Geschlechtsunterschiede bei der Immunreaktion: Fluch und Segen
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2021.04.08Aufgrund von genetischen Unterschieden ist die männliche Immunreaktion geringer ausgeprägt als die weibliche. Dies zeigt sich sowohl im angeborenen als auch im erworbenen Immunsystem und hat Auswirkungen auf die Immunreaktion nach einer Impfung. Unterschiede in der Immunreaktion sind beispielsweise dafür verantwortlich, dass 80 % der Autoimmunkrankheiten bei Frauen auftreten und die Mortalität bei COVID-19 bei Männern 1,4-mal höher liegt.
Schlüsselwörter: B-Zellen, NK-Zellen, T-Zellen, ILC, APC, Testosteron, Östrogen, Mikrobiota
Die Immunreaktion wird von vielen Faktoren beeinflusst, ein wesentlicher ist das Alter. Bis zum Alter von ca. zehn Jahren gibt es kaum einen Unterschied zwischen beiden Geschlechtern. Im Alter von 15 bis 65 Jahren laufen bei Frauen Immunreaktionen stärker ab, verbunden mit höherer Immunglobulin-Produktion, höherer CD4+-Zellzahl und T-Zell-Aktivierung, während bei Männern die NK- und CD8+-Zellen höher sind. Ab 65 Jahren sind NK- und B-Zellzahlen bei Frauen höher mit einer weiterhin höheren Immunglobulin-Produktion, während dann Immunreaktionen von CD8+-T-Zellen bei Männern stärker verlaufen [1, 2].
Genetische Unterschiede
Auf dem X-Chromosom liegen ca. 1.000 Gene, von denen 10 % die Immunreaktion beeinflussen [3], auf dem Y-Chromosom sind dies nur ca. 2 %. Über das X-Chromosom werden zudem ca. 80 Micro-RNA (miRNA) und Long-non-coding-RNA (lncRNA) transkribiert, die unter der Kontrolle der Geschlechtshormone stehen und an der Immunregulation teilnehmen. Auf dem X-Chromosom liegen die Gene für die gamma-Kette des IL-2-Rezeptors, für die alpha-Kette des IL-3- und IL-13-Rezeptors sowie für die Toll-like-Rezeptoren (TLR) 7 und 8, den GATA-1-Transkriptionsfaktor, IRAK-1 (IL-1 Rezeptor-assoziierte-Kinase), CD40-Ligand (exprimiert auf aktivierten T-Zellen und zur TNF-Superfamilie gehörend = CD154) und FoxP3 (Forkhead-Box-Protein 3, das die Funktion von T-Zellen reguliert, von anti-cancer bis autoimmun) [1, 2]. Generell gesehen ist die männliche Immunreaktion aufgrund dieser Unterschiede zwischen dem X- und Y-Chromosom geringer als die weibliche ausgeprägt.
Dies mag u. a. auch dazu beitragen, dass 80 % der Autoimmunkrankheiten bei Frauen auftreten. Eine der Ursachen von Autoimmunität sind sog. innate lymphoide Zellen (ILCs), die an der Regulation der Immunantwort beteiligt sind und bei überschießender Reaktion körpereigene Zellen zerstören. Die Immunreaktion wird über die Sexualhormone reguliert, wobei Östrogen immunstimulierend ist, indem es die chemotaktische Aktivität und Aktivierung von Makrophagen steigert und die Zahl der B-Zellen sowie ihre Immunglobulinsynthese erhöht. So kann eine verstärkte Immunreaktion gegen körpereigene Zellstrukturen ausgelöst werden. Progesteron reduziert dagegen die Immunreaktion, auch wenn es die Zahl der NK-Zellen erhöht.
Testosteron bindet an den Androgen-Rezeptor und führt zur IL-10-Freisetzung von Lymphozyten sowie zu einer höheren TLR-Präsentation auf Neutrophilen. IL-10 wirkt im Gegensatz zu den meisten anderen Zytokinen antiinflammatorisch und verlangsamt die Immunglobulin-Produktion [2].
Angeborenes Immunsystem
Viele der hier angeführten Geschlechtsunterschiede betreffen das angeborene Immunsystem, das sehr schnell, aber relativ unspezifisch auf körperfremde Substanzen reagiert. Zu den Phänomenen, die beim weiblichen Organismus stärker als beim männlichen ausgeprägt sind, gehören speziell die TLR-7-Expression, die Effektivität der Antigen-präsentierenden Zellen (APC), die Aktivität der dendritischen Zellen und ihre Interferon-Aktivierung (IRF5 = interferon regulatory factor 5); ebenso ist die Phagozytose-Kapazität von Makrophagen und Neutrophilen erhöht.
Erworbenes Immunsystem
Im weiblichen Organismus gibt es eine höhere Zahl von B-Zellen, die mehr Immunglobulin produzieren als im männlichen Organismus; insbesondere mehr CD4-Zellen, die sich besser aktivieren lassen. Typische Autoimmun-Krankheiten bei Frauen, die meist über molecular mimicry ausgelöst werden, sind z. B. die Hashimoto-Thyreoiditis, der Morbus Basedow, die Multiple Sklerose, der Systemische Lupus Erythematodus und die Rheumatische Arthritis. Auch ein aggressiverer Infektionsverlauf und Neigung zur Chronizität und Persistenz von Viren wird bei Frauen beobachtet. Dies gilt in unseren Breiten vor allem für Hepatitis B und C, weltweit auch für Hantavirus und West Nil Virus [1, 2, 4]. Nach neuesten Beobachtungen tritt auch das Post-COVID-19-Syndrom (Long COVID) häufiger bei Frauen auf [5].
Impfung
Erwähnenswert ist in diesem Kontext auch die stärkere Immunantwort von Frauen gegen Impfantigen bzw. Erregerkomponenten. So wurde bei der Hepatitis-B-Impfung ein höherer Anti-HBs-Titer beobachtet [6]. Ähnliche Geschlechtsunterschiede sieht man auch bei der Masern-, Tollwut-, Varicella-Zoster-, Gelbfieber-, Influenza-, BCG- (Bacterium Calmette-Guerin), Diphterie-, Meningokokken- und Pneumokokken-Impfung. Mit der stärkeren Immunantwort lässt sich auch erklären, dass Nebenwirkungen der Impfung wie Schmerzen an der Einstichstelle, Fieber, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen und Myalgie bei Frauen häufiger angegeben werden [7].
Ausgewählte Beispiele
COVID-19
Die Mortalität von COVID-19 ist bei Männern 1,4-mal höher als bei Frauen [8]. Dafür wird vor allem eine Aktivierung des SARS-CoV-2-Rezeptors ACE2 über Testosteron und den vor (upstream) dem ACE2-Gen liegenden Androgenrezeptor verantwortlich gemacht [9]. Er bewirkt auch eine stärkere Aktivierung der Serinprotease TMPRSS2, die für den Zelleintritt über ACE2 notwendig ist [10].
Hepatitiden
Frauen entwickeln auch bei Hepatitis B und C eine stärkere humorale und zelluläre Immunantwort gegen beide Viren, ebenso nach Impfung gegen HBV. Dagegen treten Fibrose, Zirrhose und hepatozelluläres Karzinom (HCC) hier bei Männern im Verhältnis von ca. 4 : 1 häufiger auf [11].
Mikrobiom
Die größte Zahl von Bakterien der sog. Mikrobiota befinden sich auf der Schleimhaut des Gastrointestinaltraktes, gefolgt von Respirationstrakt und bei Frauen der Vagina. Bakterien, die sich dort vermehren, können über die Produktion von Toxinen Immunzellen aktivieren. Bakterien metabolisieren aber auch Steroidhormone und beeinflussen dadurch die Aktivierung von Zellen über die entsprechenden Rezeptoren [1].
Lipopolysaccharid
Schließlich sei noch das Lipopolysaccharid (LPS, Endotoxin) erwähnt, das von Gram-negativen Bakterien abgegeben wird und die Neutrophilen über TLR-4 aktiviert. Diese LPS-Aktivierung ist bei Männern stärker ausgeprägt [1], was eine fast doppelt so hohe Neigung zu septischen Komplikationen erklären könnte.