Die Rolle des angeborenen Immunsystems bei COVID-19: ein zweischneidiges Schwert

Die Reaktionen des angeborenen Immunsystems spielen für das Verständnis der COVID-19-Erkrankung eine entscheidende Rolle. Die hochkomplexe Maschinerie aus korpuskulären und löslichen Elementen ist einerseits die erste Abwehrlinie gegen das Virus, kann sich aber bei schweren Verlaufsformen auch gegen den Wirtsorganismus richten. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen – insbesondere zur Rolle des Komplementsystems – werden derzeit Erfolg versprechende therapeutische Strategien entwickelt.

Schlüsselwörter: Angeborenes Immunsystem, COVID-19, Thrombo-Inflammation, Komplementsystem

Seit dem ersten Auftreten von COVID-19 in China ist noch nicht einmal ein Jahr vergangen, aber der Wissenszuwachs um diese Erkrankung ist so enorm, dass es auch Fachleuten inzwischen schwerfällt, den Überblick zu behalten. Schlug in der Anfangszeit die Stunde der Epidemiologen und Virologen, so sind nun zunehmend auch Immunologen gefordert, ihren Beitrag zum Verständnis der Krankheit zu leisten und das erworbene Wissen – so schwer das angesichts der Komplexität des Immunsystems sein mag – in verständlichen Worten zu vermitteln. Exakt diesem Ziel soll der vorliegende Fortbildungsartikel dienen.
Aktuell steht das erworbene (adaptive) Immunsystem im Zentrum der öffentlichen Diskussion, beispielsweise rund um den Fragenkomplex, ob bei symptomarmen Verläufen ausreichend Antikörper zur Entwicklung einer Immunität gebildet werden und welche Rolle die T-Zell-Immunität spielt. Zudem richten sich unter dem gesundheitspolitischen Druck, eine erneute Welle der exponentiellen Ausbreitung zu vermeiden, viele Hoffnungen auf die COVID-19-Impfung, die eine anhaltende Immunität herstellen und das gesellschaftliche Leben wieder normalisieren soll.
Vergleichsweise wenig Aufmerksamkeit schenkt die Öffentlichkeit dem angeborenen (innaten) Immunsystem. Dabei sollte seiner Erforschung gerade bei Infektionen mit einem so neuartigen Virus wie SARS-CoV-2 eine überragende Rolle zukommen, denn die angeborenen Abwehrmechanismen reagieren extrem schnell und sind auch gegen Pathogene effektiv, mit denen die Bevölkerung noch nie in Berührung kam. Eine adaptive Immunantwort kann ja naturgemäß erst erfolgen, wenn der Wirtsorganismus den Erreger bereits kennt. Im Fall von COVID-19 benötigt eine wirksame Antikörperbildung je nach Intensität der Erkrankung Tage bis Wochen.

Komplexes Netzwerk

Die angeborene Immunität ist – was die Anzahl der beteiligten Akteure betrifft – komplexer als das erworbene Immunsystem, das vor allem auf den Aktionen von T- und B-Lymphozyten (inkl. Produktion von Antikörpern) basiert (Abb. 1).

Zur ersten Abwehrlinie gehören unterschiedlichste Zellen1 und membran­umschlossene Partikel2 sowie Makro­moleküle (Proteine und Nukleinsäuren)3 und niedermolekulare Substanzen4. Zudem existiert in allen Körperzellen eine speziell gegen Viren gerichtete Nukleinsäureimmunität5 [2]. Sie erkennt fremde RNA- und DNA-Strukturen (PAMPs = pathogen-associated molecular patterns),  kann Viren an der Replikation hindern und diese über die Aktivierung von Effektor-Immunzellen (beispielsweise NK-Zellen) zerstören. In der nächsten Ausgabe von Trillium Immunologie widmet sich ein eigener Beitrag der Nuklein­säureimmunität gegen SARS-CoV-2 und den Tricks, die das Virus anwendet, um dieser Immunität zu entgehen.
Bei einer CoV-2-Infektion spürt das komplizierte Netzwerk des angeborenen Immunsystems Viren und infizierte Zellen innerhalb von Minuten auf und beseitigt sie im günstigsten Fall innerhalb weniger Stunden. Nach Phagozytose der Eindringlinge durch dendritische Zellen und Makrophagen sowie – im Fall einer pulmonalen Beteiligung – durch Alveolarepithelien werden u. a. Chemo- und Zytokine (z. B. Interferone α und β, Interleukin 6, Chemokine der CC-, CXC- und CX3C-Familien) ins Blut bzw. das Alveo­larsekret ausgeschüttet. Diese locken weitere Abwehrzellen an und lösen eine Kaskade biochemischer Reaktionen aus, die vor allem der lokalen Zerstörung infizierter Zellen durch verschiedene Zelltodmechanismen dienen (siehe grauen Kasten unten).
Das angeborene Immunsystem ist allerdings ein zweischneidiges Schwert, denn durch seine Aktionen kann es zu überschießenden Reaktionen kommen, die den Organismus zusätzlich schädigen. Die Gefahr für den Wirtsorganismus liegt in einer Vielzahl von Enzymen (z. B. Proteasen, Oxidasen, Phospholipasen) und niedermolekularen Substanzen (z. B. freie Sauerstoffradikale), die zwar fremde Pathogene eingrenzen, aber auch die körpereigenen Strukturen belasten.

Ausgewählte Komponenten des angeborenen Immunsystems

1    Granulozyten, Monozyten, Makrophagen, natürliche Killerzellen, dendritische Zellen,
Endothelzellen, Alveolarzellen, Fibroblasten
2    Thrombozyten, extrazelluläre Mikro- und Nanovesikel
3    Komplementfaktoren, Chemo- und Zytokine, Akutphasenproteine, Oxidasen, Proteasen, Phospholipasen, Kinine, Defensine, NETs (neutrophile extracellular traps), DAMPs (damage-associated molecular patterns)
4    ROS (reactive oxygen species), Stickstoffmonoxid, Phospholipide (z. B. PAF = plättchen­aktivierender Faktor)
   RIG-I (retinoic acid inducible gene I), Viperin, Toll-like receptors, NOD-like receptor

Zwei Verlaufsformen

Fest steht, dass das Virus für den ini­tialen Schritt, also das Eindringen in die Zellen, das transmembrane Protein ACE2 (angiotensin-converting enzyme) als Anker benötigt. ACE2 wird in zahlreichen Körperzellen, darunter auch in den Alveolar- und Endothelzellen der Lunge, exprimiert. Die Aufnahme in die Zellen erfolgt durch Bindung des S-Proteins von CoV-2 an diesen Rezeptor, wobei eine Art Initialzündung durch die in denselben Zellen exprimierte Protease TMPRSS2 erforderlich ist [3].
Vereinfachend kann man den weiteren Verlauf von COVID-19 in zwei Formen einteilen: leichte Erkrankungen, die symptomarm bleiben oder allenfalls mit grippeähnlichen Symptomen wie Husten und Fieber bis zu 14 Tage dauern, und schwere Fälle, die in der zweiten bis dritten Woche unter zunehmender Atemnot in ein septisches Geschehen mit Lungen- und Multiorganversagen übergehen können und in einem relativ hohen Prozentsatz letal enden (Abb. 2).

Während in der Frühphase der Erkrankung die direkten Auswirkungen der Virusinfektion im Vordergrund stehen, werden die schweren Verlaufsformen vor allem durch eine Überreaktion des angeborenen Immunsystems geprägt. Ein durchaus plausibles Krankheitsmodell aus der Berliner Charité geht davon aus, dass es zu Beginn der Infektion zu einer Art Wettlauf zwischen Virus und Immunsystem kommt [4]: Eine hohe initiale Exposition, verbunden mit einer zu geringen primären Immunantwort in den oberen Luftwegen, erlaubt es demnach dem Virus, die Alveolarzellen der Lunge zu erreichen, ehe das adaptive Immunsystem auf diese Attacke ausreichend reagieren konnte. Die Autoren schreiben (sinngemäß): „Wenn SARS-CoV-2 die Blockade dieser angeborenen Immunität überrennt, kann sich das Virus ohne lokale Gegenwehr vermehren und eine Pneumonie hervorrufen. Die verzögerte, dann aber übersteigerte Immunabwehr löst eine schwere Entzündung mit Mediatorkaskaden aus und führt so zu Komplikationen, die eine Intensivbehandlung erfordern und bei manchen Patienten tödlich verlaufen“.

Pathogenese

Diese übersteigerte Abwehrreaktion basiert bei COVID-19 offenbar auf einer besonders intensiven und komplexen Wechselwirkung zwischen Entzündung und Gerinnung, denn ein erheblicher Teil der schweren Symptomatik wird durch eine disseminierte Endotheliitis und Mikrothrombosierung in der Lunge und anderen Organen bestimmt [5]. Diese Interaktion firmiert in der Literatur unter dem Begriff Thrombo-Inflammation (engl. auch immuno­thrombosis) [6].
Die zugrundeliegenden Vorgänge sind so komplex, dass es schwerfällt, sie in eine stringente zeitliche Reihenfolge zu bringen. Alle in Abb. 1 aufgeführten Komponenten der primären Immunantwort greifen wie die Zahnräder eines Uhrwerks ineinander. So phagozytieren zum Beispiel chemotaktisch angelockte Granulozyten Erreger und stoßen, während sie selbst untergehen, aus ihrem Zellkern lange Fäden aus DNA und Proteinen aus, die sog. NETs. Diese „extrazellulären Fallen“ (extracellular traps) verhindern die Ausbreitung der Infektion und fördern Entzündungs- und Gerinnungsvorgänge, die über Zytokine, Komplementfaktoren, Thrombozyten u. ä. positiv rückgekoppelt sind. So kann es schließlich geradezu explosionsartig zu der beschriebenen Thrombo-Inflammation kommen, die das klinische Bild der schweren COVID-19-Verlaufsformen prägt. Ein eindeutiger Startpunkt ist bei solch einer Kaskade in der Regel nur schwer auszumachen.
Die befallenen Endothel- und Alveo­larzellen sind nicht nur für den Gasaustausch und die Bildung des Surfactant in der Lunge bedeutsam, sondern auch ein wichtiger Bestandteil des angeborenen Immunsystems. ACE2 selbst gehört nicht zu diesem System, steht aber unter seinem Einfluss: Die Expression von ACE2 wird durch Interferon α hochreguliert [3], sodass die Dichte auf der Zellmembran zunimmt und zugleich auch die Konzentration im Blut ansteigt. Ersteres erleichtert dem Virus den Zutritt in die Zellen, letzteres bindet freie Viren, sodass ACE2 zugleich als Brandbeschleuniger und Löschmittel anzusehen ist. Zu dieser fragilen Balance kommen nun auch noch die im obigen Krankheitsmodell beschriebenen Media­tor­kaskaden, was die Frage nach Henne und Ei weiter verkompliziert.

Die Komplementhypothese

Schon frühzeitig im Verlauf der Pandemie fiel auf, dass sich das akute Lungenversagen bei COVID-19 klinisch und histopathologisch vom ARDS bei anderen septischen Zuständen unterscheidet: Die virusbedingte Schädigung der Alveo­larepithelien ist weniger prominent, aber die entzündliche Mikrothrombosierung der Lungenkapillaren umso ausgeprägter – ein möglicher Grund dafür, dass die Hypoxie im Krankheitsverlauf später eintritt und dafür längere mechanische Beatmung erfordert.
Pathologen aus New York entdeckten bei der Autopsie verstorbener COVID-19-Patienten in den Kapillaren Ansammlungen des Akutphasenproteins MBL (Mannose-bindendes Lektin) und einer damit verknüpften Serinprotease (MASP-2) sowie von Komplementfaktoren (C4d, C5b–9 = membrane attack complex) [7]. Dazu passend fand eine chinesische Arbeitsgruppe heraus, dass neben der Bindung des viralen S-Proteins an ACE2 noch eine zweite Bindungsstelle existiert, nämlich zwischen dem N-Protein und exakt dieser Protease MASP-2 [8]. Dies bewirkt eine Aktivierung des Komplementsystems über den Lektin-Weg (Abb. 3).

Dabei entstehen aus C5 die beiden aktiven Spaltprodukte C5a, das vor allem humorale Reaktionen der Entzündung auslöst, und C5b, das in erster Linie der Zerstörung infizierter Zellen dient.
Demnach könnte am Anfang des schweren Krankheitsgeschehens die Überaktivierung der Komplementkaskade durch direkte Bindung des N-Proteins an den C5-Aktivator MASP-2 stehen – mit vielfältigen Folgereaktionen von lokaler Zellschädigung in der Lunge bis hin zu den systemischen Auswirkungen eines Zytokinsturms. Ähnlich schwere, durch C5-Aktivierung ausgelöste Krankheitsbilder kennt man bereits von anderen Infektionskrankheiten wie etwa dem hämolytisch-urämischen Syndrom (HUS) bei EHEC-Infektionen und seinen atypischen Varianten (aHUS) [9].
Weitere Unterstützung erhält die Komplement-Hypothese durch eine kurz vor Redaktionsschluss publizierte Studie schwedischer Wissenschaftler [10], die zeigen konnten, dass CoV-2 bei schweren Verläufen auch an das vermehrt aus der Leber ins Blut ausgeschüttete MBL bindet. Dieses wiederum aktiviert die MASP-Proteine und wirkt so nicht nur als Verstärker der Komplementkaskade, sondern auch der Blutgerinnung [10].

Therapeutische Aspekte

Aus der Zusammenschau ergibt sich somit womöglich ein wichtiges Puzzle-Teil zur Pathophysiologie und damit auch zur Therapie der schweren Verlaufsformen von COVID-19.
Zwei Wirkstoffe, die die Überreaktion des Komplementsystems verhindern könnten, befinden sich aktuell in der klinischen Erprobung:

  • AMY-101, ein Hemmstoff der C3-Aktivierung [11]
  • Eculizumab/Ravulizumab, ein Hemmstoff der C5-Aktivierung [12]

Die AMY-101-Studie befindet sich noch in Phase 2, die Ravulizumab-Studie bereits in Phase 3 (erwartetes Studien­ende im nächsten Februar). Schon im August publizierte eine internationale Arbeitsgruppe vorläufige vergleichende Daten zur therapeutischen Hemmung von C3 und C5, die auf einen positiven Ausgang dieser klinischen Studien hoffen lassen [13]: Die beiden Wirkstoffe, die man aus der Behandlung anderer Komplement-abhängiger Krankheitsbilder (PNH, aHUS) bereits kennt, wurden an einem kleinen Kollektiv von ARDS-Patienten mit nachgewiesener COVID-19-Infektion getestet und führten zu weitgehend übereinstimmenden Resultaten. Es kam innerhalb von 48 Stunden zu einem deutlichen anti-inflammatorischen Effekt (IL-6, CRP) und zu einem Rückgang der biochemisch erfassbaren Gewebeschädigung (LDH). Die pulmonale Situation besserte sich bei allen Patienten; im Mittel konnte die Sauerstoffunterstützung nach 13 bzw. 10 Tagen beendet werden. Im Blutbild zeigte sich als prognostisch günstiges Zeichen innerhalb einer Woche eine Zunahme der Lymphozyten- und Thrombozytenzahl sowie (nur bei AMY-101) eine Abnahme der Neutrophilen.
Eine weitere therapeutische Strategie betrifft die nachgelagerte Interleukinausschüttung. Um den gefürchteten Zytokinsturm zu verhindern, werden die IL-6-Rezeptorblocker Tocilizumab [14] und Sarilumab [15] in mehreren Phase-3-Studien getestet. Erste Ergebnisse fielen allerdings wenig befriedigend aus: Die Komplikations- und Sterberaten von Intensivpatienten ließen sich nicht signifikant verringern. Immerhin zeigte sich jedoch, dass die mittlere Dauer des Intensivaufenthalts und der Beatmung bei den überlebenden Patienten von etwa vier auf drei Wochen sank. Dieser Befund gibt Hoffnung, dass geeignete Therapie­schemata helfen, extrem lange Intensivzeiten mit hoher Beanspruchung von Beatmungsgeräten zu vermeiden und so der Überlastung der Intensivkapazitäten bei großen Ausbrüchen, wie sie beispielsweise in der Lombardei oder in New York auftraten, entgegenzuwirken.

Autoren
Prof. Dr. med. Georg Hoffmann (korr. Autor)
Trillium GmbH Medizinischer Fachverlag
Prof. Dr. med. Rudolf Gruber
KH Barmherzige Brüder Regensburg
Dr. Hans-Jürgen Kolde
Consulting Diagnostics •
Biomedicine • Lifesciences, Seefeld
Prof. Dr. Lutz G. Gürtler
Max von Pettenkofer-Institut, München
Aus der Rubrik