Mit Stufendiagnostik zur Zielkrankheit
Neugeborenen-Screening
Die Herausforderung beim Neugeborenen-Screening besteht darin, extrem wenige behandlungsbedürftige Fälle in einer großen Masse gesunder Neugeborener zu dektektieren. Der Schlüssel dazu liegt in einem stufenweisen Vorgehen, das meist mit einem sensitiven Suchtest beginnt und mit einem sehr spezifischen Bestätigungstest endet.
Schlüsselwörter: Neugeborenen-Screening, Second-Tier-Strategie, Tandem-Massenspektrometrie
Screenigtests gewinnen in der Labormedizin zunehmend an Bedeutung, denn Vorbeugen erscheint allemal besser als Reparieren. Doch so einleuchtend diese Argumentation auch klingen mag, so wenig ist den meisten der fundamentale Unterschied zur klassischen medizinischen Vorgehensweise bewusst: Beim Screening werden nicht Kranke sondern Gesunde untersucht, unter denen sich einige wenige Personen befinden, die die gesuchte Zielkrankheit in sich tragen, ohne bereits Symptome aufzuweisen. Das bedeutet rein statistisch gesehen, dass es höchst unwahrscheinlich ist, die gesuchte Zielkrankheit mit einem einzigen Test zu finden. Vielmehr ist ein stufenweises Vorgehen erforderlich.
Definition Unter Screening versteht man eine Untersuchung asymptomatischer Personen mit dem Ziel, sie in Bezug auf die Zielkrankheit in solche mit hoher bzw. niedriger Krankheitswahrscheinlichkeit einzuteilen. Personen mit hoher Wahrscheinlichkeit werden weiter untersucht, um zu einer endgültigen Diagnose zu gelangen. Als krank diagnostizierte Personen werden anschließend therapiert[1]. |
Screening-Voraussetzungen
Bei einem positiven Ergebnis ist der Patient nicht notwendigerweise krank, aber immerhin nimmt die Krankheitswahrscheinlichkeit deutlich zu, sodass der nächste Test treffsicherer wird. Typisch für derartige Suchtests ist also, dass die Befunde bei Auffälligkeiten immer durch Bestätigungstests abgeklärt werden müssen, um eine vermutete Diagnose zu sichern oder zu verwerfen.
Bereits in den 1970er-Jahren stellten Wilson und Jungner zehn Kriterien auf, die ein Screening erfüllen sollte[2]. Diese fordern unter anderem, dass die Zielkrankheit schon in der Frühphase detektierbar sein muss und dass eine daraufhin frühzeitig einsetzende Behandlung den Verlauf günstiger beeinflusst als ein späterer Behandlungsbeginn. Weiterhin fordern die Autoren, dass das Risiko der Screeningmaßnahme sowohl in physischer als auch psychischer Hinsicht geringer sein sollte, als der Nutzen.
Vor diesem Hintergrund wird in Deutschland seit 2005 ein Screening auf 14 angeborene Stoffwechsel- und Hormonstörungen durchgeführt. Im Oktober 2016 kam als Nr. 15 das Screening auf Mukoviszidose (Cystic Fibrosis, CF) hinzu (siehe Tab. 1). Weitere Zielkrankheiten dürfen nach der Kinderrichtlinie nur im Rahmen von Forschungsprojekten untersucht werden; da das Screening jedoch in der Hoheit der Länder liegt, sind, wie z. B. in Hessen, bundeslandspezifische Abweichungen möglich.
Epidemiologie
Die in der Tabelle aufgeführten Krankheiten sind sehr selten. Für das Jahr 2014 weist der von der Deutschen Gesellschaft für Neugeborenenscreening (DGNS) jährlich erstellte Screeningreport bei über 700.000 Geburten in Deutschland 519 bestätigte Diagnosen aus, was einer kumulierten Inzidenz für alle 14 Zielkrankheiten von weniger als ein Promille (1 : 1.378) entspricht[3]. Diesen 519 bestätigten Fällen stehen 4.424 Kontrolluntersuchungen (Recalls) bei auffälligem Erstscreening gegenüber, d. h. nur hinter etwas mehr als jedem achten Recall steckt eine echte Erkrankung des Kindes.
Wie oben ausgeführt ist es das Ziel des Screenings, frühzeitig behandlungsbedürftige – und nur diese – Fälle zu detektieren. Gleichzeitig sollten aber möglichst wenig nicht behandlungsbedürftige Anlageträger, sog. „milde Phänotypen", erkannt werden. Dies ist aus offensichtlichen Gründen wünschenswert: Zum einen verursachen diese Befunde unnötige Kosten, und zum anderen führen die notwendigen Kontrolluntersuchungen zu großer Verunsicherung und psychischer Belastung der Eltern, wie Nachbefragungen im Rahmen einer screeningbegleitenden Langzeitstudie ergaben [4].
Mehrschichten-Strategie
Dabei sind unterschiedliche Zielkrankheiten unterschiedlich anfällig für falsch-positive Befunde. Während sich 2014 zum Beispiel bei der angeborenen Hypothyreose über 40% der Recalls als richtig-positiv erwiesen, waren es beim adrenogenitalen Syndrom (AGS) nur knapp 3%[3]. Eine Möglichkeit, die Spezifität zu erhöhen, besteht darin, dem sehr sensitiven, aber nicht so spezifischen ersten Suchtest einen spezifischeren Test im Sinne einer Zweischichten-Strategie (second tier strategy) nachzuschalten. Diese Vorgehensweise wurde bei der Einführung des Mukoviszidose-Screenings im Screeningalgorithmus sogar noch erweitert (Tab. 1 letzte Zeile).
Bei auffälligem immunreaktivem Trypsin (first tier) wird hier die Bestimmung des Pankreas-assoziierten Proteins (second tier) nachgezogen. Ist dieser Test ebenfalls auffällig, schließt sich die genetische Analyse des CFTR-Gens (third tier) an. Diese Neuerung im Bereich des Neugeborenenscreenings ist insofern bemerkenswert, als damit zum ersten Mal molekulargenetische Methoden bereits im Rahmen des Screenings und nicht erst in der Bestätigungsdiagnostik Anwendung finden.
Massenspektrometrie
Bei den meisten in Tab. 1 aufgeführten Zielkrankheiten kommt die hochspezifische Tandem-Massenspektrometrie (MS/MS) zum Einsatz, gegebenenfalls kombiniert mit einem sensitiven Immunoassay. Abb. 1 demonstriert das mehrstufige Vorgehen am Beispiel des adrenogenitalen Syndroms (AGS). Dabei handelt es sich um eine Gruppe erblicher Stoffwechselkrankheiten, die durch eine gestörte Hormonproduktion in der Nebennierenrinde ausgelöst werden. Beim AGS-Screening kann der immunologischen Bestimmung des Screeningparameters 17-Hydroxyprogesteron (17-OHP) die massenspektrometrische Analyse eines Steroidprofils nachgeschaltet werden. Dabei werden neben dem 17-OHP auch Androstendion, 11-Deoxykortisol, Kortisol und das physiologisch praktisch nicht nachweisbare 21-Deoxykortisol bestimmt. Nur wenn neben dem 17-OHP auch das 21-Deoxykortisol und der Quotient aus 21-Deoxykortisol und Kortisol pathologisch erhöht sind, wird das Screening als auffällig gewertet.
Eine Analyse der in unserem Labor erhobenen Daten zum AGS-Screening zeigte, dass sich im Jahr 2016 weniger als 2% der im 17-OHP auffälligen Proben im Steroidprofil als auffällig bestätigten. Durch die Stufendiagnostik konnte die Anzahl der durch ein auffälliges AGS-Screening ausgelösten Recalls daher drastisch gesenkt werden.
Ausblick: Neue Zielkrankheiten
Vergleicht man die Screeningprogramme verschiedener Länder, so fällt aus deutscher Sicht auf, dass deren Panels zum Teil deutlich umfangreicher sind. So werden z. B. im US-amerikanischen RUSP (recommended uniform screening panel) 32 primäre Zielkrankheiten (core conditions) und 26 differenzialdiagnostisch relevante Merkmale (secondary conditions) gelistet[5]. Auch wenn man über Sinn und Unsinn der Suche nach so vielen, extrem seltenen Zielkrankheiten sicher streiten kann, enthält die Liste doch zwei Erkrankungen, über deren Einführung auch in Deutschland diskutiert wird: schwere angeborene Immundefekte („SCID"-Screening) und Sichelzellkrankheiten.
Beim SCID-Screening quantifiziert man mit molekulargenetischen Methoden zirkuläre DNA-Fragmente, die bei der Reifung von T-Lymphozyten (T-cell receptor excision circles: TRECs) bzw. B-Lymphozyten (kappa-deleting recombination excision circles: KRECs) gebildet werden. Dabei korreliert die Anzahl der TRECs mit der Zahl der T-Zellen und erlaubt die Detektion von T-Lymphopenien, wie sie im Rahmen von schweren Immundefekten gefunden werden. Über erniedrigte KRECs als Marker einer B-Lymphopenie können weitere Immundefekte erfasst werden.
Ziel ist es, schwere Immundefekte wie etwa T-B- SCID, T-B+ SCID, leaky SCID, variant SCID, XLA u. a. zu erfassen. Auch hier gilt, dass sich bei auffälligem Screening weiterführende Laboruntersuchungen anschließen müssen, um eine endgültige Diagnose zu stellen.
Das Sichelzellscreening soll behandlungsbedürftige Patienten mit Sichelzellerkrankung und anderen signifikanten Hämoglobinopathien bzw. Thalassämien identifizieren. Ursache können unterschiedlichste Mutationen sein. So kann es sich um homozygote Träger des Sichelzellhämoglobins HbS, compound-heterozygote HbS-Anlageträger in Kombination mit anderen anomalen Hämoglobinen (HbC, HbE, HbO u. a.) oder Patienten mit einer β-Thalassaemia major handeln.
Methodisch erfolgt zumeist eine Auftrennung der Hämoglobinvarianten in der HPLC oder Kapillarelektrophorese. Massenspektrometrische oder molekulargenetische Verfahren sind ebenfalls verfügbar, werden jedoch seltener eingesetzt.
Deutschland holt auf
Für das SCID-Screening liegt bereits ein Antrag beim gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) vor, der seinerseits das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWIG) mit einer Nutzenbewertung beauftragt hat. Die Veröffentlichung des Abschlussberichts wird für Januar 2017 erwartet[7].
Das Sichelzellscreening ist in klassischen Einwanderungsländern wie Großbritannien oder Frankreich längst etabliert, gewinnt nun aber auch in Deutschland durch verstärkte Zuwanderung an Bedeutung. Man schätzt, dass inzwischen 150.000 bis 200.000 Träger der HbS-Anlage in Deutschland leben[6]. Deshalb ist nun ein nationales Pilotprojekt geplant, das in Kooperation zwischen dem Konsortium Sichelzellkrankheit der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) und der DGNS durchgeführt werden soll. Im Falle eines Erfolgs ist auch hier eine deutschlandweite Einführung denkbar.
Dr. med. Richard Mauerer
SYNLAB Medizinisches Versorgungszentrum Weiden GmbH