Zu selten entdeckt: das Lynch-Syndrom

Erblicher Darmkrebs

Darmkrebs aufgrund eines angeborenen Defekts in einem DNA-Reparaturgen ist die häufigste monogene Erkrankung überhaupt, doch das wissen nur die wenigsten. Durch systematische Testung mithilfe der Immunhistochemie könnten jährlich über 2.000 erbliche Karzinome einer intensivierten Überwachung und lebensverlängernden Operation zugeführt werden.

Die Begriffe „erblicher“ und „familiärer“ Darmkrebs werden oft synonym verwendet, aber das ist nicht korrekt. Aus klinischer Sicht unterscheidet man zwischen familiärer Häufung von Krebsfällen und erblicher Veranlagung. Erstere beruht auf einer nicht genau definierten Mischung genetischer und exogener Faktoren, während den hier zu besprechenden erblichen Formen Mutationen in einem bestimmten DNA-Reparaturgen (mismatch repair) und in aller Regel ein autosomal-dominanter Erbgang zugeordnet werden kann.
Die Frequenz des erblichen Darmkrebses wird allgemein unterschätzt. Das Lynch-Syndrom, das mindestens drei Prozent aller kolo­rektalen Karzinome (CRC) ausmacht, ist mit einer Prävalenz von rund 1:400 die häufigste bekannte monogenetische Erkrankung überhaupt. Neben dem Dick- und Enddarm können auch Magen, Dünndarm, Blase, Haut und Gehirn sowie bei Frauen Gebärmutter, Eierstöcke und (fraglich) die Brust und weitere Organe betroffen sein. Die deutlich selteneren Polyposis-Syndrome machen zusammen weniger als ein Prozent der CRC-Fälle aus.

Eine Familiengeschichte
Im Folgenden sei eine von uns betreute  Familie beispielhaft beschrieben. Sie wurde erstmals auf ein erhöhtes familiäres Risiko aufmerksam, als Peter Vestermann (Name geändert) im Alter von 53 Jahren an einem CRC erkrankte. Sein Vater war mit 60, sein Stiefbruder väterlicherseits mit 45 an einem Karzinom des Colon ascendens verstorben. Niemand hatte Peter oder seinen älteren Bruder Jochen (55) auf ein möglicherweise erhöhtes familiäres Risiko aufmerksam gemacht.
Da bei Peter ein Frühstadium ohne Lymphknotenbeteiligung oder Fernmetastasen vorlag, konnte er nach Operation als geheilt gelten. Im Operationsresektat wurde eine hohe Mikrosatelliteninstabilität (MSI-H) gefunden, die für eine gestörte DNA-Reparatur (DNA mismatch repair) sprach. Nach humangenetischer Beratung wurde in der Tat eine pathogene MSH6-Mutation gefunden.
Die Identifikation einer „Indexperson“ – also der ersten als betroffen erkannten Person einer Familie – führt bei entsprechender Beachtung zu durchschnittlich drei ebenfalls betroffenen erstgradigen Verwandten. Diese können im Rahmen einer humangenetischen Beratung und prädiktiven Blutuntersuchung als Anlageträger identifiziert oder ausgeschlossen werden. Bei Peters gesundem Bruder Jochen fand sich tatsächlich eine MSH6-Mutation, ebenso bei Jochens Tochter Monika (35). Das Risiko ihrer drei Kinder für ein Lynch-Syndrom beträgt bei autosomal-dominantem Erbgang 50 Prozent.
Allen Betroffenen wurden stringente jährliche Vorsorgeuntersuchungen nahegelegt. Die Empfehlungen beinhalten ab dem 25. Lebensjahr eine komplette Koloskopie und bei Frauen eine transvaginale Sonografie des kleinen Beckens, zusätzlich ab dem 35. Lebensjahr jährlich eine Gastroskopie und bei Frauen  eine Endometriumbiopsie.

Senkung des Krebsrisikos
Trotz der konsequenten Untersuchungen erkrankte Jochen an einem Sigmakarzinom mit Lymphknotenbefall (Stadium UICC 3) und zwei Jahre später auch seine Tochter Monika an einem Karzinom im Colon ascendens (Stadium UICC 1). Vater und Tochter entschieden sich für eine erweiterte kolorektale Resektion (subtotale Kolektomie) zum Zeitpunkt der Krebs­diagnose und Monika ließ sich zeitgleich bei dem Darmeingriff die Gebärmutter und die Eierstöcke beidseits entfernen, da ihre Familienplanung abgeschlossen war.
Durch die erweiterte Kolonresektion entfernt man ein Zielorgan, wodurch metachrone Karzinome, die sonst häufig auftreten, in diesem Segment vermieden werden können. Je jünger die Patienten bei diesem prophylaktischen Eingriff sind, desto eher kann man eine Lebensverlängerung von etwa zwei bis drei Jahren erzielen. Der Benefit einer Früherkennung durch invasive gynäkologische Vorsorge ist nicht belegt, wohl aber die Karzinomvermeidung durch eine prophylaktische Entfernung der Gebärmutter und gegebenenfalls der Adnexe.
Vermeidbare Risiken für Darmkrebs bei Lynch-Syndrom-Patienten sind erwiesenermaßen Rauchen und Adipositas, und nach Ergebnissen der CAPP2-Studie vermindert die tägliche Einnahme von 600 mg Acetylsalicylsäure (ASS) nach einer Latenz­periode von ca. vier Jahren das Risiko aller Karzinome um 50 Prozent. Dieser Effekt hält auch ohne weitere ASS-Einnahme  nach einer zweijährigen Verabreichung ca. zehn Jahre an.
Die geschilderte Familiengeschichte endet (vorläufig) damit, dass alle Betroffenen nun die empfohlenen Vorsorge­untersuchungen durchführen lassen und zur Prophylaxe täglich 100 mg ASS in Absprache mit ihrem Hausarzt einnehmen.

Empfehlung

Die klinische Bedeutung des Lynch-Syndroms wird von vielen Ärzten unterschätzt. Mit den Amsterdam- oder Bethesda-Kriterien erkennt man nur 50 bis 60 Prozent der Betroffenen. Zu wünschen wäre deshalb die Etablierung einer systematischen Testung aller kolorektalen Karzinome auf defekte Mismatch-Reparaturgene mithilfe einer preisgünstigen immunhistochemischen Untersuchung – ohne Einschränkung auf Patienten, die die Amsterdam- oder Bethesda-Kriterien erfüllen. Unter Einhaltung eines Diagnosealgorithmus würde man hierdurch schätzungsweise über 2.000 Lynch-Syndrom-assoziierte kolorektale Karzinome sowie ca. 500 Lynch-Syndrom-assoziierte Endome­triumkarzinome pro Jahr identifizieren.

 



Prof. Dr. med. Gabriela Möslein
HELIOS St. Josefs-Hospital Bochum-Linden