Eine interdisziplinäre Praxisempfehlung

Verbesserte Diagnostik des Diabetes mellitus

Die Kommission für Labordiagnostik in der Diabetologie (KLD) erstellt Praxisempfehlungen zur Definition, Klassifikation und Diagnostik des Diabetes mellitus. Unter anderem werden dort Vorgaben der Rili-BÄK zur maximalen Messunsicherheit von Glukose und HbA1c kritisch reflektiert sowie auch die Bedeutung präanalytischer Aspekte erörtert.
Schlüsselwörter:  DGKL, DDG, Variationskoeffizient, Minimal Difference, Citrat, Fluorid

Die Kommission für Labordiagnostik in der Diabetologie (KLD), paritätisch mit Mitgliedern aus der Deutschen Diabetes Gesellschaft (DDG) und der Deutschen Gesellschaft für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin (DGKL) besetzt, erstellt regelmäßig Praxisempfehlungen, die klinisch tätige Ärztinnen und Ärzten bei der Diagnostik des Diabetes mellitus unterstützen. Im Gegensatz zu mehrjährigen Überarbeitungszeiträumen von klassischen Leitlinien haben Praxisempfehlungen den Anspruch der jährlichen Überarbeitung. Das Ziel dieses Formates besteht darin, auf wenigen Seiten übersichtlich den aktuellen Sachstand darzustellen und gegebenenfalls kritisch zu reflektieren.
Die enge interdisziplinäre Zusammenarbeit von klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen sowie den Vertretern der Laboranalytik ermöglicht eine besondere Fokussierung auf das gemeinsame Ziel: Nutzen für den Patienten zu stiften. So haben in die Praxisempfehlungen sowohl Vorgaben zur maximalen Messunsicherheit als auch präanalytische Aspekte Eingang gefunden. Auf der anderen Seite wurde auch auf die praktische Umsetzbarkeit der empfohlenen Maßnahmen geachtet.
Die Diagnosekriterien des Diabetes mellitus machen deutlich, wie eng verwoben Diabetologie und Laboratoriumsmedizin sind:

  • Gelegenheits-Plasmaglukosewert von ≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l)
  • Nüchtern-Plasmaglukose von ≥ 126 mg/dl (≥ 7,0 mmol/l)
  • OGTT-2-h-Wert (OGTT = oraler Glukose-Toleranztest) im venösen Plasma ≥ 200 mg/dl (≥ 11,1 mmol/l)
  • HbA1c ≥ 6,5% (≥ 48 mmol/mol Hb)

Die Verwendung dieser Diagnosekriterien wird in einem Handlungsschema in der Praxisempfehlung  alltagstauglich zusammengefasst (siehe "Leitliniengerechtes Vorgehen bei der Diabetes-Diagnostik" ). Die Vorgaben der Richtlinie der Bundesärztekammer zur Qualitätssicherung laboratoriumsmedizinischer Untersuchungen (Rili-BÄK) wurden gemäß ihrem Anspruch als Mindestanforderungen einbezogen. Die Praxisempfehlungen fordern aber an entscheidender Stelle erheblich strengere Anforderungen an die Messqualität und äußern sich zum Vorgehen bei Messergebnissen in der Nähe der Diagnosekriterien.

Messunsicherheit

Diagnosen, die auf fixierten Bewertungsgrenzen beruhen, stellen eine besondere Herausforderung für die analytische Qualität dar. Ein Ziel der KLD besteht aktuell darin, die Messunsicherheit zu thematisieren, da die Qualität der Diagnostik entscheidend von dem Ausmaß der Mess­unsicherheit abhängt. Im Allgemeinen wird die Messunsicherheit abstrakt anhand eines Variationskoeffizienten (VK) in Prozent angegeben. Der VK berechnet sich aus der Standardabweichung (SD) und dem Mittelwert (x): VK = SD x 100/x. Was sagt es aber einem klinisch tätigen Kollegen, wenn die Glukose im Labor mit einem VK von ±3% bestimmt wird? Möglicherweise vermutet er zu Unrecht, dass die Werte um 3% nach oben und unten schwanken, obwohl der VK ja nur die einfache Standardabweichung beschreibt.
Wesentlich eindeutiger kann die Messunsicherheit im klinischen Alltag durch die „Minimal Difference“ (MD) beschrieben und deren Bedeutung verständlich dargestellt werden. Die MD ist im Gegensatz zum prozentualen VK ein Absolutwert; er berechnet sich aus der Standardabweichung (SD): MD = 2 x SD. In Worten ausgedrückt besagt diese einfache Formel, dass ein Messwert erst dann mit ausreichender Wahrscheinlichkeit von über 95% vom vorgegebenen Grenzwert
(z. B. 200 mg/dl) abweicht, wenn er mehr als zwei Standardabweichungen davon entfernt liegt. Dabei ist zu berücksichtigen, dass sich die SD in Abhängigkeit von der gemessenen Konzentration verändert: Bei niedrigen Werten ist sie üblicherweise geringer als bei hohen Werten. Daher sollte die SD an den Entscheidungsgrenzen ermittelt und für die Berechnung der MD verwendet werden. Man erhält auf diese Weise also konkrete Konzentrationsdifferenzen in absoluten Werten, ab denen sich ein Messwert aufgrund der Messunsicherheit von einem definierten Grenzwert unterscheidet.

Glukosemessung

Dies veranschaulicht Abb. 2: Mit zunehmender Messunsicherheit steigt die MD und erschwert in zunehmendem Maße eine sichere Diagnosestellung, da sich die Trichter überlappen. So kann eine unauffällige Nüchternglukose (< 100 mg/dl) ab einer MD von 12 mg/dl aufgrund der Messunsicherheit nicht mehr sicher von einer auffälligen Nüchternglukose unterschieden werden. Deshalb gilt es, die Anforderungen an die Messgüte bei der Glukosemessung zu verschärfen. Dies entspricht einem Varia­tionskoeffizienten von 6%, was deutlich unter der zulässigen Rili-BÄK-Grenze von ±11% liegt.
Eine sichere Diagnosestellung gelingt nur in dem Bereich, in dem sich die Trichter nicht überlappen. Jenseits davon kann eine eindeutige Zuordnung des Messwertes zu einem der beiden Grenzwerte nicht mehr erfolgen. Dies bedeutet also, dass die Rili-BÄK-Vorgaben für die Glukosebestimmung für den Verwendungszweck der Diabetesdiagnosestellung ungeeignet sind.
Daher sind die Vorgaben in der Praxisempfehlung strenger gefasst: Bei einem Grenzwert für die Nüchternglukose von 126 mg/dl (7,0 mmol/l) sollte die MD nicht größer als 12,6 mg/dl (0,7 mmol/l) sein. Entsprechendes gilt für einen HbA1c-Grenzwert von 48 mmol/mol Hb; hier sollte die MD nicht über 1,9 mmol/mol Hb liegen. Der Minimal Difference widmet sich die KLD in einer gesonderten Stellungnahme auf der Website der DDG. Auch bei Messungen im Rahmen der patientennahen Sofortdiagnostik geht die Praxisempfehlung über die gesetzlichen Mindestanforderungen hinaus und empfiehlt mit Blick auf die Patientensicherheit tägliche Kontrollen im Rahmen der internen Qualitätssicherung sowie eine Teilnahme an der externen Qualitätskontrolle durch Ringversuche. Die Rili-BÄK sieht hier nur wöchentliche Kontrollen und keine Ringversuchspflicht vor, wenn es sich um Systeme mit Unit-use-Reagenzien in der Arztpraxis handelt.

HbA1c-Messung

Kritisch diskutiert wird in der KLD die derzeit von der Rili-BÄK noch zulässige Abweichung in der externen Qualitätskontrolle von ±18% für die HbA1c-Messung. Aufgrund der großen Toleranzbreite bescheinigt die Praxisempfehlung HbA1c eine nur eingeschränkte Eignung für Diagnosezwecke. Erst mit der vorgesehenen Absenkung der maximal erlaubten Abweichung auf ±8%, wie es in anderen europäischen Ländern seit Langem Standard ist, wird eine sinnvolle Nutzung des HbA1c im Rahmen der Diagnostik des Diabetes mellitus in der Krankenversorgung gewährleistet. Nur durch die Verwendung der neuen Kriterien kann die HbA1c-Messung für die Diagnosestellung eingesetzt werden und somit zu einer besseren Patientenversorgung beitragen. Diese strengeren Vorgaben haben in die neue Version der Rili-BÄK, die aktuell überarbeitet wird, Eingang gefunden.

Präanalytik

Neben klinischen Fragen wird auch die Bedeutung präanalytischer Aspekte erörtert. So wird der Einsatz geeigneter Blutentnahmeröhrchen mit adäquater Glykolysehemmung mit einem Zusatz aus Citrat plus Fluorid empfohlen, da Fluorid alleine in der ersten Stunde nach Blutentnahme die Glykolyse nicht hemmt, und damit zu falsch niedrigen Glukosewerten führt. Alternativ kann eine zeitnahe Zentrifugation mit suffizienter Trennung von Plasma und zellulären Bestandteilen, entweder durch Gelröhrchen oder durch Abpipettieren des Plasmas, vorgenommen werden.
Bisher kommerziell erhältliche Blutentnahmeröhrchen mit einer Glykolysehemmung durch Fluorid und Citrat enthalten entweder ein Granulat oder einen flüssigen Zusatz. Daraus ergeben sich jeweils unterschiedliche Konsequenzen für die Präanalytik: Bei einem Zusatz von Granulat muss durch zehnmaliges Schwenken des Röhrchens nach dem Einfüllen des Blutes eine ausreichende Lösung und Durchmischung mit den Glykolysehemmern sichergestellt werden. Bei Röhrchen mit flüssigem Zusatz muss zwar nur wenige Male geschwenkt werden, jedoch kommen hier Verdünnungseffekte zum Tragen. Die Probengefäße müssen bei der Blutentnahme exakt befüllt werden. Nicht korrekt befüllte Röhrchen müssen im Labor von der Analyse ausgeschlossen und ggf. ein Verdünnungsfaktor bei der Ergebnisausgabe berücksichtigt werden. Grundsätzlich bleibt festzustellen, dass bei häufiger Verwendung von Blutentnahmeröhrchen, die eine effiziente Hemmung der Glykolyse nicht gewährleisten, die gemessenen Glukosekonzentrationen oftmals falsch niedrig sind. Daraus ist abzuleiten, dass – bei einer besseren Prä­analytik – der Anteil der Diabetiker in Zukunft allein aus Gründen einer besseren laboratoriumsmedizinischen Diagnostik ansteigen wird.

Fazit

Der Beitrag soll das Bewusstsein dafür stärken, dass Laborwerte einer analytischen Schwankungsbreite unterliegen, und dass diese Unschärfe bei der Diagnostik berücksichtigt werden muss. Darüber hinaus ist er aber auch als Plädoyer für eine verbesserte Analytik auf Seiten der Labordiagnostik und für eine intensive Zusammenarbeit zwischen Labor und Klinik zu verstehen – nicht nur im Bereich der Diabetologie. Die ausgesprochen fruchtvolle interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen der DDG und der DGKL im Rahmen der KLD sollte Aufmunterung sein, auch in anderen Überlappungsgebieten nach klinischen Partnern zu suchen und aktiv zu werden.   

Fallbeispiel

Autoren
PD Dr. med. Dipl.-Biol. Astrid Petersmann
Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin
Universitätsmedizin Greifswald
Prof. Dr. Lutz Heinemann
Science-Consulting in Diabetes GmbH, Neuss
Dr. med. Guido Freckmann
Institut für Diabetes-Technologie, Forschungs- und Entwicklungsgesellschaft mbH
Universität Ulm
Univ.-Prof. Dr. med. Matthias Nauck
Institut für Klinische Chemie und Laboratoriumsmedizin
Universitätsmedizin Greifswald
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