Immunität gegen SARS-CoV-2: Die Vielschichtigkeit des immunologischen Gedächtnisses

Seit Menschengedenken wissen wir, dass Menschen eine einmal überstandene Infektionskrankheit selten ein zweites Mal bekommen, sie sind immun gegen den Infektionserreger. Doch erst jetzt beginnen wir zu verstehen, wie sich unser Immunsystem die Erreger merkt und uns wirkungsvoll gegen erneute Infektionen schützt. Gedächtnis-Lymphozyten des Immunsystems erkennen diese Krankheitserreger, einige reagieren schnell und effektiv bei einer erneuten Konfrontation, andere sorgen für schützende Antikörper. Einige sitzen im Gewebe, das zuerst befallen wird, andere im Knochenmark, um über das Blut den ganzen Körper zu schützen. Durch Kontakt zu bestimmten Ammenzellen werden sie ein Leben lang erhalten. So kann sich das Immunsystem vielschichtig an die Krankheitserreger unserer Umgebung anpassen – und das tut es offenbar auch bei SARS-CoV-2.

Schlüsselwörter: SARS-CoV-2, COVID-19, reaktive Immunität, protektive Immunität, immunologisches Gedächtnis

Die Fähigkeit, sich an einmal erlebte Krankheitserreger zu erinnern und uns dauerhaft vor einer erneuten Infektion mit diesem Krankheitserreger zu schützen, das immunologische Gedächtnis, ist eine der eindrucksvollsten Eigenschaften unseres Immunsystems. Wie mächtig, zeigen uns die Erfolge der Impfstoffentwicklung in den letzten 100 Jahren. Noch im 20. Jahrhundert starben weltweit geschätzt 375 Millionen Menschen an Pocken, bis 1978. Seitdem gelten Pocken als ausgerottet [1]. Durch die Impfung hatten genügend Menschen ein spezifisches, schützendes Immungedächtnis aufgebaut und das Virus konnte sich nicht mehr verbreiten. Heute gibt es wirksame Impfstoffe gegen immer mehr Infektionskrankheiten. Die Hoffnung ist groß, dass es bald auch effektive Impfungen gegen SARS-CoV-2 geben wird, den Erreger der Covid-19-Pandemie. In der öffentlichen Diskussion über Immunität gegen SARS-CoV-2 wird aber auch klar, dass das, was wir über die Grundlagen der Immunität wissen, zwar veröffentlicht [2], aber nicht öffentlich bekannt ist, und mehr noch, dass unser Wissen immer noch sehr begrenzt ist.

Die primäre Immunreaktion

Spezifische Immunität wird durch B- und T-Lymphozyten verkörpert, die einzigartige Rezeptoren haben, die Antigenrezeptoren. Im Fall einer Infektion werden B- und T-Lymphozyten von anderen Zellen des Immunsystems alarmiert,deren Rezeptoren Strukturen erkennen, die Krankheitserreger von menschlichen Zellen unterscheiden. Diese Zellen nehmen die Infektionserreger auf, zerlegen sie, zeigen sie den T-Lymphozyten und aktivieren die T-Lymphozyten, die diese Erreger erkennen (Abb. 1).

Das sind zunächst nur sehr wenige, denn T-Lymphozyten haben mehr als 1 Million verschiedene Antigenrezeptoren, jeder nur einen. Die wenigen aktivierten T-Lymphozyten vermehren sich und aktivieren ihrerseits B-Lymphozyten, die den Infektionserreger erkennen. Diese Zellen sind ebenfalls selten, denn auch sie haben mehr als 1 Million verschiedene Antigenrezeptoren, jede Zelle nur einen bestimmten. Die B-Lymphozyten vermehren sich dann ebenfalls, und viele beginnen als sogenannte „Plasmazellen“, ihre Antigenrezeptoren als Antikörper in großen Mengen zu sezernieren. Je nachdem, welche Struktur des Infektionserregers die Antikörper erkennen und um welche Art von Antikörpern es sich handelt, können diese Antikörper dann die Krankheitserreger neutralisieren, aggregieren, für Fresszellen markieren (opsonisieren) oder befallene Zellen lysieren. Auch T-Lymphozyten können befallene Zellen lysieren; darüber hinaus sezernieren sie Botenstoffe, die Fresszellen und Granulozyten anlocken und aktivieren. Die primäre Immunreaktion der B- und T-Lymphozyten ist zwar spezifischer als die Reaktion der Zellen des angeborenen Immunsystems, sie ist aber auch sehr viel langsamer, weil die spezifischen Zellen erst einmal aktiviert und von den Zellen des angeborenen Immunsystems instruiert, und dann aus wenigen Vorläuferzellen vermehrt werden müssen.

Das reaktive immunologische Gedächtnis

Entscheidend für die Ausbildung eines immunologischen Gedächtnisses ist, dass bei der Interaktion von T- und B-Lymphozyten die aktivierten Zellen epigenetisch geprägt werden. Sobald die Antigenrezeptoren nicht mehr aktiviert werden, das Antigen also erfolgreich eliminiert wurde, werden die aktiven Gene der Zellen so markiert, dass sie durch erneute Konfrontation mit dem Antigen sofort wieder angeschaltet werden können. Nach der Eliminierung des Infektionserregers sterben rund 90 % der aktivierten T- und B-Lymphozyten, aber etwa 10 % werden zu langlebigen „Gedächtnis“-Lymphozyten. Das sind immer noch sehr viel mehr, als ursprünglich vorhanden waren. Sie überleben im Gewebe: einige in den Geweben, die infiziert worden waren, andere im Knochenmark. Sie ruhen neben bestimmten mesenchymalen Stromazellen, von denen sie vermutlich durch direkten Zellkontakt lebenslang erhalten werden [2, 3]. In Blut und Lymphe findet man auch zirkulierende Gedächtniszellen, welche die Lymphknoten, die Milz und andere sekundäre lymphoide Organe überwachen. Ihre Rolle ist nicht sehr klar, denn schon 1963 konnte James Gowans zeigen, dass eine zweite Immun­antwort gegen ein bestimmtes Antigen nicht von zirkulierenden Gedächtnis-Lymphozyten abhängig ist [4]. Interessanterweise sterben offenbar die meisten Plasmazellen nach primären Immunreaktionen, denn ein Großteil der Antikörper gegen den Infektionserreger verschwindet innerhalb von Monaten wieder. Es gibt Ausnahmen, Immunreaktio­nen, bei denen etwa 10 % der Antikörper auch langfristig erhalten bleiben. In der Regel wird nach einer Primärinfektion allerdings nur ein „reaktives“ immunologisches Gedächtnis aus vermehrten Anti­gen-erfahrenen Gedächtnis-B- und T-Lymphozyten gebildet, die bei einer erneuten Infektion sofort und epigenetisch vorprogrammiert reagieren können. Die Infektion verläuft milder, oft kommt es gar nicht zu klinischen Symptomen.

SARS-CoV-2 induziert ein reaktives immunologisches Gedächtnis

Dieses „klassische“ Szenario der Bildung eines reaktiven immunologischen Gedächtnisses im Verlauf einer Primärantwort trifft offenbar auch auf SARS-CoV-2 zu. Bei einer Erstinfektion kommt es zur Bildung von Gedächtnis-T-Lymphozyten [5–7] und es ist davon auszugehen, dass auch Gedächtnis-B-Lymphozyten gebildet werden. Viele Infizierte entwickeln Antikörper der Klassen IgG und IgA, auch solche, die das Virus neutralisieren und seine Bindung an die menschlichen Zielzellen verhindern. Bei mit SARS-CoV-1 Infizierten waren drei und zwölf Jahre nach der Infektion nur noch wenige Antikörper im Serum nachweisbar und es ist unklar, inwiefern diese Antikörper vor Reinfektion schützen [8, 9]. Bei SARS-CoV-2 gibt es noch keine zuverlässigen Untersuchungen darüber, wie lange die Antikörper der Primärinfektion erhalten bleiben, doch gibt es Vermutungen, dass auch hier, insbesondere bei leichten Infektionsverläufen, die Anzahl der Antikörper rasch wieder sinkt [10, 11].

Sekundäre Immunreaktionen

Kommt es zu einer erneuten Infektion mit dem gleichen oder einem nahe verwandten Erreger, nachdem die Antikörper der ersten Infektion verschwunden sind, oder überschreitet die Dosis des Infektionserregers jene Dosis, die durch die Antikörper neutralisiert werden kann, kommt es zu einer zweiten (sekundären) Immunreaktion. Die bereits vermehrten Gedächtnis-B- und T-Lymphozyten des reaktiven Gedächtnisses reagieren sofort und ohne weitere Instruktionen durch Zellen des angeborenen Immunsystems. Jetzt zeigen die aktivierten B-Lymphozyten den T-Lymphozyten die Antigene. Die reaktivierten Gedächtnis-Lymphozyten proliferieren erneut und exprimieren die Gene, die in der ersten Immunreaktion mit dem Verschwinden des Infektionserregers assoziiert waren. Die sekundäre Immunreaktion ist schneller und wirkungsvoller als die Erst­reaktion, die Symptome der Infektion sind schwächer. Wieder entwickeln sich aktivierte B-Lymphozyten zu Antikörper-sezernierenden Plasmazellen. Doch diesmal können auch die Plasmazellen selbst zu Gedächtniszellen werden.

Das protektive immunologische Gedächtnis

Aktivierte Gedächtnis-B-Lymphozyten, die sich zu Gedächtnis-Plasmazellen entwickeln, wandern dazu ins Knochenmark, wo sie wie Gedächtnis-B- und T-Lymphozyten einzeln an mesenchymale Stromazellen andocken. Dieser Zellkontakt hält sie am Leben und ermöglicht ihnen, unsere Schleimhäute, Blut und Lymphe über Jahrzehnte mit Antikörpern zu schützen [12]. Dieser Schutz verhindert Infektionen bereits im Ansatz, denn die Infektionserreger werden abgefangen, bevor sie die Zellen unseres Körpers infizieren können. Von besonderer Bedeutung sind dabei sekretorische Antikörper der Klasse IgA, denn sie werden durch die Schleimhäute auf die Außenseite transportiert und schützen so die Schleimhäute selbst, unsere empfindlichste Kontaktfläche zur Außenwelt. Antikörper der IgG-Klassen können das nicht, sie schützen unser Innenleben und verhindern, dass sich das Virus im Körper ausbreitet. Sie können auch Schaden anrichten, eine Immunpathologie, die man nur unzureichend versteht. So wurde für SARS-CoV beschrieben, dass IgG-Antikörper gegen das Spikeprotein die Heilungsprozesse der akuten Lungenverletzung blockieren können [13].
Wie die Zellen des reaktiven immunologischen Gedächtnisses, die B- und T-Gedächtnis-Lymphozyten, repräsentieren auch die Gedächtnis-Plasmazellen nur rund 10 % aller in einer Immunreaktion gebildeten Antigen-spezifischen Zellpopulationen, in diesem Fall der Plasmazellen. Folglich sinkt der Spiegel der Antikörper im Blut nach einer sekundären Immunreaktion in den nachfolgenden Monaten um bis zu 90 % ab, bleibt dann aber über Jahre und Jahrzehnte stabil. Oft wird bei der experimentellen oder klinischen Erfassung des protektiven Gedächtnisses diese Dynamik nicht berücksichtigt und es werden Antikörperkonzentrationen aus der akuten Phase der Immunreaktion und ihrem Nachhall über die nächsten sechs Monate, in denen die Antikörper der akuten Reaktion noch präsent sind, mit Konzentrationen der Zeit danach verglichen, wenn nur noch die Antikörper des protektiven Gedächtnisses vorhanden sind. Dann wird extrapoliert und es kommt zu Trugschlüssen über die (In)stabilität des Gedächtnisses, und zu falschen, zu kurzen „Halbwertszeiten“.

Immunität ist relativ und adaptiv

Im Zusammenspiel passt sich unser reaktives und protektives immunologisches Gedächtnis nicht nur spezifisch an die Art, sondern auch an die Menge eines Infektionserregers in unserer Umgebung an. Eine bestimmte Zahl an Gedächtnis-Plasmazellen schützt uns vor einer bestimmten Dosis des Infektionserregers. Werden wir mit einer höheren Dosis infiziert, können wir aus Gedächtnis-B-Lymphozyten mehr Gedächtnis-Plasmazellen generieren und die Antikörperspiegel so an die neue Situation anpassen (Abb. 2).

SARS-CoV-2 und das protektive immunologische Gedächtnis

Die Bildung eines protektiven Antikörper-Gedächtnisses setzt eine hohe Durchseuchung der Bevölkerung voraus, die wiederholte Infektion einzelner Individuen oder die Persistenz des Infektionserregers im einzelnen Individuum, und zwar so lange, bis primäre und sekundäre Immunreaktionen direkt nacheinander ablaufen. So entstehen in einer zweiphasigen Immunreaktion erst Gedächtnis-B-Lymphozyten und aus reaktivierten Gedächtnis-B-Lymphozyten dann Gedächtnis-Plasmazellen. Beides trifft auf SARS-CoV-2 offenbar nicht zu. Sekundäre Infektionen sind selten, weil die Durchseuchung der Bevölkerung gering ist; das Virus verschwindet in den meisten Infizierten nach wenigen Tagen und die induzierten Antikörper sind bei vielen innerhalb von Monaten nach der Infektion nicht mehr messbar. Bei einer erneuten Infektion würde das reaktive immunologische Gedächtnis den Krankheitsverlauf jedoch deutlich abmildern. SARS-CoV-2 verhält sich hier wie viele andere Viren, zumindest in den Infizierten, in denen es nicht zu einem schweren klinischen Verlauf kommt. Um ein stabiles protektives immunologisches Gedächtnis durch neutralisierende Antikörper gegen SARS-CoV-2 zu erreichen, gäbe es die Möglichkeit, der Pandemie ihren Lauf zu lassen und so durch sekundäre Immunreaktionen protektive Antikörper zu induzieren. Angesichts der COVID-19-assoziierten Morbidität und Mortalität sowie der Tatsache, dass weder Dosis noch Route oder Zielpersonen der Infektion kontrollierbar sind, ist dieser Weg eher kritisch zu betrachten. Impfstoffe können dagegen ohne drastische Nebenwirkungen wiederholt gegeben werden, um gezielt primäre und sekundäre Immunreaktionen und damit ein stabiles protektives immunologisches Gedächtnis zu induzieren und dabei die Bildung krankheitsverstärkender Antikörper zu vermeiden. Mehr noch, Impfstoffe können so dosiert werden, dass die Antikörper auch hohe Dosen des Infektionserregers effektiv neutralisieren können. Die Hoffnung ist berechtigt, dass auch bei SARS-CoV-2 ein Impfstoff entscheidend zur Beendigung der Pandemie beitragen wird.

 

Autoren
Prof. Dr. Andreas Radbruch (korr. Autor)
Dr. Hyun-Dong Chang (links)
Dr. Mir-Farzin Mashreghi (rechts)
Deutsches Rheuma-Forschungszentrum Berlin