Lipiddiagnostik: Grenzwerte für Cholesterin auf dem Prüfstand
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2025.01.04Die Betonung strenger Grenzwerte für Gesamt- und LDL-Cholesterin hat dazu geführt, dass in Laborbefunden heute kaum jemals Referenzintervalle (RI) angegeben werden. Dieser Informationsverlust kann mit Standardverfahren zur RI-Berechnung aus Routinemesswerten behoben werden. Dabei muss jedoch auf mögliche Störungen der Methodik durch schlecht abgrenzbare Hyperlipidämien sowie die Gabe lipidsenkender Medikamente geachtet werden.
Schlüsselwörter: Cholesterin, LDL, Referenzintervall, indirekte Verfahren, Maschinelles Lernen
Kein Screeningprogramm der Laboratoriumsmedizin hat in der Gesundheitsversorgung größere Bedeutung erlangt als die Cholesterinbestimmung für die Primär- und Sekundärprävention von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Die aktuellen Leitlinien der European Society of Cardiology (ESC) und der American Heart Association (AHA) betonen dabei besonders die Senkung des LDL-Cholesterins als wichtigsten Risikofaktor für Herzinfarkt und Schlaganfall [1].
Referenzgrenzen und Aktionswerte
Vor diesem Hintergrund überrascht es, wie wenig Beachtung in der aktuellen Literatur den Referenzgrenzen für Gesamtcholesterin und LDL-Cholesterin geschenkt wird. Die Älteren unter uns erinnern sich womöglich noch an eine Faustregel aus den 1970er-Jahren, wonach ein Gesamtcholesterin von „200 mg/dl plus Lebensalter“ normal sei. In der Folgezeit wurde dieser Grenzwert allerdings aufgrund von großen Bevölkerungsstudien schrittweise auf 200 mg/dl (5,2 mmol/l) gesenkt [2].
Hierbei handelt es sich definitionsgemäß nicht um eine Referenzgrenze, sondern um einen „Aktionswert“ [3]. Er ist ein klares Signal, diagnostisch und/oder therapeutisch aktiv zu werden. Im vorliegenden Fall wird empfohlen, bei Cholesterinwerten über 200 mg/dl eine differenzierte Lipiddiagnostik durchzuführen.
Wie im Kasten auf der nächsten Seite dargestellt, geht es vor allem um die Einhaltung bestimmter Grenzwerte für LDL-Cholesterin, die ebenfalls Aktionsgrenzen und keine Referenzgrenzen darstellen. Die Aktion besteht in diesem Fall darin, leitliniengerechte lipidsenkende Maßnahmen zu ergreifen.
Die Betonung von Aktionsgrenzen bei der Lipiddiagnostik hat dazu geführt, dass Laboratorien in ihren Befunden so gut wie nie Referenzintervalle angeben, sodass diese heute weitgehend in Vergessenheit geraten sind. Dies ist aus medizinischen, informationstechnischen und statistischen Gründen ein Verlust, da man dadurch möglicherweise eine diagnostisch bedeutsame Cholesterinverminderung bei Leber- und Schilddrüsenerkrankungen übersieht. Zudem kann man keine standardisierten zlog-Werte für die universelle Speicherung von Lipidwerten in der elektronischen Patientenakte oder für die Datenauswertung mit maschinellen Lernverfahren berechnen.
Neue Empfehlung der DGKL
In diese Informationslücke stießen kürzlich Haeckel et al. [3] mit einer Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsdiagnostik (DGKL). Die Autoren befürworten den Einsatz indirekter statistischer Verfahren zur Bestimmung von Referenzintervallen für Cholesterin und seine wichtigsten Subfraktionen (Beispiele in Tab. 1).
Tab. 1: Geschlechts- und altersabhängige Referenzintervalle für Gesamtcholesterin und LDL-Cholesterin nach Haeckel et al. [3] (gerundete Anhaltswerte für hospitalisierte Personen).
Kohorte | Gesamtcholesterin | LDL-Cholesterin | ||
---|---|---|---|---|
Geschlecht, Alter (in Jahre) | mg/dl | mmol/l | mg/dl | mmol/l |
Frauen 20–39 | 117–266 | 3,0–6,9 | 53–188 | 1,4–4,9 |
Frauen 40–65 | 109–288 | 2,8–7,5 | 51–212 | 1,3–5,5 |
Frauen 66–100 | 104–302 | 2,7–7,8 | 44–213 | 1,1–5,5 |
Männer 20–39 | 103–258 | 2,7–6,7 | 47–183 | 1,2–4,7 |
Männer 40–65 | 91–281 | 2,4–7,3 | 37–201 | 1,0–5,2 |
Männer 66–100 | 87–263 | 2,3–6,8 | 38–190 | 1,0–4,9 |
Der Charme dieser indirekten Verfahren besteht darin, dass sie die Definition der gesunden Referenzpopulation nicht von einem zeit- und kostenintensiven medizinischen Auswahlprozess abhängig machen, sondern mit routinemäßig erhobenen Messwerten aus dem Laborinformationssystem arbeiten können. An diese werden statistische Modellverteilungen angepasst [4–6].
Die damit verbundene organisatorische Vereinfachung wird allerdings mit dem Nachteil erkauft, dass die indirekten Verfahren durch Erkrankungen, Medikamente und andere äußere Bedingungen in schwer vorhersagbarer Weise beeinflusst werden können. Im vorliegenden Fall wären zum Beispiel die vor allem bei älteren Personen massenhaft verordneten Lipidsenker zu nennen, deren Einnahme in der Studie nicht kontrolliert wurde.
Aus diesem Grund haben wir die Ergebnisse mit den Softwarepaketen reflimR und refineR [5, 6] anhand eigener Daten überprüft (Abb. 1 und 2) und mit einem maschinellen Lernverfahren nach Hinweisen auf mögliche methodische Störungen gefahndet (Abb. 3 links und rechts; nächste Seite).

Abb. 1: Geschlechts- und altersabhängige Referenzintervalle für Gesamtcholesterin, die aus Routinewerten mit zwei verschiedenen indirekten Verfahren, reflimR und refineR, bestimmt wurden [5, 6].
Rot: Frauen, blau: Männer. Die farbigen Bänder entsprechen dem medizinisch erlaubten Toleranzbereich [7]; die Gerade spiegelt die Faustregel „Referenzobergrenze = 200 mg/dl plus Lebensalter“ wider.

Abb. 3: Verteilungszerlegung von LDL-Cholesterin mit einem maschinellen Lernverfahren am Beispiel jüngerer Frauen und älterer Männer. Die linke Gesamtdichtekurve (gestrichelt) legt aufgrund der klar erkennbaren Schulter eine Zelegung in zwei Cluster nahe. Bei der rechten Dichtekurve ist keine Schulter erkennbar, sodass hier mehr als zwei überlappende Cluster angenommen werden sollten.
Wir konnten bestätigen, dass die Referenzobergrenzen nur bis zu einem Alter von etwa 50 Jahren ansteigen und dann konstant bleiben oder sogar leicht abfallen.
Die höchsten Grenzwerte für Gesamtcholesterin lagen im Bereich von 300 mg/dl (rund 8 mmol/l) und waren somit höher, als es nach der Faustformel „200 mg/dl plus Lebensalter“ zu erwarten gewesen wäre.
Medizinisch relevante Unterschiede zwischen den Geschlechtern fanden sich bei den Obergrenzen nur im höheren Lebensalter. Für LDL-Cholesterin verliefen die Referenzgrenzen weitgehend parallel zu denen für Gesamtcholesterin (Abb. 2). Die Zielwerte aus Tab. 2 sind hier gestrichelt eingezeichnet; sie liegen alle in der unteren Hälfte des Referenzintervalls.
Maschinelle Verteilungszerlegung
Wie eingangs erwähnt, sind indirekte Verfahren anfällig gegen pathologische Messwerte, deren Verteilung so nahe an den Referenzgrenzen liegt, dass sie mit statistischen Verfahren nicht sauber abgetrennt werden können. In der Tat legten die Werteverteilungen in unserer Studie nahe, dass dies bei Cholesterin und LDL-Cholesterin der Fall sein könnte, denn deren Histogramme und Dichtekurven wiesen auffällige Verbreiterungen nach rechts hin zu erhöhten Werten auf. Daraus ergab sich der Verdacht, dass die oberen Referenzgrenzen der Tab. 1 sowie der Abb. 1 und 2 möglicherweise zu hoch geschätzt wurden.
Um diese Hypothese zu belegen, haben wir ein maschinelles Lernverfahren namens mclust angewendet [8], das eine beliebige Verteilung in darin verborgene Unterverteilungen zerlegen kann. Diese folgten einem vorgegebenen mathematischen Modell – im vorliegenden Fall einer Log-Normalverteilung. Abb. 3 stellt zwei typische Ergebnisse unserer Analyse am Beispiel jüngerer Frauen und älterer Männer dar. Man sieht links eine Zerlegung in zwei, rechts in drei Subkollektive.
Diese (rein mathematisch begründeten) Kollektive lassen sich physiologisch interpretieren: In beiden Fällen errechnete der Computer jeweils ein Referenzintervall, das einer gesunden Population ohne erhöhtes Risiko entspricht (49 bis 135 bzw. 50 bis 133 mg/dl). Zusätzlich ergab sich eine Kurve mit erhöhten Werten, die weit in die Verteilung dieser „Normalpersonen“ hineinreichte und deshalb von reflimR und refineR nicht abgetrennt werden konnte. Im Fall der älteren Männer (Abb. 3; rechtes Bild) erhielten wir ein drittes Kollektiv mit auffällig niedrigen LDL-Cholesterinwerten von 25 bis 87 mg/dl, die auf eine lipidsenkende Therapie hinweisen könnten.
In der Originalpublikation [8] wird ausdrücklich betont, dass diese Verteilungszerlegung kein Ersatz für eine statistisch korrekte Berechnung von Referenzgrenzen ist. Das Maschinelle Lernen erklärt nur, warum die von Haeckel et al. [3] und auch von uns ermittelten oberen Referenzgrenzen für Cholesterin und LDL-Cholesterin möglicherweise etwas zu hoch sind. Für eine saubere Analyse müsste in diesem Fall ein direktes Verfahren angewendet werden, das nur Referenzpersonen ohne Erkrankungen des Fettstoffwechsels und ohne Therapie mit Lipidsenkern berücksichtigt.
Fazit
Unsere Studie soll in Übereinstimmung mit den Empfehlungen der DGKL dazu ermutigen, neben den allgemein akzeptierten Aktionsgrenzen für Cholesterin und LDL-Cholesterin auch den Referenzintervallen wieder größere Beachtung zu schenken. Unsere Ergebnisse bestätigen, dass man hierfür überschlägige Berechnungen aus Routinemesswerten durchführen kann, machen aber auch deutlich, dass deren Ergebnisse nicht unkritisch übernommen werden dürfen.