Schnee, wie er pünktlich zu Beginn der 59. Jahrestagung der American Society of Hematology Anfang Dezember 2017 in Atlanta fiel, ist in den Südstaaten der USA eine seltene Erscheinung – womöglich hatte der auf die Olympischen Sommerspiele 1996 zurückgehende Athlet direkt vor dem Eingang zum Kongresszentrum (Abb. rechts) in seinem über 20-jährigen Dasein noch nie zuvor welchen gesehen. Entsprechend führte die Wetterlage in einem Landstrich, wo Winterreifen praktisch unbekannt sind, zu großer Aufregung bei den Veranstaltern – doch ging alles glimpflich ab, und neben der einstigen Stätte des Hochleistungssports wurde fünf Tage lang sehr produktiv über "Hochleistungs"-Hämatologie diskutiert.
Minimale Resterkrankung und Hoffnung auf Heilung
Wenn wir uns hier auf die malignen Erkrankungen des Bluts konzentrieren, fallen zwei allgemeine Themen auf, die sich entitätsübergreifend durch viele Präsentationen zogen: die wachsende Bedeutung möglichst tiefer Remissionen (Stichwort "minimale Resterkrankung") sowie – damit verbunden – die aufkeimende Hoffnung auf Heilung bei Erkrankungen, die bisher als unheilbar galten.
Dass man eine maligne Erkrankung, um den Patienten zu heilen, komplett eradizieren muss, scheint eine Binsenweisheit zu sein, aber so einfach sind die Verhältnisse nicht: Zunächst leuchtet ein, dass man eine komplette Eradikation nicht nachweisen kann – dazu müsste man jede einzelne der Milliarden Blutzellen im Körper untersuchen. Womöglich ist die komplette Eradikation auch gar nicht nötig: So gibt es Modellberechnungen, dass es Jahrzehnte dauern würde, durch Behandlung der chronischen myeloischen Leukämie (CML) mit Imatinib alle Krebszellen – vor allem auch die leukämischen Stammzellen – auszurotten. Trotzdem kann man bei ungefähr jedem zweiten Patienten, bei dem die Zellzahl durch die Therapie um vier bis fünf Log-Stufen (auf die derzeitige technisch machbare Nachweisgrenze) reduziert wurde, die Therapie absetzen, ohne dadurch ein molekulares Rezidiv zu provozieren. Die Vermutung ist, dass das Immunsystem des Patienten die verbliebenen malignen Zellen bekämpft und so ein Wiederaufflackern der Erkrankung verhindert.
MRD-Bestimmung bei allen leukämischen Erkrankungen
Das Beispiel der CML hat Schule gemacht: Wie in zahllosen Präsentationen in Atlanta zu sehen war, wird inzwischen bei praktisch allen leukämischen Krankheiten – vorerst in Studien – die minimale Resterkrankung (MRD) bestimmt. Das geschieht teils molekulargenetisch, teils durchflusszytometrisch und immer mit einer Sensitivität von 10-4 bis 10-5, d. h. es kann eine maligne Zelle unter 10.000 bis 100.000 normalen Leukozyten identifiziert werden. Ist bei dieser Empfindlichkeit keine Krebszelle mehr nachweisbar, beeinflusst das die Prognose der Patienten (progressionsfreies und auch Gesamtüberleben) dramatisch. Das zeigt sich in vielen Studien, z. B. bei der akuten myeloischen Leukämie (AML, S. 14/15) und bei der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL, S. 20 ff.), aber auch beim Multiplen Myelom ist zunehmend erkennbar, dass die Tiefe des Ansprechens ganz erheblichen Einfluss auf das Überleben hat (S. 36 ff.).
Ein Langzeitüberleben scheint sowohl bei der CLL als auch beim Myelom inzwischen in vielen Situationen denkbar zu sein, und viele Hämatologen getrauen sich mittlerweile, hier von der Hoffnung auf eine "Heilung" zu sprechen. Ob diese Hoffnungen gerechtfertigt sind, wird sich zeigen: Selbst bei der CML ist bisher noch lediglich die Rede von einer "therapiefreien Remission", und es wird noch einige Jahre der Nachbeobachtung in den einschlägigen Studien bedürfen, um solche Patienten für definitiv geheilt zu erklären.
Ein neuer Trend: zeitliche Begrenzung der Therapie
Damit verbunden ist ein weiterer Aspekt: Viele der modernen onkologischen Therapien, bis hin zu den Immuncheckpoint-Inhibitoren, sind bisher als Dauertherapien gedacht, und zwar – sofern die Erkrankung nicht progredient ist – ad infinitum. Dass das auf Dauer weder den behandelten Patienten noch den betroffenen Gesundheitssystemen zuzumuten ist, haben wiederum zuerst die CML-Forscher erkannt – daher die Studien mit der therapiefreien Remission. Auch bei anderen Leukämien verfolgt man mittlerweile diesen Ansatz:
Bei der CLL beispielsweise haben viele Studien der neuesten Generation – auch diejenigen der deutschen CLL-Studiengruppe – eingebaute Absetzkriterien, die als Steuerungsgröße in der Regel die minimale Resterkrankung verwenden (S. 20 ff.): Bei Patienten, die unter einer der hochwirksamen modernen Therapien MRD-negativ werden, beendet man die Therapie und wartet ab, ob der Patient in dieser Remission bleibt (und damit wohl als geheilt gelten kann).
Dabei sind solche Entwicklungen immer auch an technologische Fortschritte gekoppelt: In einem aufsehenerregenden Vortrag in der Late-Breaking-Abstracts-Sitzung in Atlanta wurde gezeigt, dass bei der AML ein MRD-Nachweis mittels Next Generation Sequencing (NGS) im Stadium einer morphologischen Komplettremission ein starker und unabhängiger Prädiktor für Rezidivrisiko und Überleben ist. NGS erweist sich dabei vor allem bei der genetisch so heterogenen AML als erheblich versatiler als die bisher verwendete Polymerasekettenreaktion: Im Gegensatz zu dieser kann man die MRD-Bestimmung mittels NGS bei praktisch allen neu diagnostizierten AML-Erkrankungen anwenden.