Potenzial und Anwendungsmöglichkeiten der Analyse einzelner Zellen: Hochauflösende Analytik

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2024.03.02

Die Analyse von Einzelzellen birgt großes Potenzial für die Diagnostik und die Therapie verschiedenster Erkrankungen. In der Onkologie werden bereits im Rahmen der Liquid Biopsy einzelne zirkulierende Tumorzellen im Blut charakterisiert, um Krankheitsverläufe zu überwachen oder die Therapie optimal anzupassen. Die Weiterentwicklung der Einzelzellanalyse beispielsweise durch Spatial-Omics-Technologien sowie die bioinformatische Auswertung verschiedener Informationsebenen lässt hoffen, dass in Zukunft bei komplexen physiologischen Prozessen pathogene Abweichungen in nur wenigen Zellen frühzeitig identifiziert werden können.

Schlüsselwörter: Single Cell Analysis, Liquid Biopsy, CTC, Sequenzierung, Spatial Omics, Bioinformatik

Untersuchungen einzelner Zellen haben in der letzten Dekade vermehrt Einzug in den Alltag vieler molekulargenetischer Labore gehalten. Je nach Fragestellung erlauben es unterschiedliche Technologien, DNA-Sequenzen, deren Methylierungsstatus oder Chromatinstruktur, aber auch die verschiedenen Klassen von RNA-Molekülen und Proteine gezielt zu analysieren [1]. Zum Auslesen dieser Informationsebenen bieten sich grundsätzlich zwei Herangehensweisen an: 1) die präzise und umfassende Analytik einzelner Zellen und 2) die oberflächliche Analytik einer Vielzahl von Einzelzellen mit anschließender bioinformatischer Gruppierung auf Basis von Ähnlichkeiten der analysierten Datensätze der einzelnen Zellen. Während sich der erste Ansatz dazu eignet, hochauflösend die Informationsebenen einzelner Zellen und kleinste Veränderungen dieser Ebenen zu charakterisieren, verfolgt der zweite Ansatz vornehmlich das Ziel, Zelltypen in einer Zellpopulation zu identifizieren und Änderungen in der Häufigkeit der unterschiedlichen Zelltypen in Abhängigkeit verschiedenster interner und externer Einflüsse auszulesen. Größere Veränderungen der Informationsebenen können auch mit dem zweiten Ansatz erfasst werden; für eine präzise Charakterisierung dieser Veränderungen ist es jedoch unerlässlich, einzelne Zellen der als relevant identifizierten Zelltypen einer hochauflösenden Analytik zu unterziehen. Beide Herangehensweisen erlauben prinzipiell auch das simultane Auslesen mehrerer Informationsebenen – mit der Einschränkung, dass nicht alle Informationsebenen frei miteinander kombinierbar sind. Erste Ansätze deuten jedoch daraufhin, dass dies in Zukunft möglich sein wird.

 

Liquid Biopsy und Einzelzellanalyse

Ein Anwendungsgebiet, in welchem die Analyse einzelner Zellen seit über zwei Jahrzehnten etabliert ist, ist die sogenannte Flüssigbiopsie (Liquid biopsy). Mit dem Liquid-Biopsy-Konzept sollen durch molekulare Analysen von Körperflüssigkeiten medizinisch relevante Informationen zu systemischen Erkrankungen, insbesondere in der Onkologie, erhoben werden mit dem Ziel, die Diagnostik und Behandlung von Erkrankten vorzutreiben [2] Das Potenzial, solide Krebserkrankungen mittels Blut­analyse zu diagnostizieren, wurde bereits im Jahr 1869 durch den australischen Arzt Thomas Ashworth erkannt, der erstmals zirkulierende Tumorzellen („circulating tumor cells“; CTC) im Blut eines verstorbenen Patienten beschrieb [3]. Allerdings konnte aus dieser Erkenntnis lange Zeit kein Kapital geschlagen werden, da Tumorzellen bei den meisten Betroffenen mit 1–10 CTC pro Milliliter Blut sehr selten sind [4] und Technologien zur effizienten Anreicherung, Isolation und Analytik nicht zur Verfügung standen.

Die Untersuchung von CTC stellt heute einen prominenten Anwendungsfall für die Analyse einzelner, sehr seltener Zellen dar. Gerade für den Verlauf einer Krebserkrankung und die Selektion der bestmöglichen Therapiekombination können diese zelluläre Heterogenität wie auch die Identifizierung therapieresistenter Subklone eine große Rolle spielen. Zu diesem Zweck haben wir vor einigen Jahren einen semiautomatisierten Workflow zur Anreicherung, Isolation und DNA-Analytik einzelner CTC aus Patientinnen im Brustkrebs entwickelt und an klinischen Proben getestet (Abb. 1) [5].

Mit diesem und ähnlichen Ansätzen konnten wir und andere eine zelluläre Heterogenität von einzelnen CTC derselben Patientin zeigen – auch für Mutationen, die potenziell eine Therapieresistenz vermitteln [5–7].

Klinisch hochrelevant wird in zunehmendem Maße auch die Übertragung des Liquid-Biopsy-Konzepts auf andere Körperflüssigkeiten sein, wie zum Beispiel Liquor cerebrospinalis. So konnten wir bei einer Patientin mit unklarer ZNS-Symptomatik einzelne Tumorzellen aus dem Liquor isolieren und einer Mutationsanalytik auf Mutationen im therapierelevanten Wachstumsfaktorrezeptor EGFR („epidermal growth factor receptor“) unterziehen. Durch die angewandten Einzelzelltechnologien konnte schließlich die Missense-Mutation L859R identifiziert werden, die in Kombination mit einem nachgeschalteten CXCR4-PET-CT eine Behandlung der Patientin mit Afitinib indizierte [8].

 

Systemische Erkrankungen

Im Gegensatz zu den oben beschriebenen Anwendungen in der Onkologie, in denen es meist um Informationen aus sehr wenigen Zielzellen geht, wird die Einzelzell­analytik – im Sinne einer oberflächlichen Analyse von Zellpopulationen – erfolgreich in vielen anderen Anwendungsfeldern genutzt. Sie führt zu einem besseren Verständnis komplexer, physiologischer, aber auch pathologischer Prozesse. Beispielhaft für eine Reihe an Studien sollen hier zwei Arbeiten kurz beschrieben werden.

Bis vor Kurzem wurden neutrophile Granulozyten – die größte Population an weißen Blutzellen in unserem Blut – als homogene und überwiegend transkriptionell inaktive Zellen des Immunsystems betrachtet, welche durch die stabile Expression klar definierter Oberflächenproteine leicht identifiziert werden können. Durch eine umfassende RNA-Analyse vieler einzelner Zellen und eine aufwendige bioinformatische Auswertung der Transkriptomdaten konnte mittlerweile aber gezeigt werden, dass sich die Neutrophilen aus dem Blut in vier unterschiedliche Subpopulationen aufteilen lassen. Sie können transient und durch externe Stimulation ineinander übergehen und durch spezifische Transkriptionsfaktoren auf RNA-Ebene differenziert werden [9]. Diese Erkenntnis eröffnet einen vollkommen neuen Blickwinkel auf den altbekannten Zelltyp, welcher in Zukunft große Bedeutung für das Verständnis der Funktion dieser Zellen für Immunprozesse haben wird.

Die Charakterisierung von Immunzellpopulationen auf Einzelzellbasis wurde auch im Zusammenhang mit COVID-19 erfolgreich für ein besseres Verständnis der Erkrankung eingesetzt. Aus klinischen Verläufen war klar, dass ein fehlreguliertes Immunsystem mit schwereren Verläufen korrelierte. Durch den Einsatz von Transkriptomanalysen auf Einzelzellebene und Analysen des Oberflächenproteoms von Immunzellen konnten unter anderem Störungen in der Kommunikation zwischen Immunzellen mit bestimmten Autoimmunerkrankungen und damit auch Hochrisikoprofilen bei chronisch kranken Personen identifiziert werden [10].

 

Die Zukunft der Einzelzellanalytik

Die Kombination der beiden oben beschriebenen Ansätze der Einzelzell­analytik von der Kategorisierung und Subklassifizierung einzelner Zelltypen auf Populationsbasis hin zu einer hochauflösenden Analyse der Prozesse in einer einzelnen Zelle wird unser Wissen zu biologischen Prozessen weiter vorantreiben. Dieser Erkenntnisgewinn wird auch maßgeblich durch neueste technologische Entwicklungen unterstützt, die eindrucksvoll belegen, dass beide Herangehensweisen der Einzelzellanalytik auf Long-Read-Sequenzierungstechnologien hin adaptiert werden können [11]. In der RNA-Analytik von Einzelzellen bringt dies den entscheidenden Vorteil mit sich, RNA-Moleküle lückenlos von Anfang bis Ende sequenzieren zu können. Hierdurch wird es erstmals möglich, ein detailliertes Abbild aller in einer einzelnen Zelle gleichzeitig vorhandenen Transkripte eines einzigen genetischen Lokus zu erfassen. Somit können nun auch bisher nur bioinformatisch vorhergesagte Transkripte experimentell verifiziert werden.

Eine weitere Facette der Einzelzell­analytik stellen die sogennanten Spatial-Omics-Technologien dar [1]. Darunter versteht man molekulare Technologien, welche die räumlich aufgelöste Analyse unterschiedlicher biologischer Moleküle in ihrer nativen Umgebung in Geweben ermöglichen. In jüngster Zeit konnten hier sogar subzelluläre Auflösungen erreicht werden – allerdings mit dem Nachteil, dass man bei so hoher Auflösung nur gezielt nach dem Vorhandensein weniger bereits bekannter Moleküle suchen kann. Spatial-Omics-Ansätze, die mit der genomweiten Einzelzellanalytik vergleichbar sind, erlauben gegenwärtig noch keine echte einzelzellaufgelöste Darstellung.

Ähnlich vielfältig haben sich die bioinformatischen Möglichkeiten zur Auswertung der experimentell erhobenen Datensätze einzelner Zellen entwickelt [1]. Von Ansätzen zur gezielten Auswertung von Transkriptomen oder Genomen über Verfahren zur integrierten Auswertung mehrerer Informationsebenen bis hin zu Ableitungen der Zell-Zell-Kommunikation in Geweben auf Basis identifizierter Transkriptome und/oder Proteome gibt es eine Vielzahl verschiedener Auswerteverfahren. Allen gemeinsam ist jedoch, dass sie berücksichtigen müssen, dass es sich – mit Ausnahme der DNA-Analytik einzelner Zellen – bei einem Einzelzell-Datensatz immer um eine Momentaufnahme der analysierten Einzelzelle handelt. Dies bedeutet, dass zum Zeitpunkt der Analyse einer Einzelzelle nicht alle zellulären Merkmale dieser Zelle auch ausgeprägt sind.

Abschließend lässt sich zusammenfassen, dass uns die Analytik einzelner Zellen in den vergangenen Jahren nicht nur wesentliche neue Erkenntnisse im direkten Zusammenspiel der verschiedenen Informationsebenen in einzelnen Zellen erlaubt hat, sondern auch erste Einblicke in die Vielfältigkeit der Variationen dieses Zusammenspiels in unterschiedlichen Zelltypen in Abhängigkeit interner und externer Einflüsse gegeben hat. Spatial-Omics-Technologien werden uns in den kommenden Jahren nun dabei helfen, die Wechselwirkungen dieser Variationen in der Kommunikation der verschiedenen Zelltypen innerhalb eines Gewebes besser zu verstehen. Zudem werden sie dabei hilfreich sein, die Grundlagen für das Verständnis nicht nur essenzieller übergeordneter komplexer Prozesse im Zusammenspiel verschiedener Gewebe zu erarbeiten, sondern auch die personalisierten Abweichungen dieser Prozesse zu erfassen. Der stete Ausbau dieses Wissens sollte uns in Zukunft in die Lage versetzen, pathogene Abweichungen dieser Prozesse in wenigen oder gar einzelnen Zellen frühzeitig zu identifizieren und langfristig die Möglichkeiten zu schaffen – zumindest in bestimmten Indikationsgruppen –, therapeutische durch präventive Maßnahmen zu ersetzen.

Autoren
Fraunhofer-Institut für Toxikologie und Experimentelle Medizin (ITEM), Regensburg
Bereich Personalisierte Tumortherapie
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