Da während der COVID-19-Pandemie teilweise weniger Krebserkrankungen als in regulären Zeiten diagnostiziert wurden, ist davon auszugehen, dass in den kommenden Monaten ein Mehrbedarf an Diagnostik und Therapie in der ambulanten und stationären Krebsmedizin besteht. Ärzt:innen sowie andere Berufsgruppen, die in der onkologischen Versorgung tätig sind, müssen daher immer wieder Entscheidungen über die Zuteilung von vorhandenen Betten, Personal und anderen Ressourcen treffen. Diese Überlegungen können Behandelnde belasten. Gleichzeitig müssen die Entscheidungen über die Verteilung knapper Ressourcen wohlinformiert, transparent und fair getroffen und auch an Patient:innen vermittelt werden.
Im Rahmen des vom BMBF geförderten CancerCOVID-Forschungsvorhabens wurden nun mit mehr als 30 wissenschaftlich-medizinischen Fachgesellschaften und weiteren Organisationen Handlungsempfehlungen für die Priorisierung in der Krebsversorgung im Falle einer zeitlich begrenzten Ressourcenknappheit veröffentlicht. Die von der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) anerkannte S1-Leitlinie „Priorisierung und Ressourcenallokation im Kontext der Pandemie. Empfehlungen für die Krebsversorgung am Beispiel gastrointestinaler Tumoren“ wurde unter Federführung von AIO und DGHO erarbeitet. Die Handlungsempfehlungen beschränken sich auf zwei Patientengruppen, genauer auf die Versorgung von an Bauchspeicheldrüsenkrebs beziehungsweise Darmkrebs Erkrankten. Es handelt sich nicht um eine Priorisierung zwischen verschiedenen Patientengruppen.
Neben medizinischen Expert:innen wurden auch Vertreter:innen von Patientenorganisationen sowie Expert:innen aus Ethik, Recht und Versorgungsforschung einbezogen. Bei der Erarbeitung zeigte sich letztlich ein breiter interdisziplinärer Konsens, der auch durch die Unterstützung von Patientenvertretungen mitgetragen wurde.
Konkrete Empfehlungen zur Minimierung von Schaden
Die Entwicklung der Leitlinie erfolgte in drei Schritten:
- Analyse der Daten zu Praxis und ethischen sowie psychosozialen Herausforderungen für die Krebsmedizin im Rahmen der Pandemie;
- Interpretation der Daten durch Expert:innen aus Onkologie, Ethik und Versorgungsforschung;
- Entwicklung begründeter Handlungsempfehlungen bezüglich Prioritäten und Ressourcenallokation in der Krebsmedizin im Kontext der Pandemie.
Das handlungsleitende ethische Prinzip im Falle notwendiger Priorisierungsentscheidungen ist, dass der mögliche Schaden minimiert wird. Bei der Entscheidungsfindung sollte immer das Mehraugenprinzip gelten. In einer qualitativen Interviewstudie, in der die Berufsgruppen, die an Krebs Erkrankte behandeln bzw. betreuen, befragt wurden, zeigte sich ein breiter Konsens im Hinblick auf die Priorisierung der Dringlichkeit der Behandlung und außerdem ein sehr hoher Stellenwert von kurativen Therapien. Angesichts der Komplexität von Entscheidungen in der Onkologie lässt die Leitlinie jedoch bewusst einen Ermessensspielraum für die Einzelfallentscheidung. „In Zeiten knapper Ressourcen müssen wir uns öfter fragen Was ist nötig? und nicht Was ist möglich?“, lautete das Statement von Prof. Ralf-Dieter Hofheinz, Mannheim.
Weiterentwicklung der S1-Leitlinie geplant
Die Leitlinie gilt zunächst für maximal ein Jahr. Eine Überarbeitung ist, auch angesichts zu erwartender neuer Erkenntnisse über die Versorgung von an Krebs Erkrankten im Kontext der Pandemie, vonseiten der Verantwortlichen fest geplant.
Dr. Annette Junker