-Pandemie rückläufig ist (Abb. 1).

Im praktischen Einsatz ist der zunehmende Trend gleichwohl ungebrochen.

 

Der genetische Vorsprung: Unerreichte Präzision

Der größte Vorteil der genetischen Verfahren liegt in ihrer Fähigkeit, unabhängig von kürzlich erfolgten Transfusionen sichere Ergebnisse zu liefern. Während serologische Methoden durch frisch transfundierte Erythrozyten beeinträchtigt werden, sind Erythrozytenkonzentrate nahezu frei von Leukozyten. Aus EDTA-Proben kann daher DNA aus Patienten-Leukozyten gewonnen werden, um Blutgruppen von Erythrozyten ohne Beeinträchtigung zu untersuchen.

Technisch können alle DNA-Proben untersucht werden – auch prähistorische Proben. So konnte man feststellen, dass auch Neandertaler und der Denisova-Mensch unterschiedliche Blutgruppen hatten, die der heutigen Verteilung nicht unähnlich waren [3].

Darüber hinaus sind genetische Techniken unverzichtbar, wenn keine diagnostischen Antikörper zur Verfügung stehen oder wenn die Serologie aufgrund von Antigenvarianten wie D- oder C-Varianten ungenaue Ergebnisse liefert. Bei Personen mit Sichelzellanämien identifiziert die genetische Bestimmung etwa 20 % der Patient:innen, die serologisch C-positiv erscheinen, aber Variante C haben und häufig Antikörper bilden [4].

Das breite Anwendungsspektrum dieser Techniken reicht von der nichtinvasiven Bestimmung der Blutgruppe des Fetus aus mütterlichen EDTA-Blutproben [5], die inzwischen in vielen Ländern zu den erstattungsfähigen Leistungen gehört, bis hin zur Identifizierung seltener Blutgruppenvarianten bei Personen mit hohem Immunisierungsgrad. Solche Methoden haben sich als von unschätzbarem Wert erwiesen, um die genetischen Grundlagen komplexer Antikörper zu verstehen und maßgeschneiderte Transfusionsstrategien zu ermöglichen.

 

Unübertroffene Vorteile und vielfältige Anwendungen

Die Vorteile genetischer Techniken bei der Blutgruppenanalyse sind vielfältig und erstrecken sich über die Unabhängigkeit von früheren Transfusionen hinaus zu einer Genauigkeit, die serologisch nicht erreicht werden kann. Diese Präzision ist entscheidend für die Identifizierung von Personen mit Blutgruppenvarianten wie bei den oben erwähnten Sichelzell­anämien. Die genetische Blutgruppenuntersuchung hat zudem einen unbestreitbaren Vorteil bei Menschen, deren Typisierung durch Auto­immunerkrankungen oder spezifische Anti­körpertherapien (Anti-CD38!) erschwert wird (Tab. 1).

Tab. 1: Indikationen zur genetischen Blutgruppenuntersuchung.

Nichtinvasive fetale Blutgruppenbestimmung

Spenderscreening

Typisierung von High-responder-Patient:innen

Blutgruppenbestimmung nach Plasmozytom-Behandlung mit CD38-Antikörpern

Unterstützung der Serologie bei komplexen Antikörperdifferenzierungen

Datengewinnung und wissenschaftliche Themen

Im Folgenden finden Sie noch einmal die Vorteile im Überblick.

Umfassende Analyse

Genetische Tests ermöglichen die Untersuchung aller bekannten Polymorphismen, die mit Blutgruppenantigenen assoziiert sind, und können so ein vollständiges Bild des Blutgruppenprofils einer Person bieten. Diese umfassende Analyse ist entscheidend für Menschen mit komplexen serologischen Merkmalen oder für Personen, die eine spezielle Transfusionsunterstützung benötigen.

Unabhängigkeit von der Transfusions­anamnese

Im Gegensatz zu serologischen Tests, die durch kürzlich erfolgte Transfusionen beeinträchtigt werden können, liefern genetische Verfahren unabhängig von der Transfusionshistorie genaue Blutgruppeninformationen. Dies ist besonders wichtig für Personen, die sich einer chronischen Transfusionstherapie unterziehen, bei der die Bestimmung der wahren Blutgruppe aufgrund der Anwesenheit transfundierter Erythrozyten schwierig sein kann.

Identifizierung von Antigenvarianten

Mit genetischen Methoden können Varianten und Polymorphismen aufgespürt werden, die serologisch nicht eindeutig bestimmt werden können, aber klinisch relevant sind. Diese Personen sind von Alloimmunisierung bedroht. Mit Kenntnis der genetischen Blutgruppen können kompatible Erythrozytenkonzentrate gewählt werden.

Diagnostische Antikörper nicht notwendig

Die Verfügbarkeit IVDR-zugelassener Blutgruppenreagenzien nimmt ab. Die genetische Untersuchung ist auch möglich, wenn keine Antikörper (mehr) verfügbar sind.

Fetale DNA zirkuliert bereits früh im mütterlichen Plasma

Die fetale Bestimmung des Rhesusfaktors (RhD) ist in Deutschland jetzt Kassenleistung und ermöglicht, Rh-Prophylaxen nicht für die etwa 40 % RhD-negative Schwangere zu verwenden, deren Kinder ebenfalls RhD-negativ sind. Fetale DNA steht zudem weiteren Blutgruppenbestimmungen zur Verfügung, die nicht mit Rh-Prophylaxen abgefangen werden können.

Hochgradig immunisierte Personen

Genetische Techniken sind hier von unschätzbarem Vorteil, weil eine begleitende Autoimmunisierung häufig ist. Wenn der Eigenansatz positiv ist, können indirekt reagierende Seren nicht verwendet werden. Das begrenzt die Serologie auf wenige, direkt reagierende Seren. Die genetische Antigenuntersuchung hilft zu erkennen, welche Antikörper möglich und welche unwahrscheinlich sind.

Unbeeinträchtigt durch therapeutische Antikörper

Molekulardiagnostische Methoden werden von therapeutischen Antikörpern wie Daratumumab oder Isatuximab, die gegen CD38 gerichtet sind, nicht beeinträch­tigt. Auch CD47-Antikörper sind nach dem Stopp der wesentlichen Studie nicht komplett aus der Pipeline verschwunden und drohen, die Arbeit in Blutbanken zu prägen.

Menschen mit irregulären Blutgruppen­antikörpern können zudem von einer Sekundärprophylaxe bei der Erythrozytenkonzentratauswahl profitieren. Nicht alle Patient:innen bilden Antikörper – die meis­ten bilden keine – aber wenn Antikörper gebildet werden, ist die Wahrscheinlichkeit zusätzlicher Antikörper stark erhöht („high responder“). Bei diesen Personen können dann prophylaktisch Erythrozytenkonzentrate so gut als möglich passend gewählt werden (z. B. OptiMatch). Leider ist die serologische Blutgruppenbestimmung nach einer Transfusion nicht mehr möglich, sodass auf die genetische Bestimmung ausgewichen werden muss. Im sekundär-prophylaktischen Setting ist der Zeitbedarf kein wesentlicher Nachteil, und wenn eine Reihe von Merkmalen zusammen bestimmt wird, kann die genetische Untersuchung auch kostenvorteilhaft sein.

 

Vergleich mit traditioneller Serologie

Während die Serologie für ihre Schnelligkeit und Vollautomatisierung bekannt ist, bietet die Genetik eine unübertroffene Präzision und die Fähigkeit, alle bekannten Polymorphismen zu untersuchen (Tab. 2).

Tab. 2: Blutgruppenbestimmung Methodenvergleich.

Serologie

Genetik

Schnell (unter 1 h)

Zeitbedarf über 1 h

Vollautomation möglich

Semiautomation möglich

Sparsame apparative Mindestanforderungen

Dedizierte apparative Ausstattung erforderlich

Spezielle methodische Kompetenz erforderlich

Spezielle methodische Kompetenz erforderlich

Direkter Antigennachweis

Indirekte Bestimmung der Antigene

Interferenz mit transfundierten Erythrozyten

Unabhängig von früheren Transfusionen

Reagenzien für die wichtigsten, aber nicht für alle Blutgruppen erhältlich

Alle bekannten Polymorphismen können untersucht werden

 

Genetische Techniken benötigen zwar spezialisierte Ausrüstung und methodische Kompetenz, ermöglichen jedoch die Untersuchung von Blutgruppenmerkmalen, die serologisch nicht zugänglich sind. Diese umfassende Analysefähigkeit macht genetische Techniken besonders wertvoll für die Untersuchung seltener oder ungewöhnlicher Blutgruppenvarianten.

Ein wesentlicher Unterschied zwischen beiden Methoden ist die Zeit, die für die Durchführung benötigt wird. Serologische Tests können in Minuten und in der Regel in weniger als einer Stunde abgeschlossen werden, während genetische Analysen längere Zeit in Anspruch nehmen. Dieser Zeitfaktor bedeutet, dass serologische Methoden in Notfallsituationen die einzige Option darstellen, während genetische Techniken für langfristige Planung und komplexe Fälle reserviert sind.

Im Einzelfall sind genetische Untersuchungen auch teurer als serologische Methoden. Kosteneffizient werden sie in Kombination, d. h. wenn viele Merkmale eines Patienten bestimmt werden, bei High-Respondern oder wenn Spender auf seltene Merkmalkombina­tionen getestet werden.

Direkter Antigennachweis versus indirekte Bestimmung

Ein Kernunterschied zwischen der Serologie und genetischen Techniken ist der Ansatz zur Blutgruppenbestimmung. Während die Serologie auf dem direkten Nachweis von Antigenen auf der Oberfläche von Erythrozyten basiert, erlauben genetische Techniken eine indirekte Bestimmung der Antigene durch Analyse der zugrundeliegenden genetischen Information. Diese indirekte Methode bietet eine höhere Genauigkeit und Zuverlässigkeit, insbesondere in Fällen, in denen serologische Methoden durch vorherige Transfusionen, die Anwesenheit von Antikörpern oder andere Faktoren beeinträchtigt werden könnten.

Jedoch hat die Untersuchung der Gen-Ebene ihre Einschränkung in der komplexen Genetik. Insbesondere bei den wesentlichen Blutgruppen AB0 und Rh sind einzelne, eventuell noch unbekannte Polymorphismen ausreichend, um die Expression zu unterbinden, sodass aus A ein 0 und aus RhD-positiv ein RhD-negativ wird. Daher liegen der Blutgruppe 0 Hunderte unterschiedlicher Gensequenzen zugrunde.

Anforderungen an Kompetenz und Ausrüstung

Sowohl serologische als auch genetische Techniken erfordern spezialisiertes Wissen, Training und Fähigkeiten. Dies spiegelt die Komplexität und Präzision wider, die für die Transfusionsmedizin erforderlich sind. Daraus resultiert auch die Notwendigkeit kontinuierlicher Schulung und Investitionen in dedizierte Laborinfrastrukturen [6]. Trotz dieser Herausforderungen bieten die einzigartigen Vorteile genetischer Techniken erhebliche Anreize für ihre Integration in die Praxis der Transfusionsmedizin.

Diese Anforderungen und die prinzipiell längere Bearbeitungszeit erklären, warum die Blutgruppenserologie in allen Laboren verfügbar ist und warum die Blutgruppen­genetik auf große Kliniken und Blutspendeeinrichtungen beschränkt ist.

 

Herausforderungen

Während genetische Techniken erhebliche Vorteile bieten, stehen sie auch vor Herausforderungen, insbesondere in Bezug auf die Integration in die klinische Praxis. Die Notwendigkeit spezialisierter Ausrüstung und umfangreicher Fachkenntnisse kann die Verfügbarkeit dieser Techniken in kleineren Kliniken und Laboren einschränken.

Durch Gentests – insbesondere durch NGS – werden große Datenmengen erzeugt, für deren Auswertung und Integration in die klinische Praxis hochentwickelte Bioinformatiktools benötigt werden [7]. Die Interpretation dieser Daten erfordert ein tiefes Verständnis der Genetik und der Blutgruppensysteme, was wiederum kontinuierliche Bildung und Training für das medizinische Personal voraussetzt.

Der Ressourcenbedarf genetischer Untersuchungen kommt zu einer Zeit, in der das Gesundheitswesen in der gesellschaftlichen Ressourcenverteilung nicht mehr die Priorität hat wie zur Zeit der Corona-Pandemie. Gesundheit ist nicht die einzige gesellschaftliche Herausforderung.

Während genetische Technologien das Potenzial haben, die Medizin zu revolutionieren, werfen sie auch Fragen bezüglich Datenschutz, genetischer Diskriminierung und Zugang zu genetischen Informationen auf. Die Gewährleistung der Vertraulichkeit und der angemessenen Verwendung genetischer Informationen ist von größter Bedeutung. Ein zukünftiges Forschungsfeld ist die Untersuchung der ethischen, rechtlichen und sozialen Implikationen (ELSI) der genetischen Blutgruppen­analyse. Gleichwohl sichert die Fähigkeit, genetische Informationen präzise zu analysieren und zu interpretieren, neue Entdeckungen in der Genetik und die Entwicklung personalisierter Medizinansätze, die auf den individuellen genetischen Merkmalen jedes Patienten basieren.

 

Forschungstrends und Zukunftsperspektiven

Mit der Weiterentwicklung der personalisierten Medizin wird die genetische Blutgruppenanalytik eine entscheidende Rolle bei der Anpassung von Transfusions- und Transplantationsstrategien auf der Grundlage individueller genetischer Profile spielen. Es wird erwartet, dass die laufende Forschung und der technologische Fortschritt die Kosten senken und die Zugänglichkeit von Gentests verbessern werden, sodass sie zu einem Standardbestandteil der Transfusions­medizin werden. Genetische Verfahren werden eine präzisere Spender-Empfänger-Zuordnung ermöglichen, wodurch das Risiko einer Alloimmunisierung minimiert wird und die Transfusionsergebnisse verbessert werden, insbesondere bei Personen mit seltenen Blutgruppen oder bei hoch-immunisierten Personen. Die Erforschung des menschlichen Genoms hat bislang neue Blutgruppensysteme und Antigene ergeben, und es ist zu erwarten, dass das letzte Antigen heute noch nicht beschrieben worden ist.

Der Einfluss von Künstlicher Intelligenz (KI) in dieser Analytik ist derzeit noch nicht abzusehen und wird voraussichtlich wachsen, sobald sich eine Vertrautheit im Umgang mit diesen Techniken eingestellt hat. Als sicher kann bereits heute angesehen werden, dass die Auswertung von NGS-Daten davon profitieren wird, dass Software mit den neuen Sprachmodellen wie Chat-GPT, Llama, Claude und Gemini wesentlich schneller erstellt und entwickelt werden kann. Letztlich entstehen damit neue Möglichkeiten der schnelleren und der personalisierten Transfusionsmedizin.

Eine weitere Option für Forschungstrends ist die Anwendung von CRISPR-Cas9-Technologien zur Erforschung der genetischen Basis von Blutgruppen. Diese genetische Editierungsmethode kann zum einen unser Verständnis der genetischen Mechanismen, die Blutgruppen bestimmen, vertiefen und zum anderen auch therapeutische Anwendungen ermöglichen – etwa die Entwicklung universeller Blutprodukte durch die gezielte Modifikation von Blutgruppenantigenen.   

 

Verzeichnisse im Web

Blood Group Allele Database: https://www.isbtweb.org/isbt-working-parties/rcibgt/blood-group-allele-tables.html

BloodAntigens.com: https://bloodantigens.com/cgi-bin/a/a.fpl

Autor
Prof. Dr. med. Norbert Ahrens
Medizinisches Labor Rosenheim MVZ GbR
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