Von der Vergangenheit in die Zukunft

Vor exakt 100 Jahren führte der Reichsgesundheitsrat mit den „Leitsätzen für eine sparsame und doch sachgemäße Behandlungsweise der Kranken durch Aerzte“ in Deutschland die erste medizinische Leitlinie ein. Auf Anregung des Sachverständigenrats für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen wurde die Idee 1993 wieder aufgegriffen, und seither erarbeiteten beispielsweise die Mitgliedsgesellschaften der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) hunderte fachspezifische medizinische Leitlinien [1].

Im Unterschied zu Richtlinien wie der RiliBÄK beruhen Leitlinien nicht auf einer gesetzlichen Grundlage, sondern sind Handlungsempfehlungen, die den Erkenntnisstand der Medizin zu einem bestimmten Zeitpunkt wiedergeben [3]. Letzteres bedeutet, dass Leitlinien regelmäßig aktualisiert und an den gegenwärtigen Stand der Forschung angepasst werden müssen, wie es nach über 20 Jahren bei der europäischen Urinanalyse-Leitlinie zu Laborverfahren für die Urinanalyse und Urinbakterienkultur der European Confederation of Laboratory Medicine (ECLM) geschehen ist.

Auch der Beitrag zur Diagnostik bei peri­prothetischen Infektionen von Dr. Alexander Röhrl stützt sich auf europäische Leitlinien. Für die Diagnostik der Hämaturie existieren Leitlinien der AWMF. Wie so oft ist hier eine Stufendia­gnostik angezeigt, um die Kosten so gering wie möglich zu halten. Zudem veröffentlichen wir tabellarische Übersichten zur chemisch-physikalischen Teststreifenanalyse und zur Partikelanalyse.

Neben den finanziellen Mitteln sind auch die personellen Ressourcen in der Labormedizin gegenwärtig alarmierend knapp. Hier gibt es verschiedene Lösungsansätze: So sollen beispielsweise Betroffene mittels Selbsttest bestimmte Erkrankungen bereits zu Hause ausschließen und mit dem dadurch entfallenden Besuch der Hausarztpraxis das Gesundheitssystem entlas­ten. Zudem könnte die Hemmschwelle für die Testung auf sexuell übertragbare Infektio­nen sinken und Infektionsketten könnten schneller unterbrochen werden. Problematisch bei Selbsttests ist aber die Präanalytik und die bisher fehlende unabhängige Qualitätskontrolle für solche Assays. Eine definitive Diagnose darf weiterhin nur auf Ergebnisse aus einem medizinischen Labor gestützt werden.

Seit über 20 Jahren wird die Labor­automation zur Entlastung des Laborpersonals eingesetzt [3]. Geräte für die Automatisierung der Mikrobiologie finden Sie in diesem Heft. Unterstützung erhalten diese Geräte durch zahlreiche Softwarelösungen. Gegenwärtig reichen die Möglichkeiten von Order-Entry über Middleware und Prozessüberwachung bis hin zu Expertensystemen für die medizinische Entscheidungsfindung.

Wie Sie den Fachbeiträgen in unserem Schwerpunkt entnehmen können, findet die Künstliche Intelligenz (KI) zunehmend Eingang in die Labormedizin. Wir zeigen anhand von praktischen Beispielen, wie man die Vielfalt etablierter Algorithmen auf reale labormedizinische Datensätze anwenden kann und welche publizierten und kommerziellen Softwareprodukte es bereits gibt. Deshalb sind in den nächsten Jahren und Jahrzehnten enorme Fortschritte zu erwarten. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass KI auch bei der Evaluation neuer Biomarker wie Kynurenin oder der Aktualisierung der oben genannten Leitlinien in Zukunft eine Rolle spielen wird.

Autor
Dr. med. vet. Sabine Ramspott
Chefredakteurin