Antikörper-vermittelte Erkrankungen des Nervensystems – von Enzephalitis bis Demenz
DOI: https://doi.org/10.47184/ti.2021.03.05Autoantikörper sind in den letzten Jahren als relativ häufige Ursache eines breiten Spektrums neurologischer und psychiatrischer Erkrankungen identifiziert worden. Die Isolierung Patienten-spezifischer monoklonaler Antikörper hat es ermöglicht, die Krankheitsmechanismen zu verstehen, immunologische Signalkaskaden und Triggerfaktoren zu klären und ebnet den Weg für neue Herangehensweisen, z. B. Antikörper-spezifische Immuntherapien.
Schlüsselwörter: Pathogene Autoantikörper, Neuropsychiatrie, NMDA-Rezeptor-Enzephalitis, Diagnostik, selektive Therapie, post-viral
Noch vor 10–15 Jahren hätte niemand gedacht, dass durch die Entdeckung immer neuer anti-neuronaler Autoantikörper ein fundamentales Umdenken in der Neurologie und Psychiatrie eingeleitet werden würde. Seither sind etliche Krankheiten in ihrem Wesen aufgeklärt worden, die zuvor unter fraglichen Diagnosen wie Enzephalitis ohne Erregernachweis, nicht-infektiöse Enzephalopathie oder unter psychosomatischen Erklärungsmodellen behandelt wurden [1]. Allen gemeinsam ist, dass sich bei diesen Erkrankungen aus zum Teil noch ungeklärter Ursache Autoantikörper bilden, die eigenes Hirn- oder Nervengewebe angreifen.
Die NMDA-Rezeptor-Enzephalitis
Den Startschuss für diesen Paradigmenwechsel gab die Entdeckung der NMDA-Rezeptor-Enzephalitis im Jahr 2007 bei mehreren jungen Frauen mit einer schweren Hirnentzündung, psychiatrischen Auffälligkeiten, epileptischen Anfällen und Bewusstseinsstörungen [2]. Im Liquor dieser Patientinnen fanden sich Autoantikörper, die mit den Nervenzellen im gesamten Gehirn reagierten, besonders stark aber mit Nervenfasern im Hippocampus und im Kleinhirn. Die Antikörper sind gegen den sogenannten N-Methyl-D-Aspartat-Rezeptor (NMDAR) gerichtet; einen Glutamatrezeptor, der essentiell für die Hirnfunktion ist, insbesondere für Gedächtnis, Emotions- und Impulskontrolle sowie vegetative Funktionen.
Mittlerweile ist klar, dass NMDAR-Enzephalitis in unseren Breiten die häufigste Autoimmun-Enzephalitis ist. Mehrere tausend Patienten sind inzwischen beschrieben worden, und für Medizinstudenten gehört der sperrige Name inzwischen zum selbstverständlichen Lernstoff. Die NMDAR-Enzephalitis verläuft dabei meist mit sehr ähnlichen Symptomen. Nach einer durch Kopfschmerzen oder Krankheitsgefühl gekennzeichneten Prodromalphase kommt es zu einem schizophreniformen Syndrom. Bei den Patienten wird oft eine Drogen-induzierte Psychose vermutet. Im Verlauf entwickelt die Mehrzahl der Patienten epileptische Anfälle, Hyperkinesien vor allem im Gesicht sowie vegetative Störungen mit Blutdruckkrisen oder Herzstillstand. Einige Patienten benötigen eine lange intensivstationäre Behandlung und Beatmung, dennoch ist die Prognose bei rascher Einleitung einer ausreichend aggressiven Immuntherapie so gut, dass die Mehrheit in Schule oder Beruf zurückkehren kann. Betroffen sind vor allem junge Frauen, aber auch Männer aller Altersklassen und auch Kinder können darunter leiden.
Nachweis der Autoantikörper
Neuere Forschungsergebnisse konnten zeigen, dass die NMDAR-Antikörper direkt pathogen sind [3]. Die Herstellung monoklonaler Antikörper erlaubte den Nachweis, dass die Antikörper selbst zu Veränderungen der Synapsen und damit zu Funktionsstörungen der Neurone führen. Diese Befunde brachten die Erkenntnis, dass Patienten mit einer NMDAR-Enzephalitis möglichst früh und auch ausreichend „aggressiv“ mittels Immuntherapie behandelt werden müssen, um Folgeschäden zu reduzieren. Leider lassen sich diese trotzdem selten ganz verhindern. Die Patienten behalten milde Störungen von Gedächtnis, Stimmung, Aufmerksamkeit oder Affekt zurück.
Im Umkehrschluss macht es der Nachweis genau dieser Autoantikörper vergleichsweise einfach, Patienten mit einer behandelbaren Enzephalitis möglichst früh zu identifizieren. Dazu stehen mehrere Testverfahren zur Verfügung, bei denen man sich die Bindung der Antikörper an ihr Zielprotein zunutze macht. Besonders für Suchtests nach neuen Antikörpern wird Liquor oder Serum der Patienten auf Hirnschnitte einer Maus oder Ratte gegeben, wo die Antikörper spezifisch binden, z. B. an den NMDAR im Hippocampus (Abb. 1).
Verfeinerte Tests mit noch höherer Sensitivität für einen bestimmten Antikörper basieren auf gentechnisch veränderten nicht-neuronalen Zellen, die auf ihrer Oberfläche das Zielprotein in hoher Konzentration aufweisen. Gibt man Serum oder Liquor betroffener Patienten dazu, dann färben sich genau die Zellen an, gegen deren künstlich eingeschleustes Antigen die betroffenen Patienten Antikörper entwickelt haben. Diese Zell-basierten Tests sind mittlerweile der Goldstandard in der Diagnostik antineuronaler Autoantikörper geworden.
Etliche weitere Antikörper entdeckt
Längst kennt man nicht mehr nur den NMDAR-Autoantikörper, sondern etliche weitere anti-neuronale Antikörper (Tab. 1, Abb. 2).
Tab. 1: Die wichtigsten Formen autoimmuner Enzephalitiden mit spezifischen Antikörpern gegen neuronale Oberflächenproteine.
Antigen | Klinische Zeichen | Besonderheiten | Altersverteilung | Tumor |
---|---|---|---|---|
NMDA-Rezeptor | Schizophreniforme Psychose, periorale Dyskinesien, epileptische Anfälle, Koma, Dystonie, Hypoventilation | Zerebrales MRT oft unauffällig, meist Pleozytose im Liquor, Verlangsamung im EEG | Alle Altersgruppen, Gipfel im Kindes- und Jugendalter, 75 % Frauen | Bei Frauen oft Ovarialteratome |
LGI1 | Faziobrachiale dystone Anfälle, Amnesie, Psychose | Mesiotemporale Hyperintensität im MRT, Hyponatriämie | Ältere Patienten (> 40 Jahre) | Selten |
Caspr2 | Neuromyotonie, Morvan-Syndrom | Ähnlich LGI1, keine Hyponatriämie | Ältere Patienten | Thymom möglich |
AMPA-Rezeptor | Epileptische Anfälle, Gedächtnisstörungen, Psychose | Liquor meist auffällig | Erwachsene | Selten (Thymom) |
GABAB-Rezeptor | Epileptische Anfälle sind führend, Gedächtnisstörungen | Pleozytose, MRT-Veränderungen | Erwachsene | Vor allem kleinzelliges Bronchialkarzinom |
mGluR5 | Wesensänderung, emotionale Instabilität | Ophelia-Syndrom | Junge Erwachsene | Hodgkin-Lymphom |
Glyzin-Rezeptor | Kognitive Defizite, Hyperexzitabilität | PERM, Stiff-Person-Syndrom | Ältere Erwachsene | Selten |
Jeder von diesen steht für ein eigenständiges Krankheitsbild mit unterschiedlichen klinischen Symptomen und variablem Schweregrad. So kommen bei der zweithäufigsten Form Antikörper gegen LGI1 vor, ein lösliches Protein in der Nähe spannungsgesteuerter Kaliumkanäle mit zentraler Funktion für den Aufbau von Synapsen im Nervensystem. Entsprechend der anatomischen Verteilung leiden die Patienten mit einer LGI1-Antikörper-Enzephalitis an Schädigungen der Schläfenlappen mit Gedächtnisstörungen, psychiatrischen Auffälligkeiten, epileptischen Anfällen und einer Hyponatriämie. Besonders häufig sind ältere Männer betroffen. Zunehmend werden Patienten mit LGI1-Antikörpern identifiziert, bei denen eine Demenz im Vordergrund der Beschwerden steht, die zunächst als Alzheimer-Erkrankung oder frontotemporale Demenz eingeschätzt wurde. In diesen Fällen ist die korrekte und zügige Diagnostik besonders wichtig, da eine unterlassene Immuntherapie unvermeidlich zu bleibenden schwersten Gedächtnisstörungen führt.
Zu den weiteren Antikörpern zählen solche gegen GABAA- und GABAB-Rezeptoren, die bei betroffenen Patienten vor allem epileptische Anfälle auslösen. Antikörper gegen Glycin-Rezeptoren sind vor allem mit überschießender Erregbarkeit der Nerven assoziiert, was sich in Schreckhaftigkeit, Reflexsteigerung und einschießenden Muskelspasmen zeigt. Einige Antikörper führen besonders häufig zu psychiatrischen Störungen, hinter denen zunächst eine Psychose oder Schizophrenie vermutet wird. Dazu gehören Antikörper gegen den AMPA-Rezeptor, Neurexin-3α oder den metabotrophen Glutamatrezeptor 5 (mGluR5). Die Vorhersage des Antikörpers ist allerdings selbst bei charakteristischen Verläufen schwierig, sodass heute immer mehr eine Paneldiagnostik mit gleichzeitiger Testung der häufigsten Antikörper stattfindet. Prinzipiell wäre eine Testung auf möglichst viele der bereits bekannten Antikörper sinnvoll; aus Kostengründen findet aber in aller Regel eine Gewichtung anhand von Risikofaktoren statt. Für Patienten mit Psychosen und Demenzen gehören zu diesen Risikofaktoren beispielsweise autonome Störungen, ein rasches Voranschreiten, Bewegungs- oder Bewusstseinsstörungen, das Vorliegen anderer Autoimmunerkrankungen (z. B. Hashimoto-Schilddrüsenerkrankung) oder neurologische Ausfälle [4].
Nicht unerwähnt bleiben sollen die „klassischen“ Antikörper gegen intrazelluläre Strukturen von Nervenzellen, z. B. Anti-Hu, -Yo (Abb. 2 E–F), -Ma2, -Ri oder -Amphiphysin. Sie können ebenfalls wichtigster diagnostischer Baustein einer Enzephalitis sein, sind aber nicht direkt die Auslöser der Erkrankung, da sie anders als die oben beschriebenen Antikörper nicht an neuronale Oberflächen binden. Bei diesen sogenannten onkoneuronalen Antikörpern liegt sehr häufig ein Tumorleiden zugrunde, vor allem Mamma- oder Bronchialkarzinome, Lymphome, Melanome oder Ovarialkarzinome.
Die Ursache ist erst in wenigen Fällen bekannt
Bei einigen Patienten spielen Tumoren für die Krankheitsentstehung eine besondere Rolle. Bei Frauen mit einer NMDAR-Enzephalitis liegt in ca. 30 % ein Teratom der Eierstöcke zugrunde, dessen Zellen Nervengewebe mit NMDA-Rezeptoren exprimieren. Offenbar greift das Immunsystem den Tumor durch eine eigentlich positive Bildung von Antikörpern an, die dann aber auch überall dort Schaden anrichten, wo NMDA-Rezeptoren ursprünglich vorkommen.
Eine zweite Ursache wurde bei Patienten mit einer Herpes-Enzephalitis entdeckt [5]. Prospektive Daten ergaben, dass sogar in 27 % der Fälle einer Hirnentzündung mit Herpes-simplex-Virus Typ 1 Patienten nach wenigen Wochen erneut eine schwere Symptomatik entwickeln, die an einen Rückfall erinnert. In Wirklichkeit kommt es dabei aber zu einer sekundären Bildung von NMDAR-Antikörpern, die eine Autoimmun-Enzephalitis auslösen [6]. Bei Kindern führt diese zu Bewegungsstörungen, während bei Erwachsenen psychiatrische und Gedächtnisstörungen im Vordergrund stehen. Auch hier muss die zügige Labordiagnostik die Abgrenzung zwischen einer Virusdiagnostik mittels PCR und einer Antikörper-Diagnostik mittels Zell-basierten Tests erbringen, da sich die Therapie fundamental unterscheidet.
Offenbar können auch andere Viren (Epstein-Barr-Virus, Hepatitis-Viren) zur Bildung von NMDAR-Antikörpern führen. Besonderes Augenmerk fiel in der Corona-Pandemie auf SARS-CoV-2. Das Virus scheint bei neurologisch schwer betroffenen Patienten regelmäßig zur Bildung anti-neuronaler Autoantikörper zu führen [7]. Dabei könnten Defekte in immunologischen Checkpoints ebenso eine Rolle spielen wie „molekulares Mimikry“, da einige SARS-CoV-2-neutralisierende Antikörper offenbar mit Säugetier-Proteinen kreuzreagieren [8]. Die interessanteste Frage ist daher, ob schon kleine Virusmengen oder sogar unbemerkte Infektionen ausreichen, das Immunsystem zur Bildung von Autoantikörpern zu stimulieren. Vielleicht sind sogar milde klinische Syndrome darauf zurückzuführen, die bisher nicht als autoimmun interpretiert wurden, z. B. Unterformen von Gedächtnisstörungen, Fatigue oder Depressionen?
Grundlage für neue Therapieansätze
Die derzeitige Behandlung von Patienten mit Antikörper-vermittelten Enzephalitiden, Psychosen und Demenzen basiert auf einer relativ breiten Immunsuppression, beispielsweise mit Steroiden, therapeutischer Apherese (Plasmapherese und Immunadsorption) und Chemotherapien (wie Cyclophosphamid), aber auch der selektiven Depletion von B-Zellen mittels monoklonaler therapeutischer Antikörper gegen die Oberflächenproteine CD20/CD19 oder der Reduktion von Plasmazellen durch den Proteasominhibitor Bortezomib. Alle diese Behandlungen sind wirksam, gehen aber zum Teil mit erheblichen Nebenwirkungen einher. Ganz aktuelle Therapieansätze streben daher eine Antikörper-selektive Behandlung an, beispielsweise durch Verwendung von Chimären Autoantikörper-Rezeptor(CAAR)-T-Zellen. Diese sind von den konventionellen CAR-T-Zellen aus der Tumortherapie abgeleitet und wurden bereits bei der Hautkrankheit Pemphigus experimentell erprobt [9]. Sie tragen auf ihrer Oberfläche ein Fragment des Autoantigens, z. B. eine extrazelluläre Domäne des NMDA-Rezeptors. Wenn nun eine NMDAR-Antikörper-produzierende B-Zelle mit ihrem membranständigen B-Zell-Rezeptor (Antikörper gegen NMDAR-Protein) an die CAAR-T-Zelle bindet, kommt es zur Aktivierung der T-Zelle und selektiven Depletion der B-Zelle [1]. Sollte dieses Konzept nicht nur im Tiermodell, sondern auch bei Patienten funktionieren, dann wäre die Antikörper-selektive Behandlung auch für viele weitere neurologische Autoimmunerkrankungen in Sichtweite.
Etliche neue Autoantikörper zu erwarten
Ein Ende dieser aktuellen Entwicklung ist noch nicht in Sicht. Jedes Jahr berichten mehrere Publikationen über die Entdeckung weiterer Antikörper bei Patienten mit besonderen klinischen Symptomen. Sogar im Tierreich kommen diese Erkrankungen vor, wie Beispiele von Katzen mit LGI1-Antikörpern oder der prominente Fall des Berliner Eisbären „Knut“ mit einer NMDAR-Enzephalitis gezeigt haben [10]. Um mit dieser Entwicklung Schritt zu halten, werden zum einen in der Labordiagnostik größere Antikörper-Panels immer wichtiger werden und sollten das Ergebnis einer Antikörper-Testung zuverlässig innerhalb weniger Tage liefern. Zum anderen sollte für jeden neuen Antikörper experimentell nachgewiesen werden, dass er direkt pathogen ist und somit zu charakteristischen neurologischen Beschwerden führen kann [11]. Der Anteil Antikörper-vermittelter (und damit behandelbarer) Beschwerden wird in großen Teilen der Neurologie, Psychiatrie, Pädiatrie, Psychosomatik und Altersmedizin noch weiter zunehmen und wahrscheinlich nicht auf Enzephalitiden, Psychosen, Demenzen, Bewegungs- und Bewusstseinsstörungen, Schmerzen und Epilepsien begrenzt bleiben.
Anmerkung: Dieser Beitrag ist eine aktualisierte Version des Artikels von H. Prüß erschienen in Trillium Diagnostik 1/2018.