Virulenz und Aminosäure-Mutationen des Influenzavirus A. Harmloser Schnupfen oder tödliche Pneumonie
DOI: https://doi.org/10.47184/td.2023.04.06Das Influenzavirus A ist eines der genetisch variabelsten Viren. Nicht jede Mutation ist für seine Virulenz von Bedeutung, aber einige Aminosäure-Mutationen führen zu einer erhöhten Pathogenität. Mutationen können u. a. die Bindung an die Wirtszellen beeinflussen, zu einer Suppression des angeborenen Immunsystems führen oder die Thermosensitivität der viralen Replikation ändern.
Schlüsselwörter: Hämagglutinin, Neuraminidase, Nukleoprotein, RNA-abhängige RNA-Polymerase, Nichtstrukturprotein 1, TRIM25, CPSF4-Protein, PBM
Das Influenzavirus A (IFAV) ist umhüllt; in der Hülle befinden sich die Proteine Haemagglutinin, Neuraminidase und Membranprotein M2 [1]. Mit den Proteinen Haemagglutinin (HA) und Neuraminidase (NA) kann sich das Virus an viele Zellen anheften. Zu Beginn der Übertragung sind besonders die Zellen des Respirationstraktes exponiert. Durch ein in acht Teile segmentiertes Genom, von dem jedes Segment individuell ausgetauscht werden kann (sog. Reassortment), ist das Influenzavirus eines der genetisch variabelsten Viren. Bedingt durch diese Variabilität kann das Virus seit Jahrtausenden schnell und effizient verschiedene Wirte infizieren. Hauptwirte sind wegen der großen weltweiten Populationen Wasservögel, Schweine und Menschen. Zwei wesentliche pathogenetische Änderungen des Zellstoffwechsels nach der Infektion sind die Immunsuppression und das Umstellen des Stoffwechsels der Zelle auf Virusproduktion. Deren Ausmaß hängt von der Abwehrbereitschaft, der Virusdosis (viral load) und der Virulenz des IFAV ab.
Bei dem schnell mutierenden Virus sind nicht alle Aminosäure-Mutationen bedeutend und untersucht. In dieser Zusammenstellung werden die beim menschlichen IFAV wichtigen Mutationen in einigen Proteinen und besonders dem regulatorisch wirkenden NS1-Protein (Nicht-Struktur-Protein 1) beschrieben [2].
Hämagglutinin (HA)
Die Positionen D190 und D225 des Hämagglutinins werden glykosyliert; das angeheftete Glykan bestimmt beim H1-Virus, dass eine α-2-6-Rezeptorbindung stattfindet. Position 190E und 225G ändern die Bindung an die α-2-3-Verknüpfung. Sind Q226L- und G228S-Mutationen vorhanden, wird die Bindung von α-2-3 zu α-2-6 geändert; Q226L verstärkt die Rezeptorbindung an menschliche Zellen [1, 3, 4]. Das H1N1-pand-2009-Virus (fälschlich als Schweinegrippevirus bezeichnet) hatte zwei nur bei diesem Virus identifizierte Mutationen im Kopf des HA-Moleküls S220T und D239E/G, die die geänderte Pathogenität erklären können; mit der Mutation des D ist eine Glykosylierungsstelle nicht mehr verfügbar [5].
Auf den Zellen des menschlichen oberen Respirationstrakts befinden sich Rezeptoren für α-2-6, auf denen des unteren Respirationstrakts sind Rezeptoren für die α-2-6- und α-2-3-Bindung exprimiert [3]. Beim Schwein werden Rezeptoren für beide α-2-6- und α-2-3-Glykoproteine im Respirationstrakt präsentiert, beim Vogel nur α-2-3 [6].
Neuraminidase (NA)
Bei Versuchen zur Inhibition des Viruseintritts durch Peramivir, einem der Neuraminidase(NA)-Inhibitoren, wurde entdeckt, dass die Aminosäuren R118, E119, D151, R152, W178, I222, E227, E276, R292 und R371 für die Bindung des Virus an die Zelle und den schnellen Zelleintritt wesentlich sind [7]. Wenn sie mutieren, z. B. D151G/A, wird die Bindungskinetik abgeschwächt.
RNA-abhängige RNA-Polymerase
Polymerase Untereinheit A (PA): Das Frameshift-Produkt, möglich durch Mutation von Aminosäuren, PA-X von PA führt zur Suppression des angeborenen Immunsystems [1].
Polymerase Untereinheit B2 (PB2): T271A verstärkt die enzymatische Aktivität und ebenfalls das Vorhandensein von 85I, 186S und 336M der aviären Polymerase in menschlichen Zellen. T552S und E627K sind Zeichen der Humanadaptation, die durch K562R und D701N verstärkt wird [1].
Nukleoprotein (NP)
Das Nukleoprotein lagert sich an die virale RNA an und bildet mit PA, PB1 und PB2 den Polymerase-Komplex. Die Mutation Q357K beschleunigt die virale Replikation und ist Zeichen der Säuger- bzw. Humanadaptation [1, 8].
Wesentliche Mutationen, die die Vermehrung des IFAV in menschlichen Zellen betreffen, sind in Tabelle 1 zusammengefasst, wobei die Mutationen, die bei H1N1- und H3N2-Viren vorkommen, nicht getrennt aufgelistet wurden.
Tab. 1: Aminosäure-Mutationen in den Gen-Segmenten von PB2 und HA.
Gensegment | PB2 | HA |
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Position | 271 | 190 | 192 | 225 | 226 | 278 | 590 | 591 | 627 | 701 |
Aviär | T | E | R | G | G/Q | Q | G | Q | E | D |
Human | A | D | G | D | L/S | L | S | R | K | N |
Der Ein-Buchstaben-Code für Aminosäuren wurde verwendet. Jede auftretende Mutation im Haemagglutinin (HA) beeinflusst auch die Bindung von neutralisierenden Antikörpern. |
Nichtstrukturprotein 1 (NS1-Protein)
Das Protein ist ein wesentlicher Virulenzfaktor von IFAV. Die Mutationen D189N, V194I im Protein inhibieren die Expression von menschlichen Genen in der Zelle. V194I beeinflusst zusätzlich die Thermosensitivität der viralen Replikation, die beim Menschen im oberen Respirationstrakt bei etwa 33 °C liegt, in der Lunge bei 37 °C, in der Schweinelunge bei 39 °C und im Verdauungstrakt von Wasservögeln bei 40 °C [6]. Die Effizienz der menschlichen Abwehrreaktion gegen IFAV mit Fieber wird durch die vorhandene Thermosensitivität geschwächt.
Das NS1-Protein besteht aus drei Domänen mit der RBD (Receptor Binding Domain) mit den Aminosäuren 1–72, der linker-Domäne (flexible Interdomäne) mit den Aminosäuren 73–84 und der ED-Domäne (effector domain) mit den Aminosäuren 85–207 bzw. als variable Domäne bis zu 207–230 oder länger (Abb. 1).
Die RBD bindet an und stabilisiert virale RNA; die ED-Domäne hat Bindungsstellen im mittleren Bereich der Domäne für TRIM25 und CPSF4 und im C-terminalen Bereich, mit einer hohen Aminosäuren-Variabilität, für NLS (Nuclear Localisation Sequence) und PBM, das PBZ bindende Motiv [2]. Die Positionen 80–84 können deletiert sein, E55K/L steigert die Replikation, D92E steigert die Pathogenität. T215P findet sich im aviären Virus; mutiert die Aminosäure zu T215A, führt das zur Attenuierung beim Menschen; E217K ist eine weitere Humanadaptation, die die Virulenz mindert.
Die Spleisskomponenten des NS1-Proteins und Anordnung der Bindungsstellen für zelluläre Proteine sind in Abb. 1 gezeigt.
Bindung an TRIM25
TRIM25 ist eine E3-Ubiquitin-Ligase. Das Protein inhibiert die p53-Acetylierung und löst damit dessen antivirale Aktivität aus. TRIM25 ist ein Regulator (Inaktivator) von RIG-I (retinoic acid inducible gene-1), das die IFN-1(Interferon 1)-Antwort und die Zytokin-Freisetzung über verschiedene Wege wie TNF-α, NF-κB, IKKα. IKKβ und IKKγ reguliert; dadurch beeinflusst TRIM25 die adaptive Immunantwort. Im Zytoplasma bindet TRIM25 an RNA und destabilisiert die IFAV mRNA, was zur verminderten Produktion und Degradation der viralen RNA führt, verbunden mit einer Pathogenitätsminderung, was als intrazelluläre antivirale Antwort gewertet wird [9, 10].
Bindung an CPSF4-Protein
CPFS4-Protein (cellular protein cleavage and polyadenylation specificity factor 4) ist ein Zink-Finger-Protein, das zwischen den Spezies Mensch, Schwein und Vogel hochkonserviert ist. Auch benannt als CPSF30, NAR, NEB1 führt es zu Reifung und Polyadenylierung von mRNA [11]. In der IFAV-infizierten Zelle wirkt es im Kern zusammen mit etwa neun verschiedenen TP53-Spleiss-Produkten, sog. p53-Isoformen, die zusammen die IFAV-Replikation und RIG-I-Expression regulieren. CPSF4-Protein bindet an die NS1-Protein-Aminosäuren E103 und M106, die stark konserviert sind, an K108 und D125 und schließlich an die Aminosäuren von Peptid GGLEWND (Position 183–189), die weniger konserviert sind. Die Mutation D125E findet sich bei 68 % der NS1-Proteine von IFAV. Der Verlust der Eigenschaft von NS1-Protein, sich an CPSF4-Protein binden zu können, führt zur Attenuierung [2, 11, 12].
PBM – PDZ-bindendes Motiv
(Aminosäuren-Position 227–230) [2]
PDZ (postsynaptic density-95 disks - large and zonal occlusions-1) ist eine Domäne von ca. 90 Aminosäuren. Im menschlichen Genom sind > 320 PDZ-kodierende Gene vorhanden [13], die verschiedene Funktionen übernehmen, u. a. die Regulation der Permeabilität der Blut-Hirn-Schranke, die durch die Aktivierung von zerebralen Endothel-Zellen geregelt wird [14]. Die endotheliale Dysregulation wäre eine einfache Erklärung für die nicht selten vorkommende enzephalitische Reizung im Laufe der IFAV-Infektion. Ein weiterer Mechanismus der Immunsuppression ist das Einwirken von PDZ auf Antigen-präsentierende Zellen [15]. Ferner unterstützt die PDZ-Bindung das Auftreten einer bakteriellen Superinfektion post Influenza [17]. Weiterhin werden durch die Zellaktivierung und Perturbation der Mediatoren-Synthese und Zytokin-Homöostase und zusätzlich durch die Aktivierung des Faktors Scribble die Funktion der angeborenen Immunität beeinträchtigt [15] sowie das Ionen-Gleichgewicht in der infizierten Zelle [16, 18] und somit die Festigkeit von Zellverbänden beim respiratorischen Epithel und beim Gefäßendothel [19]. Der Faktor Scribble reguliert zusätzlich die basale Polarität und Integrität von Epithelzellen und deren Adhäsion und Proliferation [16, 19].
Fazit
Abhängig von der Virulenz des Influenzavirus A und seiner Bindung an Zellen des Respirationstraktes sowie der folgenden Vermehrung kann über einzelne virale Aminosäure-Mutationen klinisch ein harmloser Schnupfen oder eine tödlich verlaufende Pneumonie mit schwerer Enzephalitis wie bei der Grippepandemie 1918 entstehen.