Retikulozytenhämoglobin: Real-time Erythropoese

DOI: https://doi.org/10.47184/td.2022.02.03

Das mittlere Retikulozytenhämoglobin wird von Hämatologiegeräten bei jeder Retikulozytenmessung mitgeliefert, aber bisher häufig nicht zur Diagnosefindung oder Beurteilung des Therapieerfolgs herangezogen. Gerade bei Dia­gnostik und Therapiekontrolle der Eisenmangelanämie, aber auch in der Sepsisdiagnostik könnte der Parameter wichtige Informationen liefern.

Schlüsselwörter: Erythropoese, Thomas-Plot, Erythrozytentransfusion, Anämie chronischer Erkrankungen

Vor ungefähr 30 Jahren kam das erste Hämatologiegerät auf den Markt, mit dem es möglich war, den Hämoglobingehalt der Retikulozyten separat zu messen. Der Parameter erhielt die Bezeichnung „CHr“ für Content Hemoglobin Reticulocyte. 2005 veröffentlichte Lothar Thomas im Deutschen Ärzteblatt seinen Thomas-Plot zur Anämiediagnostik, der auf den Parametern Retikulozytenhämoglobin und löslicher Transferrinrezeptor basiert [1]. Zu dieser Zeit konnte eine zweite Gerätelinie das Retikulozytenhämoglobin-Äquivalent ebenfalls messen; bei diesem Hersteller hieß es erst „Ret-Y“, später „Ret-He“. 
Seit seiner Einführung ist über das Retikulozytenhämoglobin extensiv geforscht und publiziert worden, insbesondere bezüglich der Abgrenzung eines Eisenmangels zu anderen Ursachen einer Anämie [2, 3, 4]. Die Ergebnisse waren durchgehend positiv mit ROC-Kurven, die über denen von Ferritin oder Transferrinsättigung lagen. 

Schattendasein

Trotzdem fristet das Retikulozytenhämoglobin in der Routine immer noch ein Schattendasein. Obwohl es von den Geräten bei jeder Retikulozytenmessung unaufgefordert mitgeliefert wird, geht es oft nicht in den Befund mit ein und das klinisch tätige ärztliche Personal kann noch weniger damit anfangen als dasjenige im Labor. 
Ein Grund dafür könnte sein, dass der Name nie standardisiert wurde und meist die firmenspezifischen Bezeichnungen verwendet werden. Als generischer Name bietet sich „Mittleres Retikulozytenhämoglobin“ (MRH) an, aus dem durch Reifung der Retikulozyten zu Erythrozyten das MCH entsteht. Auch die Benennung als „Retikulozytenfärbeindex“ wurde schon vorgeschlagen. 
Ein weiterer, naheliegender Grund für das Schattendasein des Parameters wäre, dass die erweiterten diagnostischen Möglichkeiten nie in der Vergütung abgebildet wurden. Im EBM-Bereich rentiert sich die Retikulozytenmessung nicht. 
Aber auch inhaltlich verbreitet sich die Erkenntnis nur langsam, dass der Einblick in die aktuelle Erythropoese, den das Retikulozytenhämoglobin ermöglicht, wesentliche zusätzliche Informationen liefert, die die üblichen Blutbildparameter nicht verraten.

Anwendungsbeispiele

Ein einfaches Beispiel soll dies erläutern: Eine Patientin mit einem länger bestehenden Eisenmangel hat eine ausgeprägte hypochrome, mikrozytäre Anämie. Wird sie effektiv mit Eisen substituiert, z. B. parenteral, dauert es trotzdem Wochen, bis sich die Erythrozytenindizes normalisieren, da die hypochromen, mikrozytären Erythrozyten nur allmählich durch frisch gebildete normochrome, normozytäre Erythrozyten ersetzt werden. Das Retikulozytenhämoglobin liegt dagegen schon nach zwei bis drei Tagen innerhalb des Referenzbereichs – oder eben auch nicht, wenn die Eisensubstitution nicht ausreichend war (siehe Fallbeispiel). 


FALLBEISPIEL

Tab. 1 zeigt die Blutbilddaten (Auszug) einer 37-jährigen Patientin, die wegen eines Arbeitsunfalls die chirurgische Ambulanz aufsuchte.

Tab. 1: Blutbild der Patientin im Verlauf des stationären Aufenthalts. 
MCV = Mean Corpuscular Volume, MCH = Mean Corpuscular Hemoglobin, MRH = Mittleres Retikulozytenhämoglobin.

Datum Hämoglobin (g/dl) MCV (fl) MCH (pg) Retikulozytenzahl (1/nl) MRH (pg)
28.03.2022 5,5 52,9 13,7 34 12,6
30.03.2022 6,1 54,7 13,3    
01.04.2022 6,2 54,2 13,8 54 17,0
04.04.2022 6,6 56,4 14,5 77 23,2
06.04.2022 7,4 58,4 15,5 100 30,5

Weitere Beschwerden wurden nicht angegeben. Die Ferritin-Konzentration betrug 1,9 ng/ml (Cut-off für Eisenmangel: 30 ng/ml). Die Patientin wurde zur Anämiediagnostik stationär aufgenommen.

Am 28.03. war das MRH niedriger als das MCH, das heißt, die Eisenversorgung ist aktuell noch schlechter, als das Blutbild sie darstellt; die Anämie wird noch hypochromer und die Hämoglobin(Hb)-Konzentration wird voraussichtlich weiter sinken. Initial erfolgte die Gabe von 40 mg Eisen i. v. Das MRH ist am 01.04. angestiegen, liegt aber noch weit unter dem Referenzbereich. Das MCH hat sich zu dem Zeitpunkt nicht verändert. Danach erfolgte die Gabe von weiteren 500 mg Eisen i. v. Am 06.04. liegt die Hämoglobinisierung der Erythropoese im Referenzbereich, der Hb-Wert ist schon um 1,9 g/dl angestiegen, MCV und MCH dagegen nur wenig.


Bei einem Patienten, der nach einer schweren Blutung mehrere Erythrozytenkonzentrate (EK) bekommen hat, sind die Erythrozytenindizes für die Anämiediagnostik ebenfalls nicht mehr verwertbar. Am Retikulozytenhämoglobin ist dagegen weiterhin erkennbar, ob die Erythropoese hypochrom oder hyperchrom ist; dementsprechend kann die weitere Diagnostik zielgerichtet erfolgen. Zu Ende gedacht kann die Aussage „Das Blutbild ist mikrozytär/hypochrom“ durch „Die Blutbildung ist hypochrom“ ersetzt werden.

Validation 

Das Retikulozytenhämoglobin ermöglicht eine einfache Plausibilitätskontrolle. Vereinfacht dargestellt, ist ein stark abnormales Retikulozytenhämoglobin Anzeichen einer Störung der Erythropoese. Ein niedriges MRH korreliert in den meisten Fällen mit Eisenmangel; ein hohes MRH kann Anzeichen eines Vitamin B12- oder Folsäuremangels sein. Allerdings kommen für hyperchrome, makrozytäre Konstellationen noch eine Reihe weiterer Ursachen infrage, nicht zuletzt regelmäßiger starker Alkoholkonsum. Im Normalfall sollte die Retikulozytenzahl bei stark abnormalem MRH vermindert sein. Liegt stattdessen eine erhöhte Retikulozytenzahl vor, sollte man sich den Fall genauer ansehen. Mögliche Ursachen können eine Thalassämie oder eine Dyserythropoese bei myelodysplastischem Syndrom sein.
Wie verhält es sich mit der Methodenabhängigkeit des Retikulozytenhämoglobins? Hierzu wurden mehrfach Gerätevergleiche und Studien zu Referenzbereichen publiziert [3, 5], denen zufolge der Einfluss des verwendeten Analyzers gering ist. Der Referenzbereich liegt zwischen 28 und 36 pg.

MRH und Infektion

In den vergangenen Jahren hat unser Verständnis des Eisenstoffwechsel und seiner Regulation über Hepcidin und Ferroportin stark zugenommen. Die Anämie bei chronischer Erkrankung (Anemia of Chronic Disease, ACD) beruht bekanntlich auf einer Restriktion der Eisenverfügbarkeit bei Entzündung. Diese stellt einen alten, unspezifischen Abwehrmechanismus gegen Infektionen dar, da auch die meisten Bakterien für ihren Stoffwechsel auf Eisen angewiesen sind. Auch hier ist es so, dass die entstehende Anämie aufgrund der Kinetik des Erythrozytenumsatzes erst nach einigen Wochen erkennbar wird – deswegen nur bei chronischen Erkrankungen. Die Hämoglobinisierung der Retikuloyzten ändert sich aber bei infektionsbedingter Eisenrestriktion sofort. Damit kann auch eine „beginnende Anämie bei akuter Infektion“ diagnostiziert werden. Das Retikulozytenhämoglobin erhält damit eine weitere Aussagekraft als Sepsisparameter.
Ein Hersteller propagiert deshalb das „Delta-He“, die Differenz von Retikulozytenhämoglobin (Ret-He) minus Erythrozytenhämoglobin (RBC-He, jeweils Mittelwerte) als neuen Infektionsparameter [6]. Das RBC-He entspricht dem MCH, allerdings nicht rechnerisch als Quotient von Hämoglobinkonzentration und Erythrozytenzahl ermittelt, sondern durchflusszytometrisch. Dadurch ist es besser mit dem ebenfalls durchflusszytometrisch bestimmten Ret-He vergleichbar. Wenn der Hämoglobingehalt der aktuell produzierten Retikulozyten niedriger ist als der des Erythrozytenpools, wird das Delta-He negativ. Dies ist ein Zeichen für eine akute Eisenrestriktion, die als Entzündungszeichen interpretiert werden kann. Hierzu wurden bereits Studien publiziert. Als Referenzintervall für das Delta-He wird 1,7–4,4 pg angegeben. Normalerweise ist Delta-He leicht positiv, da die unreifen Retikulozyten etwas größer sind und damit etwas mehr Hämoglobin enthalten als die Erythrozyten.
Durch die Verwendung des Erythrozytenhämoglobins als Bezugsgröße ist diese Differenzbildung anfällig für artefizielle Veränderungen durch EK-Transfusionen. Dies ist bei der Interpretation zu beachten. Alternativ kann das MRH für sich im Verlauf betrachtet werden, wie bei den eingeführten Sepsisparametern üblich. Im Vergleich zu diesen ist die Retikulozytenmessung preislich eher günstig. Es empfiehlt sich, zu Beginn einmalig das Ferritin zu bestimmen, um sicher zu gehen, dass nicht eine Entleerung der Eisenspeicher vorliegt. In Fallbeispielen konnte demonstriert werden, dass ein vermindertes Retikulozytenhämoglobin nach Wechsel von einer unwirksamen Antibiotikatherapie auf eine wirksame binnen Stunden ansteigt. RBC-He und Delta-He sind für die klinische Verwendung zugelassen. Auch diese Anwendungsmöglichkeit wartet noch auf breitere Akzeptanz.  

Autor
Dr. med. Norbert Ostendorf
Zentrallabor
St. Franziskus-Hospital Münster GmbH