Disruptive Entwicklungen

Es ist in diesen Tagen viel von Disruption die Rede, von Innovationen also, die scheinbar aus dem Nichts kommen und das bisher Dagewesene verdrängen. Das Spektrum reicht von der Glühbirne, die die Welt erleuchtete, bis zum Internet, dessen disruptive Macht die Bundeskanzlerin kürzlich für den Siegeszug des politischen Populismus (jenseits aller politischen „Erleuchtung“) verantwortlich machte.
Auch die Medizin ist voller Techniken, die das Potenzial zur Disruption haben. In unserer Rubrik Innovation und Markt analysieren wir POCT-Systeme als Alternative zum Zentrallabor sowie Omics und Big Data als Gegenentwurf zur herkömmlichen Stufendiagnosik – und kommen zu dem Schluss, dass die Zeit für den großen Umsturz in beiden Fällen doch noch nicht gekommen ist.
Die Mühlen der Medizin malen eben meist langsamer, als von den Technologen prophezeit, weil die Patientensicherheit allzu forsches Vorpreschen verbietet. Aber trotzdem wird sich die Welt der In-vitro-Diagnostik in den nächsten Jahren allein schon aus faktischen Zwängen heraus verändern müssen, wenn auch Schritt für Schritt ohne Getöse.
So verlangt das kürzlich verabschiedete E-Health-Gesetz nun ganz rasch nach standardisiert gespeicherten Laborwerten – und damit auch nach einer Entscheidung im Jahrzehnte alten Streit um konventionelle versus SI-Einheiten. Die überraschende „Weder-noch-Lösung“ könnte tatsächlich aus der Omics- und Big-Data-Welt kommen, wo man seit Langem mit transformierten Relativwerten und Farben arbeitet, um die gewaltigen Datenmengen visuell in den Griff zu bekommen.
Auch die zunehmende Bedeutung gesetzlich geregelter Screeningverfahren – beispielsweise beim Darmkrebs oder der Mukoviszidose – verlangt nach einem Umdenken. Wenn man nämlich anstelle von offensichtlich Kranken symptomlose Gesunde (mit einem verschwindend geringen Anteil an Verdachtsfällen) untersucht, reicht die Spezifität von Einzeltests nur selten aus, um unter all den falschen Alarmen die richtig Positiven zu erkennen. Der Schlüssel könnte in multivariaten Scores und mehrschichtigen Strategien liegen, die wir am Beispiel der Leberfibrose und des Neugeborenen-Screenings erläutern.
Apropos Neugeborenen-Screening: Noch dominiert hier die konventionelle Stufendiagnostik mit einigen wenigen, sehr spezifischen Biomarkern. Doch als Technik der Zukunft wird das Next Generation Sequencing als potenzieller Rundumschlag bereits intensiv diskutiert. Ist es Zufall, dass beides – Neugeborenen-Screening und Next Generation Sequencing – mit NGS abgekürzt wird? Wächst hier zusammen, was zusammengehört? Soll man womöglich „NGS mit NGS“ vorantreiben, um bei jedem Neugeborenen alle nur denkbaren genetischen Krankheitsdispositionen zu entdecken? Das wäre eine wahrhaft disruptive Entwicklung, aber wohl jenseits aller medizinischen und gesundheitspolitischen „Erleuchtung“.

 

Prof. Dr. Georg Hoffmann

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