Die Entwicklung von computer-, konsolen- und videobasierten Spielen in den vergangenen Jahren, die unter anderem von Technikunternehmen wie Sony (PlayStationTM), Nintendo (Game BoyTM) und Microsoft (XboxTM) maßgeblich vorangetrieben wurde, zielte marktwirtschaftlich vor allem auf die Zielgruppe der Kinder und Jugendlichen und hat deren Spiel- und Freizeitkultur maßgeblich beeinflusst [1]. Die gesellschaftliche Durchdringung wie auch die Weiterentwicklung bestimmter kompetitiver Spielkonzepte (z. B. League of Legends), bei denen mittels Joysticks, Computermaus und speziellen Tastaturen online Teams mit- und gegeneinander in Wettbewerben antreten können, hat zur Entstehung des E-Sports geführt. Hierbei werden bereits höhere körperliche Anforderungen erzeugt als bei normaler sitzender Tätigkeit [2, 3].
Parallel dazu hat sich seit Anfang der 2000er-Jahre das Genre der Exergames etabliert. Hierbei handelt es sich um Computerspiele, die über Bewegungshandlungen der Spielenden gesteuert werden. Mittels verschiedener Sensoren werden reale Körperbewegungen (z. B. der Arme oder Beine) erfasst und in das digitale Spiel übertragen. Der Begriff Exergames steht demnach für die Verbindung von körperlicher Aktivität (Exercise) mit technologiegestützter beziehungsweise videobasierter Spielaktivität (Gaming). Vor allem die Nintendo WiiTM und die Xbox 360TM verhalfen der grundlegenden Technologie zur Erfassung echter Körperbewegungen im spielerischen Kontext zum Durchbruch. Während die Nintendo WiiTM auf die Nutzung eines Balance Boards oder zweier handgeführter Infrarot-Controller setzt, nutzt die Xbox 360TM ein interaktives kamerabasiertes Scansystem zur Spielsteuerung, das die freie Ganzkörperaktivität des Spielers im Raum zulässt.
Die Hallesche Onkologische Sport- und Bewegungstherapie setzte primär die Spielkonsole von Nintendo WiiTM bei onkologischen Patienten ein. Vor allem im Einsatz des WiiTM Balance Board wurde das Potenzial gesehen, neben einer moderaten physischen Belastung hohe Koordinations- und Gleichgewichtsanforderungen an die Patienten zu stellen und gleichzeitig Spielspaß zu ermöglichen. Vor allem die Abnahme der chemotherapieinduzierten Nebenwirkungen Fatigue und Polyneuropathie wurde angestrebt.
Effekte von Exergaming als supportive Ergänzung
In den vergangenen Jahren lässt sich ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse bezüglich Exergames als therapeutisches Medium für verschiedene Indikationen und Zielgruppen [4–8] beobachten. Dies betrifft einerseits die unmittelbaren körperlichen Effekte durch das aktive Spielen, andererseits aber auch weitere potenzielle Wirkebenen und damit assoziierte Wirkmechanismen.
Die ersten Interventionsstudien im onkologischen Bereich gingen vor allem mit der Verfügbarkeit kommerzieller Spielkonsolen einher, wobei die generelle Machbarkeit, die Akzeptanz der Tumorpatienten und das Thema Fatigue im Fokus standen [9, 10]. Hierbei wurde deutlich, dass Exergaming durch den motivierenden Aufforderungscharakter, die spielerische Entkoppelung der Therapiesituation und das niedrigschwellige Belastungsprofil das Potenzial für eine innovative Ergänzung zu klassischen Bewegungsangeboten besitzt. Für vulnerable Personen, die in den unterschiedlichen Therapiephasen zum Teil nur bedingt körperlich belastbar sind, bietet die Anwendung von Exergames eine sichere und zugleich flexible Möglichkeit zur körperlichen Aktivierung.
Bisherige Studien beziehen sich dabei nicht nur auf (die vermeintlich naheliegende) Zielgruppe von Kindern und Jugendlichen, sondern umfassen in großem Umfang auch Erwachsene und ältere Patienten. Zudem ist das Spektrum an Entitäten dabei breit. Neben Brust- und Prostatakrebs finden sich ebenso Studien aus den Indikationsgebieten Lungenkrebs, Blutkrebs oder Mund- und Kehlkopfkrebs.
In einer aktuellen Übersichtsarbeit zur Anwendung virtueller Bewegungsintervention [11] bei Tumorpatienten mit unterschiedlichen Entitäten zeigte sich, dass durch Exergaming signifikante Verbesserungen hinsichtlich der Funktionen oberer Extremitäten sowie der Schmerz- und Fatigue-Symptomatik, aber auch bezüglich Angst und Lebensqualität bewirkt werden können. Das Review basiert auf Daten aus 17 Studien mit insgesamt 799 Tumorpatienten. Im Vergleich zu Kontrollinterventionen ließen sich bei einzelnen Parametern auch teilweise höhere Effekte beobachten.
In einem weiteren Review mit zum Teil überschneidender Studiengrundlage (21 Arbeiten; 362 Krebspatienten), aber einem expliziteren Fokus auf die Nutzung von Nintendo WiiTM und Xbox 360TM [12], konnten Verbesserungen auf der Ebene der Ausdauerfähigkeit, der Lebensqualität, der krebsbedingten Fatigue und der Selbstwirksamkeit dargestellt werden. Auch in aktuell veröffentlichten randomisiert-kontrollierten Studien bestätigen sich die bisherigen Erkenntnisse [13–15].
Erklärungsansätze zur Wirkung von Exergames
Entsprechende Effekte stehen in erster Linie im Zusammenhang mit der körperlichen Aktivität und damit assoziierten Wirkmechanismen [16], die aus der unmittelbaren Durchführung von Exergames resultieren. Häufigkeit und Intensität werden daher als zentrale Schlüsselfaktoren zur Auslösung entsprechender Effekte angesehen [12]. Zwar werden beim Exergaming überwiegend geringe, zum Teil moderate Belastungsintensitäten erreicht [17, 18], jedoch wird diskutiert, dass der spielerisch-virtuelle Kontext eine besondere Trainingskonstellation erzeugt, bei der neben motivationalen auch spezielle neurobiologische Wirkmechanismen [5, 19] ausgelöst werden.
Daneben wird der Spielprozess selbst bei Personen mit einer Krebserkrankung in Verbindung mit intrinsischer Belohnung, Selbstentfaltung und persönlicher Bestätigung gebracht, wodurch Aspekte der psychischen Gesundheit (u. a. Wohlbefinden) moderiert werden könnten [20, 21]. Diesen Erklärungsansatz unterstützen Studien, in denen Patienten nach dem Exergaming zu ihrem subjektiven Erleben befragt wurden. Dabei wurde die Nutzung einer bewegungsaktivierten Spielekonsole im klinischen Setting im Allgemeinen positiv bewertet. Die Teilnehmenden berichteten über ein hohes Maß an Akzeptanz. Beim Spielen mit der Nintendo WiiTM fühlte sich die Mehrheit der Patienten motiviert, während ihres Krankenhausaufenthalts körperlich aktiv zu werden.
Das Erleben von Zeitvergessenheit, eines intensiven Eintauchens in die Spielwelt, die herausfordernd und gleichzeitig kontrollierbar wahrgenommen wird, sich auf das Hier und Jetzt einlassen zu können und damit temporär die eigene Tumorerkrankung ausblenden zu können, deutet darauf hin, dass Exergaming zu einem Flow-Erleben führen kann. Das ist bedeutsam, da bekannt ist, dass Flow-Erfahrungen die intrinsische Motivation stärken [22].
Darüber hinaus konnte in einer experimentellen Laborstudie beim Spielen auf dem WiiTM Balance Board der Effekt sozialer Aktivierung nachgewiesen werden. Die Anstrengungsbereitschaft und die Spielleistung erhöhen sich signifikant, wenn der Patient, statt allein zu spielen, die Möglichkeit erhält, gegen einen anderen Akteur anzutreten [23].
Exergames: Entwicklungen und Einsatzempfehlungen
Neuere Geräte wie die PlayStation VRTM, die Xbox OneTM oder die HTC VIVETM können computergenerierte virtuelle Realitäten (VR) über Headsets mit integriertem Display darstellen. Sie verfügen über zusätzliche externe Kameras, Ultraschallsensoren und IMU(Internal Measurement Units)-Sensoren. In Kombination mit hochentwickelten Computer-Vision-Algorithmen, die in die Hard- und Software implementiert sind, wird eine sehr präzise Bewegungserfassung möglich. So kann beispielsweise die VR-Brille HTC VIVE Pro 2TM mit einer Bildwiederholrate von 120 Hz und einer Auflösung von 4 k pro Auge selbst kleinste Details in der Ferne darstellen und Videosequenzen sehr viel flüssiger als herkömmliche Systeme abspielen. Die Bewegungen der Patienten werden auch bei diesen Systemen zusätzlich über zwei Controller in den Händen gesteuert und erfasst.
Inzwischen kommen in der onkologischen Supportivtherapie neben Fitnessspielen, Sport- und Abenteuerspielen sowie Gedächtnis- und Koordinationsspielen auch Entspannungsspiele zum Einsatz, die darauf abzielen, Stress abzubauen und eine positive Stimmung zu fördern. Das Eintauchen in virtuelle Welten kann besonders dann zur Entspannung eingesetzt werden, wenn Tumorpatienten im klinischen Setting stark unter innerer Unruhe leiden. Patienten, die sich in einer Langzeittherapie befinden, klagen oftmals schon vor Beginn des Termins oder während langer Wartezeiten über Anspannung und Unwohlsein. Mithilfe einer VR-Brille und beispielsweise dem Spiel Kayak VR: MirageTM können die Patienten dem klinischen Alltag für einen kurzen Moment entfliehen und in einem virtuellen Kajak durch den Grand Canyon, die Antarktis oder eine andere Landschaft ihrer Wahl paddeln. Anstelle des Paddels halten die Patienten zwei Controller in der Hand, mit denen sie die Bewegungen wie im echten Boot ausführen, um sich über das Wasser gleiten zu lassen (Abb. 1).