Im Bereich der pränatalen Diagnostik ist die Charakterisierung von zellfreier fetaler DNA (cffDNA) im maternalen Plasma bereits Teil der Standardabklärung von Erkrankungen des ungeborenen Kindes. In der onkologischen Diagnostik gewinnt die Detektion und Charakterisierung von tumorspezifischen Mutationen auf zirkulierender Tumor-DNA (ctDNA) im Blutplasma – auch bekannt als Liquid Profiling oder Liquid Biopsy – zunehmend an Bedeutung, insbesondere, wenn im Krankheitsverlauf kein Gewebe zur molekularen Diagnostik zur Verfügung steht.
In der Transplantationsmedizin informiert zirkulierende Spender-DNA im Empfängerplasma über eine drohende Abstoßungsreaktion. In Infektionskrankheiten werden DNA und RNA von pathogenen Erregern oder dem Wirtsorganismus zur Diagnostik, Resistenztestung und Beurteilung der Krankheitsschwere herangezogen. Bei kardiovaskulären, metabolischen, immunologischen Erkrankungen sowie bei physiologischen Testungen in der Sportmedizin wird das Potenzial der CNAPS gerade mehr und mehr entdeckt. Ein weites Spektrum an zukünftigen Anwendungen eröffnet vor allem die Entschlüsselung des Gewebeursprungs (Tissue-of-Origin Detection; TOO) der zirkulierenden Nukleinsäuren (CNAs) durch die auf Next Generation Sequencing (NGS) basierende Analyse von Methylierungs-, Nukleosomen- und Fragmentierungsmustern der CNAs.
Konferenz zeigt Vielseitigkeit der CNA-Forschung
So verwundert es nicht, dass das CNAPS-Symposium 2024 im Zeichen der multimodalen Diagnostik stand. Hier werden verschiedene Ebenen der CNA-OMICS-Diagnostik miteinander verwoben und die Modelle bioinformatisch mittels Machine-Learning-Methoden optimiert, womit eine möglichst passgenaue Diagnostik erreicht wird. Natürlich erfordert die Komplexität aller Komponenten ein hohes Maß an Standardisierung, analytischer und biostatistischer Validierung sowie klinischer Studien, um technische Fehler zu minimieren und allzu optimistische Ergebnisse aufgrund eines Overfittings realistisch einzuordnen.
Das Symposium war inspiriert von Prof. Michael Speicher, dem ehemaligen Direktor des Instituts der Humangenetik an der Universität Graz, Österreich, und weitbekannten, angesehenen Pionier der CNA- und Nukleosomenforschung.
Da Prof. Speicher leider völlig unerwartet im Vorfeld des Kongresses verstorben war, haben seine Mitarbeiterin Prof. Ellen Heitzer und Prof. Claus Lindbjerg Andersen die Organisation des Kongresses übernommen. Sie bereiteten ein hochqualitatives wissenschaftliches Programm mit internationalen Experten vor, die viele Aspekte der aktuellen CNA-Forschung beleuchteten. Diese umfassten unter anderem:
- die Struktur und Biologie der CNAs einschließlich der Fragmentanalyse,
- den Stellenwert der CNAs bei physiologischen und pathologischen Prozessen,
- Nukleosomen, Epigenetik und Zugänglichkeit des Chromatins für Transkriptionsfaktoren,
- die diagnostische Anwendung in der Früherkennung von Tumorerkrankungen,
- den Einsatz der CNAs für das Monitoring von Therapien und der minimalen Resterkrankung (MRD) in der Onkologie,
- die Ergebnisse von diagnostischen CNA-Studien auf verschiedenen klinischen Gebieten,
- vielfältige bioinformatische und statistische Ansätze zur gewebespezifischen Entschlüsselung der multimodalen CNA-Muster sowie
- zukunftsweisende Entwicklungen der CNA-Forschung.
Multimodale CNA-Forschung
Es fällt schwer, aus diesem vielseitigen Potpourri einzelne der vielen exzellenten Vorträge der hochkarätigen Redner hervorzuheben. Aber es lassen sich einige Entwicklungslinien beschreiben, die in den vergangenen Jahren immer mehr an Bedeutung gewonnen haben.
Augenscheinlich waren die Forschungsarbeiten der Gruppe von Michael Speicher in mehreren Aspekten wegweisend: Durch die Etablierung von Methoden zur diagnostischen Nutzung der „nucleosome depleted regions“ (NDRs) und „transcription factor binding sites“ (TFBS) ermöglichte er die Charakterisierung von aktiven Genregionen auf zellfreier DNA (cfDNA) sowie deren Gewebezuordnung (TOO).
Speichers Gruppe präsentierte weitere analytische und biostatistische Optimierungsschritte dieser Methoden. Diese weisen in Kombination mit der Machine-Learning-basierten Analyse von epigenetischen und Fragmentierungsmustern die Richtung für die zukünftige multimodale CNA-Diagnostik.
Florent Moulière, Manchester, Großbritannien, und Alain R. Thierry, Montpellier, Frankreich, präsentierten weitere, davon unabhängige Untersuchungen zu multimodalen CNA-Konzepten, wobei sie auch das diagnostische Potenzial von ultrakurzen und langen DNA-Fragmenten aufzeigten.
Ein weiteres Highlight war die Vorstellung des kürzlich publizierten hochauflösenden cfDNA-Methylierungs-Atlas von Yuval Dor und Tommy Kaplan, beide aus Jerusalem, Israel. Auf Basis dieser Datensammlung können sowohl gewebe-, zelltyp- wie auch erkrankungsassoziierte Methylierungsmuster der cfDNA identifiziert werden. Diese Ansätze können bei vielen physiologischen und pathologischen Zuständen von diagnostischem Nutzen sein.
Klinische Applikationen der CNA-Diagnostik
Ivijin de Vlaminck, Ithaca, NY/USA, und Kai Sohn, Stuttgart, berichteten vom Einsatz der cfDNA-Diagnostik bei infektiösen Erkrankungen, Sean Agbor-Enoh, Baltimore, MD/USA, von der Anwendung im Monitoring der kritischen Phase nach einer Stammzell- oder Organtransplantation und Bernhard Zimmermann, Austin, TX/USA, sowie Mira Moufarrej, Stanford, CA/USA, von den jahrelangen Erfahrungen in der cffDNA-Pränataldiagnostik.
Mehrere Sessions widmeten sich schließlich der onkologischen Diagnostik: Große Fortschritte wurden insbesondere in der Früherkennung von Tumorerkrankungen durch Multi-Cancer-Early-Detection(MCED)-Testungen gemacht, wie unter anderem Allen Chan, Hongkong, Nickolas Papadopoulos und Victor Velculescu, beide Baltimore, MD/USA, berichteten. Mittlerweile liegen große Screening-Studien vor, die das Potenzial für eine hochspezifische und sensitive Tumorerkennung belegen. Allerdings ist der positive Vorhersagewert in sehr frühen Tumorstadien noch nicht ausreichend für eine Screening-Strategie mit alleiniger ctDNA-Diagnostik.
Eine wesentliche Applikation in der onkologischen Diagnostik wird das Monitoring der MRD durch ctDNA sein. Auch hier sind besonders sensitive Verfahren notwendig, wie Claus Lindbjerg Andersen, Aarhus, Dänemark, anhand seiner digitalen PCR-Studien beim Kolon- und Mammakarzinom und auch Max Diehn, Stanford, CA/USA, mittels ultrasensitiver NGS-basierter Verfahren darstellten. Deshalb fand die Präsentation einer neuen ultratiefen doppelsträngigen Ultima-Sequencing-Technologie durch Itai Rusinek, Rehovot, Israel, viel Beachtung. Durch eine maximale Fehlerreduktion bis in den ppm-Bereich ist mittels derer auch eine effiziente Sequenzierung sehr seltener genomischer Varianten in der Plasma-cfDNA möglich.
Die aktuelle Anwendung von Liquid Profiling im Therapiemonitoring wie auch neue randomisierte Studien zu ctDNA-basierten therapeutischen Interventionen wurden von Luis Diaz Jr., New York, NY/USA, und Alexander Wyatt, Vancouver, Kanada, vorgetragen. Als klinische Onkologen betonten sie jedoch auch die Notwendigkeit von weiteren randomisierten Studien. Im adjuvanten Setting liegen solche Studien bereits vor, wie Naureen Starling, London, Großbritannien, anhand der UK-TRACC-Studien und Jeanne Tie, Melbourne, Australien, unter anderem mit den Studien DYNAMIC, GALAXY und CIRCULATE belegten. In diesen Studien war eine ctDNA-Präsenz im Blutplasma nach einer primären Operation eines kolorektalen Karzinoms mit einer ungünstigen Prognose assoziiert gewesen. Diese hatte eine adjuvante Therapie erforderlich gemacht. Dahingegen hat ein kompletter ctDNA-Rückgang nach einer Operation aufgrund der sehr guten Überlebensdaten sogar einen Verzicht auf eine adjuvante Therapie ermöglicht.
Fragmentomics: zentraler Teil multimodaler Analyse
Dennis Lo, Hongkong, stellte mit der differenziellen cfDNA-Fragmentom-Analyse einen neuen vielversprechenden Ansatz vor, bei dem verschiedene Aspekte der Fragmentlängen, -endigungen und Basen-Endmotive berücksichtigt werden. Er zeigte die Verbindungen zur Aktivität spezifischer Nukleasen (DNASE1L3) und zu Methylierungsmustern auf, die mittels biostatistischer Werkzeuge (FRAGmentomics-based Methylation Analysis; FRAGMA) miteinander kombiniert werden – und dabei die Treffsicherheit der Diagnostik zum Beispiel bei Leberkarzinomen verbessern.
Der Einsatz von Fragmentomics in klinischen Studien wurde ebenso durch Nitzan Rosenfeld, Cambridge, Großbritannien, Florent Mouliére, Manchester, Großbritannien, und Mohammed Murtaza, Madison, WI/USA, hervorgehoben. Weitere Entwicklungen stellen hier die Kombination mit Proteinmarkern sowie die präanalytische Vereinfachung durch den Einsatz von Trockenblutkarten („dried plasma spots“) für die Diagnostik dar.
Epigenetik und Nukleosomen rücken ins Rampenlicht
Die strukturelle Besonderheit von cfDNA durch die Organisation in Protein-DNA-Komplexen als Nukleosomen bietet ein breites Spektrum an Anwendungen. Efrat Shema, Rehovot, Israel, stellte die EPINUC-Technologie zur multimodalen Einzelmolekülanalyse des epigenetischen Codes zirkulierender Nukleosomen vor, bei der Veränderungen des Histon-Codes, der DNA-Methylierung und der assoziierten Proteinbiomarker kombiniert werden.
Robert Patton, Seattle, WA/USA, nutzt weitere Aspekte der Nukleosomen wie deren Positionierung, des Phasing und von Transkriptionsstartpunkten (TSS) auf Schlüsselgenen für eine multimodale Analyse. Wie komplex die Nukleosomenanalyse ist und welche biostatistischen Fehlerkorrekturen nötig sind, zeigten Isaac Lazzeri und Gernot Spiegl, beide Graz, Österreich, auf.
Bioinformatik ist das A und O
Die Standardisierung der bioinformatischen Pipelines zur Datenprozessierung und Auswertung beschäftigte viele Teilnehmende der Konferenz. Entsprechend stark besucht waren die Präsentationen von Tommy Kaplan über DNA-Methylierungs-Analysen und von Hui Zhao, Shanghai, China, über cfDNA Whole Genome Sequencing (WGS), der sowohl Fehlerquellen, notwendige Korrekturen und geeignete Software-Tools vorstellte.
Ros Cutts, London, Großbritannien, und Alex Frankell, Cambridge, Großbritannien, berichteten von ihren Erfahrungen unter anderem im TracerX-Konsortium mit der Anwendung von neuen Machine-Learning-Ansätzen für ctDNA-Analysen zur Früherkennung und longitudinalen Beobachtung von Tumorerkrankungen.
Jakob Pedersen, Aarhus, Dänemark, hob neben der Modellierung von Sequenzierfehlern auch die Relevanz von biologischen und präanalytischen Einflüssen bei Patienten und bei der Probensammlung hervor.
Fazit
In der Bandbreite der Beiträge wurde deutlich, mit welch rasanter Geschwindigkeit und auf wie vielen Ebenen sich das Feld der CNA-Forschung entwickelt und durch große, randomisierte klinische Studien mehr und mehr Eingang in die Diagnostik im Rahmen der Patientenversorgung findet. CNAPS ist mehr denn je ein hochdynamisches Feld, das eine große Zukunft vor sich hat.