Virulenz und Aminosäure-Mutationen des SARS-CoV-2. Wie entwickelt sich SARS-CoV-2 weiter?

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.04.05

Bekanntermaßen traten seit dem erstmaligen Nachweis des SARS-CoV-2 Anfang 2020 zahlreiche Mutationen auf, wodurch sich die Virulenz, die Pathogenität und die Fitness des Virus mehrfach veränderten. Virulenz und Fitness werden im Wesentlichen durch Mutationen in zwei Proteinen beeinflusst, nämlich dem Spike-Protein und dem Nukleokapsid-Protein.

Schlüsselwörter: S-Protein, Rezeptor-bindende Domäne, N-Protein, Variants of Concern, SARS-CoV-1, MERS-CoV

Die Virulenz ist die Eigenschaft eines Virus, Zellen oder einen ganzen Organismus zu schädigen. Synonym wird bei Bakterien und Pilzen das Wort Toxin verwendet, das vor etwa 30 Jahren auch für virale Proteine benutzt wurde, wie beim Rotavirus das Nsp4 = Enterotoxin [1]. Die Pathogenität wird definiert als die Fähigkeit eines Virus, Krankheiten auszulösen – sie wird also durch Virulenz und Virulenzfaktoren bedingt. Die virale Fitness ist die Fähigkeit eines Virus, Infektion und Pathogenität zu verursachen; sie wird im Wesentlichen über die Geschwindigkeit der Virusvermehrung und die Übertragungsfähigkeit auf weitere Wirte definiert [2, 3, 4]. Ein Virus kann über Mangelkulturbedingungen so lange gezüchtet werden, bis die Pathogenität reduziert oder aufgehoben ist. Man nennt dies Attenuierung, welche beispielsweise beim Vacciniavirus vorgenommen wurde. Die Attenuierung eines vermehrungsfähigen Virus ist reversibel, wie das Beispiel der Impfung mit dem oralen Poliovirus (Sabin-Stamm) zeigt. Attenuierung kann auch natürlich auftreten: Ein Beispiel dafür ist das Auftreten und Verschwinden des SARS-CoV-1. Es zirkulierte von etwa 2002 bis 2005 in China und infizierte ab 2005 menschliche Zellen nicht mehr, verblieb aber in Tieren wie Fledermaus oder Zibetkatze [5].

 

Mutationen als Folge der Humanadaptation

Auf der Hülle des Sars-CoV-2-Virus befindet sich das Spike-Protein S, das in die Teile S1 und S2 gespalten wird. Auf dem S1-Teil trägt es die Rezeptor-bindende Domäne (RBD), die an das ACE2-Molekül der menschlichen Zelle als Rezeptor bindet [2, 6]. S1 ist auch die immundominante Region des S-Proteins [6]. Das S-Protein hat eine hohe Neigung zur Aggregation: Es liegt häufig als Trimer vor und in der Membran der infizierten Zelle als Multimer.

Typische Mutationen gegenüber dem originären Virus aus Wuhan (Wuhan HU-1) sind in Tabelle 1 zusammengefasst [7, 8].

Tab. 1: Aminosäure-Mutationen, die das Wachstum von SARS-CoV-2 in menschlichen Zellen und die Fitness beeinflussen [7, 8].

Aminosäure-Mutationen als

Adaptation an humane Zellen

Mutationen, die die Fitness

beeinflussen

K417N/T

69/70-Deletion*

L452R

D614G

T478K

P681H

E484K/Q

T487K

N501Y

 

Bei den Aminosäuren wurde der Ein-Buchstaben-Code verwendet.

* Die Deletion 69/70 ist bisher nur in Großbritannien aufgetreten und von dort weiterverbreitet worden.

Dass eine Mutation ausschließlich eine Funktion wie Adaptation oder Virulenz ändert, ist sehr selten; T478K beeinflusst z. B. auch die Fitness von SARS-CoV-2.

 

Steigerung von Fitness und Übertragungsfähigkeit

Aminosäure-Mutationen, die die Spaltung des S-Proteins in S1 und S2 beschleunigen, führen zu einem schnelleren Eintritt des Virus in die menschliche Zelle und folgend zu einer Änderung von Fitness und Virulenz [10, 11]. Wesentliche Daten sind in Tabelle 2 zusammengefasst.

Tab. 2: Mutationen und Änderung von Fitness und Transmission.

SARS-CoV-2-

Variante

Aminosäure-Mutatio­nen, die die Spaltung in S1 und S2 beschleunigen; gezeigt ist die Sequenz von 679–685 des S-Proteins

(Mutationen in kursiv)

Faktor der Steigerung der Fitness verglichen mit dem Wuhan-Stamm

Steigerung der Übertragbarkeit in %

Wuhan HU-1

NSPRRAR *

0

0

Alpha

NSHRRAR

0,5

50

Beta

NSHRRAR

0,45

25

Gamma

 

0,55

30

Delta

NSRRRAR

0,85

100

Omikron

KSHRRAR

1,3

> 100

Bei den Aminosäuren wurde der Ein-Buchstaben-Code verwendet.

* Aminosäuren-Position 679–685, nach Position 685 wird das S-Protein in S1 und S2 gespalten.

Serin-Proteasen spalten nach basischen Aminosäuren wie Lysin (K) oder Arginin (R). Die mutierten basischen Aminosäuren erleichtern die Anlagerung der Enzyme Furin und TMPRSS2; aus Prolin (P) in Position 687 beim Wuhan-Stamm wurde das schwach basische Histidin (H) und Arginin (R). Die geänderten Aminosäuren führen zur schnelleren Spaltung und zu einer Steigerung von Fitness und Übertragbarkeit im Vergleich zum Wuhan-Stamm HU-1, der 2019 isoliert wurde [12].

 

Geographische Entstehung von Varianten

Mutationen bei den bedeutenden Varianten (variants of concern – VOC) des SARS-CoV-2 haben sich geographisch selektiv ausgebildet, bevor sie sich weltweit verbreiteten: Alpha (B.1.1.7) wurde zuerst in Großbritannien identifiziert, Beta (B.1.351) in Südafrika, Gamma (P.1) in Brasilien, Delta (B.1.617.2) in Indien und Omikron (B.1.1.529) ebenfalls in Südafrika [13]. Aus der Omikron-Variante EG.5.1 differenzierten später BA.2 bis BA.5 und XBB.1.16.6; diese bilden mit den weiteren Varianten XBB.1.5 und BA.2.75 die sog. Varianten-Suppe, die die neutralisierende Immunantwort gegen den Wuhan-Stamm bei geringer Pathogenität soweit bekannt bei > 65-Jährigen unterlaufen kann [8, 14].

Die Ausbildung von Varianten ist abhängig von der Bevölkerungsdichte, Masken-Nutzung, Armut bzw. sozialem Status, eingeschränkter Bewegungsfreiheit, Coronavirus-Immunität, Alter und Ernährungsstatus der Bevölkerung, Jahreszeit und schließlich vom Impfstatus. Vorhandene Immunität gegen saisonales Coronavirus und HLA-B *1501 führt zu einem asymptomatischen Verlauf der SARS-CoV-2-Infektion [15]. Varianten mit Mutationen, die zu schnellerer Verbreitung führen, setzten sich im Ursprungsland durch und führten anschließend durch Migration zur Pandemie.

Mutationen in der RBD, die bei Omikron zu gesteigerter Übertragbarkeit und Reduktion der Pathogenität geführt haben, sind in Tabelle 3 aufgeführt [12].

Tab. 3: Aminosäure-Position und Mutationen in der RBD, die sich innerhalb von zwei Jahren der Epidemie im Menschen selektioniert haben. Es wurde der Ein-Buchstaben-Code der Aminosäuren verwendet.

Position

339

371

373

375

417

440

452

477

478

484

493

498

501

505

Wuhan

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Alpha

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

N-Y

 

Beta

 

 

 

 

K-N

 

 

 

 

E-K

 

 

N-Y

 

Gamma

 

 

 

 

 

 

 

 

 

E-K

 

 

N-Y

 

Delta

 

 

 

 

 

 

L-R

 

T-K

 

 

 

 

 

Omikron

G-D

S-L

S-P

S-F

K-N

N-K

 

S-N

T-K

E-A

Q-R

Q-R

N-Y

Y-H

Mutationen im N-Protein

Neben dem Spike-Protein beeinflussen weitere Mutationen Fitness und Virulenz, zum Beispiel zwei Mutationen im Nukleokapsid-Protein (N): R203K und G204R. K und R in den Positionen führen zu einem schnelleren Aufbau des Ribonukleokapsids und dadurch zur schnelleren Virussynthese und zu erhöhter Übertragung. Beide Mutationen wurden zuerst in der Alpha-Variante entdeckt [16].

 

Prognose zur Verbreitung und Persistenz

Prognosen sind immer mit Fehlern behaftet. Das SARS-CoV-1 hat sich, wie anfangs erwähnt, von 2002 bis etwa 2005 in der Guangdong-Provinz in China – zeitweise auch in Kanada – verbreitet, bis es so mutierte, dass es humane Zellen kaum mehr infizierte. Zusätzlich hatte sich Immunität in der Bevölkerung aufgebaut. SARS-CoV-1 wird weiterhin zoonotisch verbreitet [5, 17]. Abhängig von der Immunität – auch durch Impfung – und Virusmutation beim SARS-CoV-2 könnte im Winter 2023/24 eine erneute weltweite Verbreitung einer neuen Variante, die etwa nach zwei bis sechs Wochen bemerkbar wäre, ausbleiben. Die EG.5, BA.2 oder XBB Omikron-Variante [8, 9] scheint für eine größere Welle wenig geeignet zu sein. Die zoonotische Persis­tenz von SARS-CoV-2 bleibt vorhanden.

Das dritte ab 2000 neu verbreitete Beta-Coronavirus in der arabischen Region war das MERS-CoV (Middle East Respiratory Syndrome), das sich seit etwa Mai 2023 nicht mehr verbreitet, sodass CDC und WHO die regelmäßige Auflistung der Fallzahlen eingestellt haben. Die zoonotischen Reservoire für MERS-CoV-Fledermäuse und wild lebende Dromedare sind ebenfalls weiter vorhanden. Es scheint zurzeit, dass die humane Epidemie von MERS-CoV, wie beim SARS-CoV-1 beobachtet, beendet ist. Optimistisch gesehen sollte die Verbreitung von SARS-CoV-2 im Menschen in nächster Zeit beendet sein.

Autor
Prof. Dr. med. Lutz G. Gürtler
Max von Pettenkofer-Institut für Hygiene und Medizinische Mikrobiologie
Ludwig-Maximilians-Universität München
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