Stellung der neoadjuvanten Therapie beim Rektumkarzinom
Prof. Sebastian Stintzing, Berlin, und Prof. Ralf Hofheinz, Mannheim, ließen in der Arbeitsgruppensitzung Kolon-/Rektum-/Dünndarmtumoren zunächst das Jahr 2020 Revue passieren und verwiesen dabei auf zwei konsentierte Stellungnahmen zum Rektumkarzinom, die ihre Gruppe gemeinsam mit der Assoziation Chirurgische Onkologie (ACO) und der Arbeitsgemeinschaft Radiologische Onkologie (ARO) der DKG erstellt hat.
In der Stellungnahme vom Juli 2020 bewerten die Experten die Bedeutung einer „totalen neoadjuvanten Therapie“ (TNT) beim lokal fortgeschrittenen Rektumkarzinom auf der Basis mehrerer beim ASCO-Meeting 2020 vorgestellten Phase-III-Studien (RAPIDO, PRODIGE 23, OPRA). Unter TNT wird die Ergänzung der präoperativen Radio-(RT) oder Radiochemotherapie (RChT) um eine zusätzliche präoperative Systemtherapie (in Phase-III-Studien bislang nur Chemotherapie) verstanden. Diese Therapie kann vor der R(Ch)T als Induktions- oder danach als Konsolidierungstherapie verabreicht werden. Aufgrund der aktuellen Studiendaten sieht die AIO die TNT als präferierte neue Therapieoption für Patienten mit lokal weit fortgeschrittenem Rektumkarzinom. Im Rahmen der TNT kann die RT laut AIO entweder als Langzeit-RChT unter Beteiligung von Capecitabin oder infusionalem 5-FU oder als 5 x 5 Gy erfolgen. Die Dauer der Konsolidierung (CAPOX oder FOLFOX) sollte 3 bis 4,5 Monate betragen, falls keine klinischen Gründe dagegensprechen. Die TNT mit Konsolidierung sollte laut AIO gegenüber der TNT mit Induktion präferiert werden – nicht nur, weil die 2019 publizierten Daten der CAO/ARO/ AIO-12-Studie dies nahelegen, sondern auch, weil die Daten zum TME(totale mesorektale Exzision)-freien Überleben in der OPRA-Studie unter TNT mit Konsolidierung die Option eines Watch-and-wait-Konzeptes möglich erscheinen lassen.
Genau dieser Fragestellung, nämlich der Bedeutung eines Watch-and-wait-Konzeptes mit intendiertem Organerhalt beim Rektumkarzinom des mittleren und unteren Drittels widmete sich die Stellungnahme von AIO, ACO und ARO, die im Oktober 2020 veröffentlicht wurde. Darin betonen die Experten, dass ein solches Konzept unbedingt in weiteren qualitätsgesicherten Studien auch in Deutschland evaluiert und validiert werden sollte und empfehlen dringend eine Teilnahme an solchen Studien.
Gleichzeitig halten sie die Datenlage schon für ausreichend, um ein Watch-and-wait-Konzept für geeignete Fälle als mögliche Vorgehensweise mit den betroffenen Patienten und innerhalb der multidisziplinären Teams unter Abwägung der Chancen und Risiken zu diskutieren. Dabei sollten sich allerdings alle Beteiligten der offenen Fragen und ebenso der Tatsache bewusst sein, dass bislang noch keine randomisierte Phase-III-Studie zum Organerhalt beim Rektumkarzinom vorliegt.
Als Fazit für die klinische Praxis halten die Experten von AIO, ACO und ARO fest: Nicht nur die primäre Entscheidung für watch and wait, sondern auch alle nach einem solchen Konzept auftretenden Rezidive, also erneutes lokales Tumorwachstum (regrowth), lokale und regionäre Rezidive ebenso wie Fernmetastasen sollen im multidisziplinären Tumorboard besprochen werden. Im Falle eines regrowth ist eine Operation indiziert. Je nach Lokalbefund können dabei lokale Exzisionen (als Vollwandexzision) oder radikale Resektionen mit TME durchgeführt werden. Dabei sei es wichtig, zwischen LE nach subtotaler Remission und LE nach regrowth zu differenzieren. Bei Einhaltung geeigneter Kontrollintervalle (im ersten Jahr im 4-Monats-Takt rektal-digitale Untersuchung, Rekto-Sigmoidoskopie und MRT (Jahr 2–5: 6-Monats-Intervall); CT Thorax und Abdomen alle 6 Monate, ab Jahr 3 alle 12 Monate) gehen die Experten davon aus, dass ausgedehntere, insbesondere multiviszerale Resektionen in der Regel vermeidbar sind. Insgesamt erwarten sie auf der Basis der bisher vorliegenden Daten, dass weder die funktionellen noch die onkologischen Ergebnisse schlechter sind als bei primär operierten Patienten.
Im weiteren Verlauf stellte die äußerst aktive Arbeitsgruppe innerhalb der AIO ihre laufenden und geplanten Studien vor und zur Diskussion. Beim frühen Kolonkarzinom standen die Studien ColoPredict, ATOMIC, Circulate, Neo-BRAF, Antonio und Protector im Fokus, beim metastasierten Kolonkarzinom im palliativen Setting die Studien FIRE-4 bis FIRE-8, Elderly, RAMTAS, GOBLET und MEFOX sowie im Hinblick auf eine sekundäre Resektabilität die Studien PORT und CELIM-4. Details sind auf der AIO-Website abrufbar.
Aktuelle Studien zum HR+, HER2– Mammakarzinom
Für die Arbeitsgruppe Mammakarzinome/gynäkologische Tumoren stellte Prof. Thomas Decker, Ravensburg, aktuelle Studienprojekte vor. Die offene, multizentrische, einarmige Phase-II-Studie IngeB evaluiert die Wirksamkeit und Lebensqualität unter dem CDK4/6-Inhibitor Palbociclib in Kombination mit einem Aromatasehemmer oder mit Fulvestrant nach vorheriger endokriner Therapie bei Frauen mit einem Hormonrezeptor-positiven (HR+), HER2-negativen (HER2–) lokal fortgeschrittenen oder metastasierten Brustkrebs. Die Rekrutierung wurde Anfang 2020 abgeschlossen und knapp 400 Patientinnen wurden eingeschlossen. Wie Decker berichtete, konnten erste Studienergebnisse bereits auf Kongressen präsentiert werden; Vollpublikationen seien in Arbeit.
Als „unser Flaggschiffprojekt" bezeichnete Decker die klinische Tumor-registerplattform OPAL, die umfassende Daten zur Behandlung und zum Outcome von Patientinnen mit einem fortgeschrittenen Mammakarzinom aus der Routineversorgung erhebt. Was OPAL von anderen Registern unterscheide, seien die rein prospektive Orientierung und der qualitätsorientierte Ansatz. Insbesondere würden patient reported outcomes (PROs) professionell erhoben und bewertet.
Die umfangreiche Datenbasis erlaube eine Vielzahl interessanter Analysen. So zeige sich beispielsweise, dass sich CDK4/6-Inhibitoren beim fortgeschrittenen HR+, HER2– Mammakarzinom immer mehr durchsetzen. „80 % der Patientinnen erhalten diese Therapie heute in der Erstlinie, während die Chemotherapie fast schon marginalisiert wurde", so Decker.
Als das „ambitionierteste und vielleicht schwierigste Projekt" der Arbeitsgruppe bezeichnete Decker die Studie RIBBIT. Die randomisierte, offene, zwei-armige Phase-III-Studie untersucht die Wirksamkeit und Lebensqualität von postmenopausalen Patientinnen mit metastasiertem HR+, HER2– Brustkrebs unter einer Erstlinienbehandlung mit dem CDK4/6-Inhibitor Ribociclib in Kombination mit einem Aromatasehemmer im Vergleich zu einer Chemotherapie mit Paclitaxel plus/minus Bevacizumab.
Wie Decker berichtete, gestaltete sich die Rekrutierung der Patientinnen schwierig. Die Anzahl der ursprünglich randomisiert einzuschließenden Frauenwurde von knapp 150 auf 40 reduziert. Die fehlenden Patientinnen sollen auf nicht randomisierte Weise aus dem OPAL-Register ergänzt werden, um die Studie zum Abschluss zu bringen.
Decker: „Die Therapie mit CDK4/6-Inhibitoren ist in der Erstlinie so etabliert, dass es schwierig ist, in diesem Setting noch Studien durchzuführen."
Claudia Schöllmann