Vom Antitoxin zur modernen Antikörpertherapie
Der Beginn – 1890 in Berlin
Antikörper sind Eiweißmoleküle, die von sogenannten Plasmazellen zur Abwehr von pathogenen Keimen in das Gewebe abgegeben werden. Plasmazellen entstehen aus ruhenden B-Lymphozyten (kurz: B-Zellen) nach Aktivierung durch z. B. ein Toxin oder Pathogen. Die Erfolgsgeschichte der Antikörper beginnt mit der Beobachtung von Gameleia (1889), Bouchard (1890) und Behring & Nissen (Mai 1890), dass das Blut von Tieren erst nach der Infektion mit Bakterien eine zerstörende Wirkung auf Bakterien in Kulturen zeigte [1]. Der Siegeszug der Antikörper begann aber erst mit der am 4. Dezember 1890 publizierten und in allen Lehrbüchern als Geburtsstunde der Antikörper gepriesenen Entdeckung von Emil von Behring und Shibasaburo Kitasato. Beide Forscher demonstrierten, dass Tetanus-erkrankte Mäuse durch die Übertragung einer im Serum von Tetanus-immunen Kaninchen vorhandenen antitoxischen Aktivität geheilt werden können [2]. Obwohl in dieser Publikation im Titel auch die Immunität gegen Diphtherie erwähnt wurde („Ueber das Zustandekommen der Diphtherie-Immunität und der Tetanus-Immunität bei Thieren“), wurden nur Daten über die Serumtherapie von Tetanus-erkrankten Mäusen beschrieben. Die Erzeugung einer Diphterie-Immunität in Labortieren wurde alleine von Emil von Behring am 11. Dezember 1890 [3], und die erfolgreiche Serumtherapie von an Diphtherie erkrankten Meerschweinchen von Emil von Behring zusammen mit Erich Wernicke im Jahre 1892 [4] publiziert. Emil von Behring erhielt 1901 den ersten Nobelpreis für Physiologie und Medizin für „his work on serum therapy, especially its application against diphtheria“ 1.
Nach der erfolgreichen Anwendung der Serumtherapie im Tiermodell nahm die Umsetzung vom Labor in die Klinik, vor allem auch durch die Mitarbeit von Paul Ehrlich, eine für heutige Zeiten rasante Fahrt auf. Ehrlich gelang es, durch Verwendung von Ziegen und Pferden eine größere Menge an Seren zu produzieren und in diesen den Gehalt der antitoxischen Aktivität zu quantifizieren, d. h. den Titer der Antikörper gegen Diphtherie zu bestimmen [5].
Diese standardisierten Anti-Diphtherie-Seren mit bekannten „Immunitätseinheiten“ wurden dann unter der Anleitung von Paul Ehrlich und Emil von Behring zum ersten Mal an insgesamt 220 an Diphtherie erkrankten Kindern in sechs Berliner Krankenhäuser auf ihre Wirksamkeit überprüft [6]. Das Ergebnis war phänomenal (Abb. 1): Während 50% der Kinder verstarben, die kein Antiserum erhielten und nur mit einem damals üblichen Luftröhrenschnitt behandelt wurden, konnten 64 von 66 Kindern, die früh nach dem Auftreten der Symptome (I. und II. Krankheitstag in Tabelle 1) mit dem Antiserum behandelt wurden, geheilt werden. Für die im Serum enthaltene antitoxische Aktivität setzte sich letztendlich der von Paul Ehrlich im Jahre 1891 geprägte Begriff „Antikörper“ durch [7].
Paul Ehrlich war auch der Erste, der in seiner Seitenkettentheorie ein bis heute in seinen Grundzügen gültiges Modell zur Erklärung der Bildung spezifischer und löslicher Antikörper gegen ein Toxin präsentierte (Abb. 2) [8]. Für diesen Beitrag erhielt er 1908 zusammen mit Ilya Metchnikoff, dem Entdecker der Bakterien-fressenden Phagozyten (und somit der ersten Immunzelle), den Nobelpreis für Medizin. Die Entdeckung von Almroth Wright, dass Immunseren gegen Bakterien diese im Zusammenspiel mit Phagozyten besser abtöteten [9], führte zu einem weiteren bis heute gültigen Paradigma in der Immunologie: „Infektionen werden effizienter durch das Zusammenwirken der zellulären und der humoralen Immunität bekämpft“.
Nachdem Karl Landsteiner in den 1920er-Jahren zeigen konnte, dass Antikörper auch gegen kleine organische Moleküle (Haptene) nach Kopplung an einen Proteinträger („Carrier“) gebildet wurden [10], kamen starke Zweifel an der Seitenkettentheorie auf, vor allem weil es schwer vorstellbar war, dass für so viele Seitenketten genügend Platz auf einer Zelle vorhanden ist. Ehrlichs Theorie geriet schließlich ganz in Vergessenheit. Erst 1957 wurde in der von Frank Macfarlane Burnet publizierten klonalen Selektionstheorie Ehrlichs Idee wieder aufgegriffen (Abb. 2), was auch gebührlich in der Publikation von Burnet erwähnt wurde [11].
Immunchemie und Entdeckung der B-Zellen
In den 1930er-Jahren wurden, vor allem durch Arbeiten von Michael Heidelberger, Antikörper als Proteine identifiziert [12]. Im Jahre 1939 konnten Elvin Kabat und Arne Tiselius zeigen, dass Antikörper in der γ-Globulin-Fraktion von elektrophoretisch aufgetrennten Seren enthalten sind [13], und Michael Potter etablierte in Mäusen Antikörper-sezernierende Plasmozytom-Linien durch Injektion mit Mineralöl [14]. Die aus dem Überstand dieser Plasmozytom-Linien isolierten Antikörper sowie die γ-Immunglobulin-Präparationen aus Antiseren waren instrumental für die Aufklärung der Struktur der Antikörper in den 1960er-Jahren.
Während Rodney Porter [15], Gerald Edelman [16] und Alfred Nisonoff [17] zwischen 1959 und 1962 die Quartärstruktur der γ-Globulin-Antikörper aufklärten2, löste Norbert Hilschmann, einer der Gründungsmitglieder der Deutschen Gesellschaft für Immunologie, das Enigma der Antikörperspezifität [18]. Er isolierte aus dem Urin von drei an einem Multiplen Myelom (monoklonaler “Plasmazell-Tumor“) erkrankten Patienten die im Urin ausgeschiedenen und als Bence-Jones-Proteine bezeichneten leichten (L) Ketten der Myelom-Antikörper und bestimmte über Peptidsequenzierung die Primärstruktur dieser Ketten. Der Vergleich der Sequenzen zeigte, dass die C-terminalen Hälften aller drei L-Ketten die gleiche Abfolge an Aminosäuren besaßen, während die N-terminale Hälften sich unterschieden. Das war die Geburt der konstanten und variablen Regionen der Antikörper. Trotz dieser Meilenstein-Entdeckung erhielten 1972 nur Edelman und Porter für die Aufklärung der Quartärstruktur der Antikörper den Nobelpreis für Medizin.
In den 1940er-Jahren begann die Suche nach den Zellen, die an der Produktion der Antikörper beteiligt waren. Bereits 1948 identifizierte Astrid Fagraeus die schon länger bekannten Plasmazellen als die Antikörper-produzierenden Zellen2. Zu Beginn der 1960er-Jahre war es vor allem durch Arbeiten von Max Cooper, Jacques Miller und Henry Claman erwiesen, dass man für die Ausbildung einer effizienten Antikörperantwort Zellen aus zwei verschiedenen Organen benötigte; erstens, aus dem Thymus und zweitens, aus dem Knochenmark (engl. Bone marrow) bzw. aus der Bursa (bei Vögeln). J. Miller konnte im Jahre 1968 schließlich nachweisen, dass die Vorläuferzelle der Antikörper-sezernierenden Plasmazelle ihren Ursprung im Knochenmark hat. Die Begriffe B-Lymphozyt (für Bone marrow oder Bursa-derived) und T-Lymphozyt (für Thymus-derived) wurden zum ersten Mal von Ivan Roitt im ersten Übersichtsartikel über die Dichotomie der Immunantwort erwähnt [19].
Die Hybridomtechnik – Gewinnung therapeutischer Zauberkugeln
Schon Paul Ehrlich hatte postuliert, dass Antikörper perfekte „Zauberkugeln“ für die zielgerichtete Behandlung von Krankheiten sind. Zur Gewinnung solcher Zauberkugeln wäre es optimal, wenn man eine B-Zelle mit bekannter Antikörperspezifität isolieren, in Kultur expandieren und aus dem Überstand spezifische Antikörper isolieren könnte. Das war bis 1975 jedoch nicht möglich, da sich isolierte B-Zellen und Plasmazellen in Kultur nicht vermehren ließen. Dieses Problem wurde 1975 durch Georges Köhler und Cesar Milstein gelöst. Sie fusionierten eine Myelom- bzw. Plasmazytomlinie mit B-Lymphozyten aus einer mit Schafserythrozyten immunisierten Maus [20]. Köhler und Milstein spekulierten, die B-Zelle würde die genetische Information für den spezifischen Antikörper liefern und die Myelomzelle die Unsterblichkeit (Abb. 3). Sie benutzten dafür die Myelomzelllinie P3-X63Ag8, die defizient für das Enzym Hypoxanthin-Guanin-Phosphoribosyltransferase (HGPRT) ist und somit im Medium mit Hypoxanthin, Aminopterin und Thymidin (HAT) nicht wachsen kann. Durch die Fusion mithilfe des Synzytium-bildenden Sendaivirus wurde eine Hybridzelle aus der HGPRT-negativen Myelomzelle und einer HGPRT-positiven B-Zelle generiert. Im Gegensatz zu nicht-fusionierten Zellen sollten im HAT-Medium nur fusionierte Hybridomzellen überleben.
Köhler und Milstein konnten über diese Selektionsmethode tatsächlich unsterbliche Hybridomzellen etablieren, die spezifische Antikörper gegen Schafserythrozyten sezernierten. Die Hybridomzellen, die sich in Zellkultur klonieren und beliebig vermehren lassen, sezernieren kontinuierlich Antikörper und stellen so eine nicht versiegende Quelle für Antikörper mit einer definierten Spezifität dar. Köhler und Milstein spekulierten, dass „solche Kulturen nützlich für den medizinischen und industriellen Gebrauch sein könnten“ [20]. Dies hätte keine größere Untertreibung sein können: Köhler und Milstein entwickelten eine Technologie, mit der man Antikörper mit nahezu jeder Spezifität im industriellen Maßstab herstellen kann. Die naturwissenschaftliche Forschung, klinische Diagnostik und die Medizin wäre heutzutage ohne monoklonale Antikörper undenkbar. Zu Recht erhielten George Köhler und Cesar Milstein für ihre Entdeckung zusammen mit Nils Jerne 1984 den Nobelpreis für Physiologie und Medizin.
1979 wurde der erste monoklonale Antikörper entwickelt [21], der dann im Jahre 1985 die klinische Zulassung für die Behandlung bei Organtransplantation bekam. Es handelte sich dabei um den Maus-Antikörper OKT3, oder Muronomab-CD3, der gegen humanes CD3ε gerichtet ist. Er sollte die Funktion von T-Zellen bei Glukokortikoid-refraktären Transplantationspatienten unterbinden. Erste klinische Tests bei Nierentransplantation waren vielversprechend [22]. Allerdings induzierte OKT3 als Maus-Antikörper bei den Patienten humane Anti-Maus-Antikörper (HAMA), die gegen OKT3 gerichtet waren und somit den therapeutischen Effekt neutralisierten [23]. Um die Immunogenität von murinen monoklonalen Antikörpern zu reduzieren, wurden mittels DNA-Rekombination chimäre Antikörper hergestellt, bei denen die konstante Region der Maus durch die entsprechende Sequenz aus dem Menschen ersetzt wurde, die variablen Regionen aber unverändert blieben. Dadurch wurde die Spezifität des murinen monoklonalen Antikörpers beibehalten [24]. Eine weitere Entwicklung stellte die Humanisierung monoklonaler Antikörper dar, bei denen nur noch die antigen-bindenden Bindungsschleifen von murinem Ursprung sind [25]. Über die Phagen-Display-Technologie können außerdem aus Bibliotheken von synthetischen Antikörpern spezifische und vollständig humane Antikörper isoliert werden [26]. Darüber hinaus wurden auch transgene Mäuse entwickelt, bei denen die Gensegmente für die variablen Regionen in den Schwer- und Leicht-Ketten-Immunglobulin-Genlokussen durch die entsprechenden humanen Sequenzen ausgetauscht wurden, sodass die Mäuse nach der Immunisierung mit einem Antigen direkt Antikörper mit einer komplett menschlichen variablen Region produzieren [27].
Seit dem ersten klinisch angewandten monoklonalen Anti-CD3-Antikörper wurden weitere chimäre, humanisierte und komplett humane monoklonale Antikörper für die klinische Anwendung entwickelt. Einer der größten Erfolge für die Therapie von chronischen Entzündungen sind sicherlich die TNF-Blocker. TNF spielt eine zentrale Rolle bei der rheumatoiden Arthritis (RA), einer durch das Immunsystem induzierten chronischen Entzündung, z. B. der Gelenke. Im Jahre 1993 behandelten Ravinder Maini und Marc Feldmann erfolgreich die ersten 20 RA-Patienten in einer offenen Pilotstudie mit einem chimären Anti-TNF-Antikörper [28]. Der klinische Nutzen der TNF-Blockade konnte in größer angelegten Plazebo-kontrollierten und doppelblinden Studien u. a. unter Beteiligung der Rheumatologen am Erlanger Universitätsklinikum (Joachim R. Kalden) bestätigt werden. Dabei genügte eine einzelne Injektion mit Anti-TNF-Antikörpern, um in einigen Patienten eine 60%ige Verbesserung der Gelenkentzündung zu erzielen [29]. Daraufhin folgten die Entwicklung und Zulassung von weiteren Anti-TNF Antikörpern, wie Infliximab (chimärer Antikörper), Adalimumab (humaner Antikörper aus Phagen-Display-Bibliothek), Certolizumab pegol (pegyliertes Fab‘-Fragment eines humanisierten Antikörpers) und Golimumab (humaner Antikörper aus transgener Maus). Anti-TNF-Antikörper werden mittlerweile auch zur Behandlung entzündlicher Darmerkrankungen (Morbus Crohn, ulzerativer Kolitis), Morbus Bechterew, Psoriasis und juveniler idiopathischer Arthritis eingesetzt.
Der chimäre B-Zell-depletierende Anti-CD20-Antikörper Rituximab war der erste für die Behandlung maligner B-Zell-Lymphome zugelassene monoklonale Antikörper [30]. Weitere Antikörper gegen Tumorantigene folgten, wie z. B. Alemtuzumab (anti-CD52) u. a. gegen T-Zelllymphome, Trastuzumab (Anti-Her2-Rezeptor) gegen Brustkrebs, Bevacizumab (Anti-VEGFα, vaskulärer Endothelwachstumsfaktor α) und Cetuximab (anti-EGFR, epidermaler Wachstumsfaktorrezeptor) gegen Kolonkarzinome. Die monoklonalen Antikörper zeigten in der Regel gegenüber konventioneller Chemotherapie einen signifikanten klinischen Nutzen für die Patienten. Da die meisten Antikörper allerdings spezifische Strukturen auf den Tumorzellen erkennen, kam es in einigen Fällen zur Entwicklung von resistenten Tumoren, die diese Zielstrukturen mutierten bzw. deletierten und sich so einer Erkennung durch den Antikörper entzogen.
Ein weiterer Durchbruch in der Antikörper-vermittelten Tumortherapie kam mit der Erkenntnis, dass viele Tumoren die eigene Immunabwehr über die Moleküle cytotoxic T-lymphocyte-associated protein 4, CTLA-4, und programmed cell death receptor protein, PD-1, blockieren können. Sowohl CTLA-4 als auch PD-1 sind wichtige inhibitorische Bestandteile sogenannter Immuncheckpoints und verhindern unter normalen Umständen eine Überaktivierung des Immunsystems und der damit verbundenen Immunpathologie (siehe Artikel „Die überraschende Revolution: Wie aus Grundlagenforschung im Tier ein neues Therapiekonzept für Tumorpatienten entstand“ von Thomas Kamradt). Monoklonale Antikörper, die diese inhibitorischen Rezeptoren blockierten (und deshalb auch Checkpoint-Inhibitoren genannt werden), führten 2010 zu einer Revolution in der Behandlung von Tumorpatienten mit einem malignen Melanom; diese Antikörper sind heute aus der modernen Tumortherapie nicht mehr wegzudenken [31] (siehe auch „Das Immunsystem als Zielstruktur für onkologische Therapien“ von J. Landsberg in dieser Ausgabe).
Die rapide Entwicklung von der Etablierung einer Methode zur Herstellung beliebiger Mengen monoklonaler Antikörper durch Köhler und Milstein bis hin zu ihrer erfolgreichen Anwendung bei der Therapie unterschiedlichster Krankheiten in der Klinik zeigt das große Potenzial dieser Ehrlichschen „Zauberkugeln“.
Literatur
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