Wenn Gene ein Gedächtnis haben
Lange Zeit wurde die Basenabfolge der DNA als einziger Faktor für die Vererbung von Eigenschaften angesehen. Forschungsarbeiten der letzten Jahrzehnte zeigten allerdings, dass DNA nicht unveränderlich ist, sondern vielfältigen Modifikationen unterliegt, die eine zusätzliche Informationsebene schaffen. Bei diesen sogenannten epigenetischen Veränderungen werden z. B. kleine Moleküle an die Bausteine des Erbguts reversibel angehängt (DNA-Methylierung), das Proteingerüst des DNA-Strangs durch Anfügen von verschiedenen chemischen Gruppen zusammengezogen oder gelockert (Histon-Modifizierungen) oder nicht-proteinkodierende RNA-Moleküle als Modulatoren der epigenetischen Regulation eingesetzt (ncRNAs). Die Epigenetik erklärt zumindest teilweise, wie ein Organismus aus unterschiedlichsten Zellarten trotz identischer Erbinformation entstehen kann. Mehrere Studien deuten darauf hin, dass über epigenetische Mechanismen die Aktivitäten einzelner Gene an die Umwelt angepasst werden können, sodass Erfahrungen der Eltern an die Nachkommen weitergegeben werden können.
Schlüsselwörter: Vererbung, Epigenetik, DNA-Methylierung, Histon-Modifizierungen, nicht-proteinkodierende RNAs
Grundlagen und molekulare Mechanismen der Genetik und Epigenetik
Der Körper eines erwachsenen Menschen besteht aus bis zu 100 Trillionen Zellen, die alle identische Kopien des Erbguts aus Desoxyribonukleinsäure (DNA) besitzen. Dessen Bausteine bestehen aus vier verschiedenen Nukleotiden, die jeweils aus einem Phosphatrest, dem Zucker Desoxyribose und einer von vier Basen [Adenin (A), Thymin (T), Guanin (G) und Cytosin (C)] zusammengesetzt sind. Durch die Basenpaarung von A und T sowie G und C können sich zwei komplementäre Polynukleotidstränge ausbilden, die die Form einer Doppelhelix annehmen.
Auch wenn ein beträchtlicher Teil der ca. 3 Milliarden DNA-Basenpaare (bp) fortwährend in Ribonukleinsäure (RNA)-Moleküle abgeschrieben („transkribiert“) wird, zeigen aktuelle Untersuchungen, dass nur ein Bruchteil des Genoms (ca. 3–5%) auch zu funktionellen RNA-Molekülen transkribiert wird. Eine Studie von Pertea und Kollegen identifizierte beim Menschen insgesamt 42.611 dieser Baupläne („Gene“), von denen 20.352 möglicherweise Anleitungen zur Herstellung („Translation“) von Eiweißmolekülen („Proteinen“) und 22.259 nicht-proteinkodierend sind (ncRNA, „non-coding RNA“) [1]. Während Proteine als universelle Bau- und Betriebsstoffe essentiell für das Funktionieren einer Zelle sind, kommen den nicht-proteinkodierenden RNA-Molekülen meistens strukturelle oder regulatorische Aufgaben zu.
Obwohl jede Zelle somit theoretisch in der Lage ist, mehr als 20.000 verschiedene Proteine herzustellen, spiegelt diese Zahl nicht die der tatsächlich vorkommenden Proteine wider. Einerseits kann die Anzahl an Anleitungen zur Herstellung von Proteinen, die Boten-RNA („Messenger-RNA“; mRNA), mittels des Prozesses des alternativen Spleißens durch unterschiedliche Zusammensetzung von mRNA-Teilstücken und Kombinationen dieser noch beträchtlich erhöht werden, sodass unterschiedliche Varianten eines Proteins mit möglicherweise auch unterschiedlichen Funktionen hergestellt werden können. Andererseits besteht ein so komplexer Organismus wie der Mensch aus mannigfaltigen Organen, Geweben und ca. 270 Zelltypen unterschiedlichster Funktionalität, sodass es Regulationsmechanismen der Genexpression gibt, die dafür sorgen, dass trotz der gleichen genetischen Ausstattung jeder Zelle in den verschiedenen Zellarten nur ein Bruchteil dieser Gene abgelesen und in Proteine übersetzt wird. Dies kann beispielsweise durch die gewebespezifische Aktivität von Transkriptionsfaktoren erreicht werden, aber auch durch vererbbare chemische Markierungen, auf die später eingegangen wird.
Damit der 3 Milliarden bp-lange DNA-Strang eines Genoms in den ca. 5–15 µm großen Zellkern einer menschlichen Zelle passt, muss die DNA komprimiert werden, da sie entfaltet eine Länge von ca. 2 Metern hätte. Dieses wird unter anderem dadurch erreicht, dass die DNA zu Chromosomen verpackt wird, die während der Lebensdauer einer Zelle in verschiedenen Stadien vorliegen. Das aktiv transkribierte Euchromatin liegt in gelockerter Form in der Zelle vor, während das inaktive Heterochromatin stark zusammengeknäult vorliegt. Die negativ geladene DNA ist in den Chromosomen mit basischen Histon-Proteinen (die viele positiv-geladene Aminosäuren besitzen) assoziiert, die die Nukleosomen bilden. Diese sind aus vier unterschiedlichen Histonmolekülen aufgebaut (H2A, H2B, H3 und H4), von denen je zwei Kopien in einem Nukleosom vorkommen, und die fundamentale, sich wiederholende Einheit des Chromatins darstellen. Um dieses „Histon-Oktamer“ ist die DNA 1,65-mal herumgewickelt, was einer DNA-Länge von 146 bp entspricht. Die Linker-DNA verbindet benachbarte Nukleosomen, wobei das Linker-Histon H1 die DNA direkt neben Nukleosomen bindet und die nächsthöhere Verpackungseinheit der DNA erlaubt, die sogenannte Perlenkettenstruktur. Über mehrere Zwischenstufen wird die DNA weiter zu einer Superhelix kondensiert, wobei das Chromosom schließlich den Endzustand darstellt, vergleichbar mit einem sehr langen Faden, der zu einem Wollknäuel aufgewickelt wird. In den meisten Körperzellen des Menschen (Ausnahme: Keimzellen) liegen die 23 Chromosomen als doppelter Chromosomensatz vor. Bevor sich eine Zelle teilt, verdoppelt sich das gesamte Erbgut, und zwei Kopien jedes Chromosoms werden anschließend an die entstandene Tochterzelle weitervererbt. Vorhandene oder während der Replikation des Erbguts entstehende Veränderungen der Basenabfolge („Mutationen“) im Genom von Keimzellen werden dabei an die Nachkömmlinge weitergegeben.
Vereinfacht wiedergegeben besagt eine der Annahmen in Charles Darwins Evolutionstheorie [2], dass diejenigen Individuen, die zufällig für die vorhandenen Umweltbedingungen besser angepasst sind als andere, einen Selektionsvorteil haben und häufiger überleben. Weitere wichtige Entdeckungen späterer Forscher(generationen) flossen in die Entwicklung der synthetischen Evolutionstheorie in der 1930er- und 1940er-Jahren ein (zusammengefasst z. B. bei [3]) und führten zu der Ansicht, dass nur die Sequenz der Gene (also ihre Basenabfolge) dafür notwendig, und Mutationen für eine positive oder negative Selektion verantwortlich sind. Im Laufe der letzten Jahrzehnte setzte sich allerdings die Erkenntnis durch, dass bestimmte biologische Merkmale („Phänotypen“) nicht nur durch Unterschiede in der primären DNA-Sequenz vererbt werden können, sondern dass die unterschiedliche Aktivität ein- und desselben Erbfaktors ebenfalls zur Entstehung von Phänotypen führen kann. Ebenso weiß man seit Jahren, dass auch Umwelteinflüsse ihre Spuren im Erbgut hinterlassen können – in Form sogenannter epigenetischer Veränderungen. Diese Modifizierungen verändern am Genom nicht primär die DNA-Sequenz, sondern deren chemische Struktur und/oder deren Verpackung, was zu einer Änderung der Genexpression führen kann. Bestimmte epigenetische Modifikationen werden auch bei einer Zellteilung kopiert, sodass epigenetische Informationen des Eltern-Genoms stabil an die Nachkommen-Generationen weitervererbt werden. Diese Befunde könnten auch mindestens teilweise Jean Baptiste Lamarck rehabilitieren, der in seiner Transformationslehre die Überzeugung vertrat, dass Lebewesen erworbene Eigenschaften an ihre Nachkommen weitergeben können [4]. Als wichtigste epigenetische Modifikationen wird im Folgenden kurz auf Histon-Modifizierungen und die DNA-Methylierung sowie auf die Bedeutung von nicht-kodierenden RNAs (ncRNAs) als direkte und indirekte Modulatoren der epigenetischen Regulation eingegangen.
Regulation der Genaktivität durch Histon-Modifizierungen
Die aminoterminalen Schwanzregionen der Histonstränge ragen aus dem Nukleosom heraus und sind Ziel von vielfältigen, post-translationalen Modifizierungen. Diese umfassen Phosphorylierungen an zahlreichen Serin- und Histidin-Resten sowie Methylierungen undAcetylierungen von Lysin- und Arginin-Resten unterschiedlichen Ausmaßes. Zusätzlich findet man das Anheften der regulatorischen Polypeptide Ubiquitin und SUMO an Lysinreste oder Citrullinierungen, d. h. die Umwandlung der Aminosäure Arginin zu L-Citrullin (Überblick in [5]; Abb. 1a).
Einen großen Anteil an der Entdeckung und Charakterisierung bisher bekannter Histon-Modifikationen hatte die Verwendung von Modifikations-spezifischen, monoklonalen Antikörpern (weiterführende Literatur in [6]).
Histon-Modifikationen können unterschiedliche biologische Konsequenzen haben. Einerseits kann direkt das Aneinanderreihen der Nukleosomen beeinflusst, also die Interaktion benachbarter Nukleosomen direkt gesteuert werden. So führt beispielsweise die Anheftung von Acetyl-Gruppen an die Lysin-Seitenketten der Histone zur Öffnung der Nukleosomen-Konformation, wodurch Gene für die Transkription zu RNA-Molekülen verfügbar werden. Andererseits können Histon-Modifizierungen auch die Wechselwirkung der Histone mit weiteren Bindungsproteinen regulieren. Durch eine verstärkte Anheftung von Methyl-Gruppen an Lysin-Seitenketten können beispielsweise Proteine angeheftet werden, die die Chromatinstruktur und -dynamik indirekt steuern können. Rekrutierung von Methyl-bindenden Proteinen wie MECB2 oder MBD1 können z. B. die Genexpression unterdrücken, indem die Histon-Konformation geschlossen wird und keine Transkription möglich ist (Übersicht in [7]).
Regulation der Genaktivität durch DNA-Methylierungen
Die wichtigste epigenetische Veränderung der DNA in Säugetierzellen ist die Methylierung des Kohlenstoffatoms 5 von Cytosin zu 5-Methylcytosin, die bei ca. 3–6% der Cytosine vorliegt (Abb. 1b). Verantwortlich dafür sind die beim Menschen bislang bekannten drei DNA-Methyltransferasen (DNMTs), DNMT1, DNMT3a und DNMT3b, die in der Zelle teilweise unterschiedliche Funktionen ausüben. So werden im Zuge der Neu-Methylierung („de novo Methylierung“) von DNA-Strängen vor allem im frühen Stadium der Embryonalentwicklung spezifische Stellen in der DNA erkannt und durch DNMT3a/b methyliert, wodurch ein Methylierungsmuster im Embyro aufgebaut wird. Im Gegensatz dazu wird im Zuge der Erhaltungs-Methylierung („Maintenance-Methylierung“) nach der DNA-Replikation das Methylierungsmuster des „Eltern-Strangs“ der DNA durch die Aktivität von DNMT1 auf den neu synthetisierten (und daher unmethylierten) „Tochter-Strang“ der DNA weitergegeben. Dies ist für die Beibehaltung der Steuerung der Genregulation innerhalb der Tochtergeneration notwendig.
DNMTs methylieren nur solche Cytosine, die innerhalb von CpG-Dinukleotiden (auch C-G-Dinukleotide oder CpG-Stellen genannt) angetroffen werden. Andere Cytosine werden durch sie nicht verändert (Zusammenfassung in [8]). Die Bindung von Methyl-CpG-erkennenden Proteinen und die Rekrutierung und Anlagerung weiterer Proteine führt zu einer Verdichtung der Nukleosomen, wodurch die DNA an diesen Stellen für RNA-Polymerasen nicht mehr ablesbar und das dort lokalisierte Gen somit inaktiv wird. Folglich führt das Hinzufügen von Methylgruppen an Cytosin in bestimmten Genbereichen zu Veränderungen in der Genexpression, ohne dass sich die genetisch vorgegebene Nukleotidsequenz verändert.
Das menschliche Genom weist einen durchschnittlichen GC-Gehalt von 42% auf. Somit sollte das Dinukleotid CpG rechnerisch mit einer Häufigkeit von etwa 4,4% (0,21 * 0,21 = 4,41%) im Genom vorliegen. Tatsächlich aber ist die Frequenz an CpG-Dinukleotiden im menschlichen Genom mit 0,98% stark unterrepräsentiert („CG-Suppression“, [9]). Eine mögliche Erklärung ist, dass aus oxidativ desaminiertem 5-Methlycytosin die DNA-Base Thymin entsteht (Abb. 1c). Bei einem Reparaturversuch des Doppelstrangs können die Reparaturproteine nicht unterscheiden, ob das durch Desaminierung entstandene Thymin oder das mit dem ursprünglich dort vorhandenen Cytosin basenpaarende Guanin falsch eingebaut wurde, sodass es an solchen Stellen gehäuft zu Punktmutationen kommen kann.
In Säugetieren liegen etwa 70 bis 85% der CpG-Dinukleotide methyliert vor, wobei es auch überwiegend unmethylierte Bereiche im Genom gibt. In solchen, meistens 500 bis 2.000 bp langen Abschnitten, kommen CpG-Stellen häufiger als in anderen Bereichen des Genoms vor. Diese als „CpG-Inseln“ bezeichneten Bereiche weisen einen erhöhten GC-Gehalt von über 60% auf. Etwa die Hälfte der 20.000 CpG-Inseln in Säugetiergenomen liegt in sogenannten „Haushaltsgenen“. Das sind konstitutiv aktive Gene, die ständig exprimiert werden und zur Aufrechterhaltung grundlegender Zellfunktionen erforderlich sind. Da eine CpG-Methylierung meistens mit einer Repression der Genexpression korreliert, wird eine solche DNA-Methylierung bei den ubiquitär exprimierten Haushaltsgenen normalerweise nicht beobachtet. Promotoren, also diejenigen DNA-Bereiche von Genen, in denen der Transkriptionsbeginn festgelegt wird, besitzen in Säugetieren zu etwa 40% eine CpG-Insel. Außerdem können CpG-Inseln mit nicht-methylierten, GC-reichen Regionen zur konzentrierten Bindung von DNA-bindenden Proteinen wie z. B. Transkriptionsfaktoren dienen, die eine präzise Regulation der Genexpression erlauben.
Einfluss von ncRNAs auf die Regulation epigenetischer Vorgänge
In den letzten beiden Jahrzehnten kam es zur Entdeckung und Charakterisierung vielfältiger neuer Klassen von ncRNAs, wie langen, nicht-proteinkodierenden RNAs („long non-coding RNAs“, lncRNAs), siRNAs, miRNAs und piRNAs (zusammengefasst bei [10]). Viele der Funktionen für die Regulation der Genexpression durch solche kleinen RNA-Moleküle sind dynamisch, sensitiv für Umwelteinflüsse und werden inzwischen von nicht wenigen Wissenschaftlern ebenfalls als Teil der epigenetischen Regulation angesehen.
Beispielhaft dafür mögen die PIWI (P-element induced wimpy testis)-interagierenden RNAs (piRNAs) dienen, die im Jahr 2001 erstmals beschrieben [11] und in den folgenden Jahren näher charakterisiert wurden [12, 13]. Diese einzelsträngigen RNA-Moleküle sind je nach Spezies 21–35 Nukleotide lang und interagieren mit Proteinen der PIWI-Familie, wodurch sie als sequenzspezifische Mediatoren für die endonukleolytische Spaltung der Ziel-RNAs durch PIWI-Proteine dienen (Abb. 1d). Neben der Regulation der Genexpression haben piRNAs auch eine Rolle bei der Bekämpfung viraler Infektionen (zusammengefasst bei [14]) und sind hauptsächlich in Keimzellen zu finden, wo sie essentiell für die Spermatogenese sind.
Retroelemente bzw. Transposons („springende Gene“) wie z. B. LINE1 (L1), die ungefähr 15% des menschlichen Genoms ausmachen, sind DNA-Abschnitte bestimmter Länge, die ihre Position im Genom verändern können [15]. Wegen der zufälligen L1-Integration ins Genom stellen diese Elemente vor allem für Keimzellen eine große Bedrohung dar, da entstandene Mutationen an die Nachfolgegeneration weitergegeben werden. In Säugetieren wird L1 während der Spermatogenese normalerweise epigenetisch über CpG-Methylierung reprimiert.
Untersuchungen an Knockout-Mäusen, in denen Gene für Mitglieder der PIWI-Proteinfamilie gentechnologisch inaktiviert wurden, zeigten eine essentielle Rolle der PIWIs bei der Etablierung von de novo Methylierungen von Retroelementen in der fötalen männlichen Keimbahn. Die Deletion der Gene MILI und MIWI2 aktivierte die Genexpression von Retrotransposons durch eine Verminderung der DNA-Methylierung von regulatorischen Regionen der Retrotransposons [16]. Weitere Untersuchungen u. a. von Di Giacomo und Kollegen zeigten, dass PIWI-Proteine und der piRNA-Weg auch durch Etablierung von reprimierenden Histon-Modifikationen an der Stilllegung von L1-Elementen während der mitotischen und meiotischen Phasen der Spermatogenese beteiligt sind [17].
Viele der Befunde zum Einfluss von ncRNAs auf die Regulation epigenetischer Vorgänge wurden in niedrigeren Eukaryonten, wie C. elegans oder Drosophila, oder in Mausmodellen gemacht. Ob diese Ergebnisse auch beim Menschen Bestand haben ist Gegenstand intensiver Untersuchungen.
In welchen Prozessen spielt die Epigenetik eine Rolle ?
Neben dem gerade beschriebenen Schutz vor eindringendem genetischem Material durch Transposons oder Viren spielt die Epigenetik auch in vielen weiteren Feldern eine wichtige Rolle. Im Folgenden seien einige Beispiele aufgezählt.
Epigenetik in Stammzellen und
differenzierten Zellen
Epigenetische Vorgänge spielen in der Zelldifferenzierung und der embryonalen Musterbildung von Zellen eine bedeutende Rolle. Aber spätestens mit dem erfolgreichen Klonen eines Säugetiers aus Zellen eines ausgewachsenen Individuums (Schaf „Dolly“, 1996) und erst recht mit der Einführung der vier „Yamanaka-Faktoren“ Oct3/4, Sox2, c-Myc, und Klf4 zur Re-Programmierung von terminal differenzierten Zellen in induzierte pluripotente Stammzellen (iPS-Zellen) nahm auch das Interesse an der möglichen Beteiligung epigenetischer Vorgänge an diesen Prozessen zu [18]. Bei der Re-Programmierung werden die ursprünglichen, auf die Ausgangszelle zugeschnittenen, epigenetischen Fixierungen aufgehoben. Somit bleibt die Zelle nicht auf einer einzigen Funktion festgelegt, sondern kann wieder vielfältige Funktionen erwerben und vererben. Studien haben gezeigt, dass die epigenetische Programmierung dabei nicht vollständig gelöscht wird, sondern je nach Ausgangszelltyp ein variierendes „transitives epigenetisches Gedächtnis“ zurückbleibt [19]. Erst wenn die Zellen mehrfach hintereinander mit den vier „Yamanaka-Faktoren“ biochemisch zurückgesetzt werden, können alle epigenetischen Marker gründlich entfernt und iPS-Zellen universell eingesetzt werden.
Epigenetische Inaktivierung eines X-Chromosoms
Für die normale Funktion benötigt jeder männliche oder weibliche Organismus die Gendosis nur eines X-Chromosoms. Da weibliche Individuen zwei X-Chromosomen besitzen, muss sichergestellt werden, dass die Gene eines X-Chromosoms ausgeschaltet bzw. inaktiviert werden. Ob in der Zelle und allen davon abstammenden Tochterzellen das mütterlich- oder väterlich-vererbte X-Chromosom inaktiviert wird, entscheidet sich zufällig zu einem frühen embryonalen Zeitpunkt. Dabei werden die Gene auf dem betreffenden X-Chromosom durch die Bindung der langen nicht-kodierenden RNA Xist an das Chromosom unterdrückt. Dies führt u. a. zur Methylierung von Histon H3, zur Deacetylierung von Histon H4 und zur Ersetzung des Histons H2A durch die Variante macroH2A. Neben der DNA-Methylierung und damit der Inaktivierung von Promotoren führt dies letztendlich zur Verpackung der DNA in Heterochromatin, was das Ablesen der DNA erschwert und das inaktivierte X-Chromosom als Barr-Körperchen in der Zelle sichtbar werden lässt.
Epigenetische genomische Prägung
Unter genomischer Prägung („genomic imprinting“) versteht man Eigenschaften, die entweder nur vom Vater (paternal) oder nur von der Mutter (maternal) her „vererbt“ wurden und die nicht mit der Basenabfolge in Zusammenhang stehen. Bei diesen „geprägten Genen“ auf den väterlichen und mütterlichen Chromosomen handelt es sich um elternspezifische epigenetische Modifikationen, bei denen durch differentiell methylierte Regionen eines der beiden elterlichen Allele inaktiviert wird. Von den ca. 100 beim Menschen bekannten genomisch-geprägten Genen werden auch einige mit genetischen Erkrankungen (wie das Beckwith-Wiedemann- oder das Prader-Willi-Syndrom) oder manchen Krebsarten (Wilms-Tumor) durch fehlerhafte genomische Prägung in Verbindung gebracht (zusammengefasst bei [20, 21]).
Epigenetische Gen-Umwelt-Interaktion
Bei Kindern, die im holländischen „Hongerwinter“ von 1944/45 geboren sind, führte der Mangel im Mutterleib als Erwachsene tendenziell zu Übergewicht und Diabetes (zusammengefasst bei [22]). Eine andere Studie zeigte, dass die Einwohner eines schwedischen Dorfes länger lebten, wenn ihre Großväter in der Jugend wenig zu essen hatten [23]. Eine mögliche Hypothese zu diesen Daten könnte besagen, dass die Umwelt der Großväter und Eltern die Gesundheit der Kinder und Enkel beeinflusst; dass es also eine epigenetische Gen-Umwelt-Interaktion gibt. Wie wir gerade gesehen haben, gibt es beim Menschen mit Sicherheit zwar eine epigenetische Prägung (Prägung des Fötus im Mutterleib), aber die Frage, ob es auch beim Menschen wie bei niedrigeren Organismen eine epigenetische Vererbung (Übertragung von der Mutter auf das Kind) gibt, muss zum jetzigen Zeitpunkt eher verneint werden. Wie bei allen Säugetieren herrscht auch beim Menschen eine strikte Trennung zwischen Körper- und Keimzellen. Obwohl Körperzellen auf Umweltreize „epigenetisch“ reagieren, könnten nur Keimzellen diese Information an die Nachkommen weitergeben. In der Embryonalentwicklung wird aber die epigenetische Information praktisch vollständig zurückgesetzt. Zusätzlich muss bei einer epigenetischen Vererbung das vererbte Merkmal noch in der dritten Generation sichtbar sein, sodass eine sichere Unterscheidung zwischen epigenetischer Vererbung und epigenetischen Effekten durch Studien am Menschen so nicht durchzuführen ist.
Klinische Bedeutung der Epigenetik
Der Epigenetik kommt große klinische Bedeutung zu, sowohl bei der Krebsentstehung als auch als möglicher Angriffspunkt für die Entwicklung neuer Medikamente. In Tumoren ist die Methylierung von CpG-Stellen häufig gestört, wobei in der Regel die Promotor-Methylierung bei Entwicklungs- und Krankheitsprozessen mit einer Inaktivierung des Gens verknüpft ist. Medikamente wie die DNA-Methyltransferase-Hemmer (DNMT-Hemmer), Decitabin und 5-Azacytidin, oder Histondeacetylase-Hemmer (HDAC-Hemmer) werden bereits erfolgreich in der Klinik eingesetzt [24]. Eine Auswahl an Krankheiten mit epigenetischen Veränderungen sind z. B. Adipositas, Typ-2-Diabetes und das metabolische Syndrom, aber auch neurologische und psychische Erkrankungen. Aus prognostischer Sicht stellen epigenetische Biomarker ein interessantes Forschungsfeld dar, ebenso die Möglichkeit einer „epigenetischen Therapie“, durch die fehlerhafte epigenetische Eigenschaften korrigiert werden sollen.
Zusammenfassung, Fazit und Ausblick
In den letzten Jahrzehnten konnten in der epigenetischen Grundlagenforschung große Fortschritte erzielt werden. Während sich die DNA-Sequenz im Laufe der Evolution durch Mutation und Selektion nur relativ langsam verändert, kann ein Organismus durch epigenetische Modifikationen äußerst plastisch auf sich ändernde äußere Einflüsse bzw. Umweltfaktoren reagieren. Dies wird besonders anschaulich durch die beschriebenen Einflüsse wie der Ernährung oder der Eltern-Kind-Bindung, deren Spuren im Erbgut sogar an die Nachkommen weitergegeben werden und deren Gesundheit beeinflussen. Auch bei ansonsten genetisch identischen Organismen, wie z. B. eineiigen Zwillingen oder isogenen Mausstämmen, können sich Phänotypen und Suszeptibilitäten für Krankheiten durch genspezifische Unterschiede im Methylierungsmuster stark unterscheiden [25].
Die Auswirkungen von Umwelteinflüssen auf das Epigenom des Menschen sind erst relativ rudimentär verstanden. Das liegt u. a. daran, dass durch die begrenzte Stabilität der DNA-Methylierung solche Unterschiede nicht unbedingt auf lange Zeit beibehalten werden. Viele der bisherigen Studien wurden an Organismen durchgeführt, die eine kurze Generationszeit besitzen und aus experimenteller und ethischer Sicht für die Forschung zugänglich sind. Somit bleibt unklar, inwieweit durch stochastische oder äußere Faktoren induzierte epigenetische Modifikationen auch beim Menschen an nachfolgende Generationen weitervererbt werden können. Folglich sollte in der zukünftigen epigenetischen Grundlagenforschung mittels prospektiver und retrospektiver Studien überprüft werden, ob und inwieweit die Befunde von Pflanzen, Fadenwürmern, Fliegen und Mäusen auch auf den Menschen übertragbar sind. Die Zukunft wird sicherlich noch spannende Neuigkeiten vom Gebiet der Epigenetik für uns bereithalten.