Das Rektumkarzinom repräsentiert etwa ein Drittel aller kolorektalen Karzinome, die in westlichen Nationen sowohl in puncto Inzidenz als auch in puncto krebsbedingte Todesfälle an zweiter Stelle unter allen Krebserkrankungen liegen [3]. Im Gegensatz zum Kolonkarzinom, bei dem strahlentherapeutische Strategien eine eher untergeordnete Rolle spielen, sind diese beim Rektumkarzinom in Kombination mit Chirurgie und Chemotherapie gleichermaßen von Bedeutung [4].
Das Rektumkarzinom der UICC-Stadien II/III (Stadium cT3/4 und/oder klinisch positive Lymphknoten) wird, sofern der Tumor im unteren oder mittleren Rektum-Drittel liegt, nach internationalen und nach der aktuell gültigen deutschen S3-Leitlinie „Kolorektales Karzinom“, mit einer neoadjuvanten Radiochemotherapie oder einer Kurzzeit-Radiotherapie, gefolgt von einer totalen mesorektalen Exzision (TME), behandelt [1]. Diese Therapiestrategie hat zwar zu einer signifikanten Verbesserung der lokalen Kontrolle, nicht jedoch zu einer Verminderung der Fernmetastasierungsrate geführt. Das Metastasierungsrisiko ist mit 25–30 % immer noch hoch, obwohl die Empfehlung besteht, postoperativ eine adjuvante Chemotherapie anzuschließen. Ein Grund für die unbefriedigenden Therapieergebnisse ist die mangelnde Patienten-Compliance für eine adjuvante Chemotherapie – entweder aufgrund des Patientenwunsches, keine weitere Therapie durchführen zu wollen, oder aufgrund von Nebenwirkungen durch die vorangehende Radiochemotherapie und Operation. Das hat zur Folge, dass die Therapie nur in etwas mehr als der Hälfte der Fälle tatsächlich komplettiert wird [5].
Um eine Verbesserung des krankheitsfreien Überlebens und letztlich des Gesamtüberlebens zu erzielen, müsste eine Intensivierung der systemischen Therapie erreicht werden. Eine Strategie besteht darin, die Strahlentherapie wie auch die systemische Therapie vor der Resektion zu applizieren. Dieses Vorgehen wird unter dem Begriff der totalen neoadjuvanten Therapie (TNT) zusammengefasst.
Ein weiterer Vorteil dieser intensivierten neoadjuvanten Therapie könnte in der Möglichkeit liegen, bei mehr Patienten ein organerhaltendes Vorgehen zu ermöglichen. Während die chirurgische Tumorresektion beim Kolonkarzinom meist keine oder nur vorübergehende negative Folgen für den Patienten hat, ist das beim Rektumkarzinom anders. Hier leidet ein Großteil der Patienten nach tiefer anteriorer Rektumresektion an funktionellen Einschränkungen, die vor allem die Kontinenzleistung betreffen. Da die Ampulla recti als wichtiges Element des Kontinenz-organs nach Resektion fehlt und funktionell auch nicht ersetzt werden kann, kann es zu vielfältigen Problemen in puncto Stuhlfrequenz, Vorwarnperiode und Diskriminierungsvermögen kommen [6].
Weil diese Folgen der Rektumchirurgie, die unter dem Begriff low anterior resection syndrom (LARS) zusammengefasst werden, praktisch unvermeidlich sind, besteht ein wesentliches Ziel beim nicht-metastasierten Rektumkarzinom darin, Strategien zu entwickeln, die nicht nur den Erhalt des Schließmuskels, sondern im Idealfall des kompletten Kontinenzorgans ermöglichen. Durch die TNT kann eine höhere Rate an pathologisch bestätigten Komplettremissionen (pCR) erreicht werden als mit einer konventionellen neoadjuvanten Therapie. Das eröffnet letztlich die Chance auf ein Watch-and-wait-Konzept oder zumindest eine verlängerte TME-freie Zeit [7].
Totale neoadjuvante Therapie (TNT): neues, präferiertes Therapiekonzept
Der Begriff TNT beschreibt die Ergänzung der präoperativen Radiochemotherapie (RChT) um eine zusätzliche präoperative Systemtherapie. Diese kann entweder als Induktionstherapie vor oder als Konsolidierungstherapie nach der R(Ch)T gegeben werden.
Das Jahr 2020 stellte im Hinblick auf die Bedeutung der TNT beim nicht-metastasierten Rektumkarzinom einen Wendepunkt dar. Bei der ASCO-Jahrestagung 2020 wurden gleich drei große Studien zu lokal fortgeschrittenen Tumoren vorgestellt, die praxisverändernd waren. Zusammen mit einer zu diesem Zeitpunkt bereits vorliegenden Studie der Arbeitsgemeinschaft Internistische Onkologie (AIO), der Arbeitsgemeinschaft Radiologische Onkologie (ARO) und der Chirurgischen Arbeitsgemeinschaft Onkologie (CAO) der Deutschen Krebsgesellschaft (CAO/ARO/AIO-12) führte dies dazu, dass die TNT in einer konsentierten Stellungnahme der AIO, ARO und der Fachgesellschaft Assoziation Chirurgische Onkologie (ACO) in der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie e. V. als präferierte Behandlungsoption bei Patienten mit lokal fortgeschrittenem Rektumkarzinom empfohlen wird [8].
Bereits 2019 hatte sich in der Phase-II-Studie CAO/ARO/AIO-12 die Sequenz „RChT gefolgt von Konsolidierungschemotherapie“ der Vergleichssequenz „Induktionschemotherapie gefolgt von RChT“ hinsichtlich der pCR als überlegen erwiesen – bei vergleichbarer Toxizität und vergleichbarer chirurgischer Morbidität [9]. Die multizentrische, randomisierte Studie im Pick-the-Winner-Design basierte auf der Hypothese, dass durch eine TNT eine pCR von 25 % erreichbar ist, im Vergleich zu der bisher beschriebenen Rate von 15 % durch eine präoperative R(Ch)T. Dazu wurden 311 Patienten mit Rektumkarzinomen in den Stadien II oder III entweder für die Induktionstherapie mit drei Zyklen Fluorouracil, Leucovorin und Oxaliplatin gefolgt von einer Fluorouracil/Oxaliplatin-basierten R(Ch)T mit 50,4 Gy (Gruppe A) oder für eine Konsolidierungs-Chemotherapie mit den gleichen Substanzen und Dosierungen nach R(Ch)T (Gruppe B) randomisiert. Eine pCR wurde bei 17 % in Gruppe A und bei 25 % in Gruppe B erreicht. Somit erfüllte nur die Gruppe B (p < 0,001), nicht aber die Gruppe A (p = 0,210) die vordefinierte statistische Hypothese [9], was die Überlegenheit des Konsolidierungs- gegenüber dem Induktionsansatz nahelegt.
Studien untermauern Bedeutung der TNT, speziell im Konsolidierungs-Setting
Die beim ASCO 2020 vorgestellten und inzwischen voll publizierten Studien untermauerten die Datenlage zur TNT und legten nahe, dass der Nutzen besonders groß ist, wenn die Therapieintensivierung präoperativ als Konsolidierung nach der neoadjuvanten RChT erfolgte.
Die Phase-III-Studie RAPIDO verglich die TNT-Strategie, hier bestehend aus präoperativer Radiotherapie mit 5 x 5 Gy gefolgt von 4,5 Monaten FOLFOX oder CAPOX und TME in Woche 22–24, mit einer Standard-RChT ohne Induktions- oder Konsolidierungs-Therapie (Capecitabin-basierte RChT gefolgt von TME in Woche 14–16 und optional postoperative Chemotherapie mit CAPOX oder FOLFOX über 24 Wochen) [10].
Die pCR-Rate betrug 28 % versus 14 % zugunsten der TNT (Odds Ratio 2,40; p < 0,001). Darüber hinaus wurde eine ebenfalls überlegene Rate im Hinblick auf den primären Studienendpunkt krankheitsbedingtes Behandlungsversagen dokumentiert (DrTF; definiert als lokoregionäres Rezidiv, Fernmetastasierung, Entstehen eines neuen Primärtumors im Darm oder behandlungsbedingter Tod). Nach drei Jahren betrug die kumulative Wahrscheinlichkeit eines DrTF 23,7 % im experimentellen Arm versus 30,4 % im Standardarm (HR 0,79; p = 0,019; Abb. 1).