Die Bezeichnung „Leukämie“ als Sammelbegriff für eine Gruppe maligner Erkrankungen des blutbildenden Systems, die mit einem unkontrollierten Zellwachstum weißer Blutzellen einhergehen, stammt aus dem Griechischen und setzt sich zusammen aus den Wörtern „leukós“ (weiß) und „haïma“ (Blut).
Die Erkrankung wurde Mitte des 19. Jahrhunderts nahezu zeitgleich von dem schottischen Arzt John Bennett (1812–1875) und dem Berliner Mediziner Rudolf Virchow (1821–1902) beschrieben. Zwischen beiden zeitgenössischen Pathologen entbrannte ein regelrechter Gelehrtenstreit um die Beschreibung des Krankheitsbildes und dessen pathophysiologische Grundlage. Während Bennett die beobachteten „farblosen Körperchen“ auf eine Eiterbildung im Blut zurückführte, vermutete Virchow, dass es sich um dieVermehrung „farbloser Blutkörperchen“ handle, deren Ursprung in den Lymphdrüsen zu suchen sei. Letztlich erwies sich Virchows Vorstellung als richtig. Und der Berliner Arzt war es letztlich auch, der den Begriff Leukämie als Bezeichnung für die Erkrankung prägte.
Erst später wurde klar, dass Leuk-ämiezellen entweder myeloischer oder lymphatischer Herkunft sein können und die daraus resultierenden Erkrankungen sowohl in einer akuten und als auch in einer chronischen Form vorkommen.
Doch auch diese Erkenntnis war lediglich ein Zwischenschritt auf dem Weg zu einer molekular basierten Betrachtung von Leukämien, wie wir sie heute kennen. In den vergangenen Jahrzehnten konnte dank einer immer weiter verfeinerten Leukämiediagnostik der Paradigmenwechsel vom Phänotyp zum Genotyp vollzogen werden, der zu einer umfassenden genetischen Charakterisierung und einem besseren Verständnis der Leuk-ämieerkrankungen beitrug. Auch das Wissen um prognostische Faktoren und prädiktive Marker ist in den vergangenen Jahrzehnten enorm gewachsen, sodass für viele Patienten heute eine risikoadaptierte Therapieplanung und eine zunehmende Personalisierung des Therapieansatzes im Sinne einer Präzisionsmedizin möglich wurde. Und diese Entwicklung geht unaufhaltsam weiter.
In dieser Ausgabe von Trillium Krebsmedizin möchten wir Sie, liebe Leser, auf den aktuellen Wissensstand zu akuten und chronischen Leukämien sowie zu myelodysplastischen Syndromen (MDS) bringen. Es ist uns in diesem Kontext wieder gelungen, namhafte Experten als Autoren für die Beiträge zu gewinnen.
Wie Christoph Röllig, Dresden, berichtet, hat die klinische Forschung zur akuten myeloischen Leukämie (AML) in den letzten Jahren nennenswerte Fortschritte gemacht und befindet sich im Umbruch. Das AML-Management stellt deshalb momentan ein besonders spannendes Kapitel in der Hämatologie dar. Die AML, die sich durch ausgeprägte Heterogenität auszeichnet und in ihrem natürlichen Verlauf sehr aggressiv verläuft, wird heute molekulargenetisch und pathophysiologisch immer besser verstanden. Es werden immer mehr pathogenetisch bedeutsame Mutationen identifiziert, die Ansätze für zielgerichtete Therapien bieten. Auch Kombinationen aus neuen zielgerichteten Substanzen und bewährten Wirkstoffen bieten neue Behandlungsperspektiven.
Wenn es um die Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente geht, ist die chronische lymphatische Leukämie (CLL) die hämatologische Erkrankung, die seit einigen Jahren die größte Dynamik zeigt. Wie Clemens M. Wendtner, München, berichtet, beruht auch diese positive Entwicklung darauf, dass molekulare und genetische Charakteristika der Erkrankung besser verstanden werden und auf dieser Basis zielgerichtete Substanzen zur Krankheitskontrolle entwickelt werden konnten – auch dank einer ausgeprägten Studientätigkeit auf internationaler und nationaler Ebene. Die Therapielandschaft bei der CLL stellt sich laut Wendtner heute so dar, dass klassische Chemoimmuntherapien immer mehr an Bedeutung verlieren und zunehmend durch zielgerichtete, Chemotherapie-freie Kombinationen ersetzt werden, die teilweise auch zeitlich beschränkt eingesetzt werden können.
Die Einführung des Tyrosinkinase-Inhibitors (TKI) Imatinib in die Behandlung der Philadelphia-Chromosom-positiven (Ph+) chronischen myeloischen Leukämie (CML) gehört zu den großen Erfolgsgeschichten der Hämatoonkologie. Wie Susanne Saußele, Mannheim, berichtet, wurde die CML auf diese Weise von einer tödlich verlaufenden zu einer chronischen Erkrankung. Für die meisten Patienten, die sich in der chronischen Phase der Erkrankung befinden, geht die Erkrankung heute mit einer normalen Lebenserwartung einher.
Für die Erstlinienbehandlung stehen heute neben dem Erstgenerations-TKI Imatinib TKI der zweiten Generation zur Auswahl, deren gemeinsames Wirkprinzip die Hemmung der konstitutiv aktiven Tyrosinkinase BCR-ABL1 durch Blockierung einer ATP-Bindungsstelle ist. Bei Mutationen in diesem Bereich oder primären Unverträglichkeiten bietet sich ein Substanzwechsel an, während bei erneuter Resistenz, aber auch in fortgeschrittenen CML-Stadien oft als letzte Option nur noch die allogene Stammzelltransplantation bleibt. In jüngerer Zeit hat sich bei der CML neben dem Erreichen einer annähernd normalen Überlebenszeit bei guter Lebensqualität ein weiteres Therapieziel etabliert: das Erreichen einer stabilen tiefen molekularen Remission als Voraussetzung für eine therapiefreie Remission (TFR). Mit den STAMP-Inhibitoren schickt sich darüber hinaus eine weitere Substanzgruppe an, Eingang in die Behandlung der CML zu erlangen –zunächst in fortgeschrittenen Therapie-linien, aber durchaus mit dem Potential, zukünftig auch in frühere Linien vorzudringen.
Unser Schwerpunkt schließt mit einem Beitrag zu myelodysplastischen Syndromen (MDS) – nicht zuletzt, weil diese sehr heterogenen Erkrankungen das Risiko für die Transformation in eine AML bergen und deshalb unserer Meinung nach zu Recht ihren Platz in einem Leukämie-Schwerpunkt haben.
Wie Uwe Platzbecker, Leipzig, berichtet, ist die Produktion funktionseingeschränkter dysplastischer Knochenmarks- und Blutzellen charakteristisch für MDS, die wiederum auf einer gestörten Differenzierung hämatopoetischer Vorläuferzellen beruht. Aufgrund ihrer Heterogenität und Komplexität sind MDS diagnostisch und therapeutisch herausfordernd. Die allogene Stammzelltransplantation ist die derzeit einzige potentiell kurative Therapieoption. Bei der Klassifikation der MDS spielen auch zytogenetische Aberrationen eine bedeutende Rolle und ermöglichen eine Prognoseeinschätzung hinsichtlich des Überlebens und des Risikos für die Transformation in eine AML sowie eine Risiko-adaptierte Therapie. Wie bei den Leukämien spielen auch bei MDS molekulargenetische Analysen eine immer größere Rolle für die Diagnostik und für eine zunehmend individualisierte Therapie.
Abschließend möchte ich noch auf unsere erfolgreiche Serie „Vom Biomarker zur Therapie" hinweisen, von der in dieser Ausgabe bereits die 14. Folge erscheint. Dieses Mal geht es um die Tumormuta-tionslast (tumor mutational burden, TMB). Mit einem hochkarätigen Autorenteam vom Universitätsklinikum Heidelberg konnten wir erneut ausgewiesene Experten für diese Thematik gewinnen.