Transparenz und proaktive Kommunikation über tierexperimentelle Forschung
Tierversuche verstehen
Die Nutzung von Tieren in der Forschung hat ein denkbar schlechtes Image. Forscher und Forscherinnen fühlen sich missverstanden und bedroht, die öffentliche Diskussion um dieses wichtige und anspruchsvolle Thema ist dominiert von den extremen Positionen radikaler Tierversuchsgegner. Diese suggerieren der Öffentlichkeit eine enthemmte und nutzlose tierexperimentelle Forschung zum Ruhm und Reichtum gewissensloser Forscher und Forscherinnen zu Lasten der Tiere.
Wie konnte es zu so schlechten Voraussetzungen für einen sachlichen, faktenbasierten gesellschaftlichen Diskurs kommen? Ganz wesentlich hat dazu die mangelnde Transparenz und Kommunikation von Seiten der Wissenschaft über die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen, die Grenzen und die Bedeutung von tierexperimentellen Ansätzen beigetragen. Koordiniert und finanziert von der Allianz der Wissenschaftsorganisationen ist am 6. September 2016 die Informationsinitiative „Tierversuche verstehen“ an den Start gegangen. Mit einer Website (www.tierversuche-verstehen.de) und anderen Aktivitäten richtet sich die Initiative an Öffentlichkeit, Politik und Medien, um umfassend und transparent über Tierversuche in der Forschung zu informieren. Sie leistet damit nun seit knapp zwei Jahren einen entscheidenden Beitrag dazu, die öffentliche Diskussion über Notwendigkeiten, Nutzen und Alternativen tierexperimenteller Forschung zu versachlichen.
Schlüsselwörter: Wissenschaftskommunikation, Tierversuche, Biologie, Medizin
Ausgangspunkt
Die Biomedizin ist ein Schwerpunkt moderner Forschung mit enormen Erfolgen. So hat sich unser Wissen um die Funktionsweise des Immunsystems, seiner Erkrankungen und deren Prävention, Diagnose und Therapie in den letzten Jahrzehnten explosionsartig erweitert. Das hat zu großen Fortschritten in der Medizin geführt, aber auch zu einem neuen Verständnis dafür, was den menschlichen Organismus ausmacht und inwieweit er sich von anderen Organismen, wie etwa dem assoziierten Mikrobiom, abgrenzen lässt. Trotzdem werden ganze Bereiche der biomedizinischen Forschung in der Öffentlichkeit kritisch gesehen. Dazu gehören zum Beispiel die Gentechnik, die Stammzellforschung und Tierversuche.
Tierexperimentelle Ansätze sind zwar nur ein kleiner Teil des biomedizinischen Methodenspektrums, sie sind aber für zentrale Bereiche und Fragestellungen essenziell und alternativlos. So haben Tierversuche zu fast allen Nobelpreisen für Physiologie und Medizin der letzten 100 Jahre beigetragen. Zu dieser wissenschaftlichen Erfolgsgeschichte kommen große Fortschritte im Tierschutz durch umfangreiche Verbesserungen in der Methodik und der Entwicklung hoher gesetzlicher Anforderungen an tierexperimentelle Forschung.
Trotzdem hat diese ein denkbar schlechtes Image. Forscher und Forscherinnen fühlen sich missverstanden und bedroht, die öffentliche Diskussion um dieses wichtige und anspruchsvolle Thema ist dominiert von den extremen Positionen radikaler Tierversuchsgegner. Diese suggerieren der Öffentlichkeit eine enthemmte und nutzlose tierexperimentelle Forschung zum Ruhm und Reichtum gewissensloser Forscher und Forscherinnen zu Lasten der Tiere.
Kommunikationsschieflage
Wie konnte es zu so schlechten Voraussetzungen für einen sachlichen, faktenbasierten gesellschaftlichen Diskurs kommen? Ganz wesentlich hat dazu die mangelnde Transparenz und Kommunikation von Seiten der Wissenschaft über die Notwendigkeit, die Rahmenbedingungen, die Grenzen und die Bedeutung von tierexperimentellen Ansätzen beigetragen (Abb. 1).
In anderen forschungsstarken Ländern hat die Wissenschaftsgemeinschaft aus dieser Erkenntnis schon vor Jahren Konsequenzen gezogen und Anstrengungen unternommen, diese Kommunikationsschieflage zu überwinden. Die britische Understanding Animal Research, die französische Recherche Animal, die Schweizer Forschung für Leben oder die amerikanische Foundation for Biomedical Research sind Beispiele für koordinierte Transparenz- und Kommunikationsinitiativen der dortigen Wissenschaft.
In Deutschland hat diese Entwicklung deutlich länger gebraucht. Trotz vereinzelter lokaler Initiativen war es vor allem die komplexe, zergliederte Struktur der deutschen akademischen Forschungslandschaft und die ausgeprägte Elfenbeinturmmentalität in der Wissenschaft, die hier als Hemmschuh gewirkt haben.
Informationsinitiative der Allianz der Wissenschaftsorganisationen
Nach einer langen Vorbereitungszeit schließt Deutschland nun aber seit Ende 2016 zu den entsprechenden Aktivitäten im Ausland auf. Koordiniert und finanziert von der Allianz der Wissenschaftsorganisationen1 ist am 6. September die Informationsinitiative „Tierversuche verstehen“ an den Start gegangen. Sie startet mit einem jährlichen Budget von 250.000 € über fünf Jahre, einer Referentenstelle, der Expertise einer Kommunikationsagentur und dem ehrenamtlichen Engagement der Wissenschaftler/-innen und Kommunikationsexperten in ihrer Steuerungsgruppe und den beteiligten Institutionen.
Mit der Website (www.tierversuche-verstehen.de) richtet sich die Initiative an Öffentlichkeit, Politik und Medien, um umfassend und transparent über Tierversuche in der Forschung zu informieren und damit die öffentliche Diskussion über Notwendigkeiten, Nutzen und Alternativen tierexperimenteller Forschung zu versachlichen. Dazu kommen ein Youtube-Kanal und Kommunikation über die sozialen Medien (auf Twitter unter @TVVde) sowie Kommentar- und Diskursmöglichkeiten. Über eine Expertendatenbank vermittelt die Initiative Ansprechpartner für Journalisten, Schulen und die Politik.
„Tierversuche verstehen“ ist keine Reaktion auf einzelne medienwirksame Kampagnen von radikalen Tierversuchsgegnern, im Netz oder auf der Straße. Das Projekt repräsentiert vielmehr einen Richtungswechsel in der Kommunikation über konfliktreiche und komplexe Themen: Fand Kommunikation über Tierversuche von Seiten der Wissenschaft bisher vor allem anlassbezogen als Krisenkommunikation statt, wirbt die Initiative nun darum, mit proaktiver Kommunikation zu einem sachlichen, faktenbasierten gesellschaftlichen Diskurs beizutragen. Dies ist kein Ersatz, sondern eine Ergänzung für die entsprechenden lokalen Aktivitäten von Seiten einzelner Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und ihrer Institutionen. Für diese bietet „Tierversuche verstehen“ Medientrainings und berät, wie Transparenz und eine proaktive Kommunikation zu dem schwierigen Thema Tierversuche gelingen kann.
Kommunikationsverantwortung
Mit der Gründung der Informationsinitiative stellt sich die Allianz der Wissenschaftsorganisationen der Kommunikationsverantwortung öffentlich geförderter Forschung. Verantwortungsbewusste Tierversuche beruhen auf einem gesellschaftlichen Konsens über die Abwägung zwischen dem Schutz und Wohl des Tieres und der Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis für den Menschen und für Tiere. Dieser Konsens muss stetig von einer sachlichen und faktenbasierten Diskussion begleitet werden. Dazu soll die Informationsinitiative wesentliche Beiträge liefern.
Großer Bedarf an Information
Die hohe Zahl an Zugriffen auf die Webseiten von „Tierversuche verstehen“, das Interesse an den Videoclips des Youtube-Kanals und der stetige Zuwachs bei den Twitter-Followern dokumentieren einen großen Bedarf an verlässlichen Informationen über Tierversuche in der Öffentlichkeit und auch in der Wissenschaft selbst. Besonders gefragt sind die Materialien zur Bedeutung und Rolle von Tierversuchen, aber auch Materialien, die sich häufigen Fehlwahrnehmungen in der Öffentlichkeit widmen. Dazu gehört zum Beispiel die Vorstellung, dass Tierversuche für Kosmetik gemacht werden, obwohl solche Versuche seit Jahren in Deutschland und auch allen anderen EU-Staaten verboten sind. Selbst der Import von im Nicht-EU-Ausland in Tierversuchen getesteten Kosmetika ist verboten. Ebenso verbreitet ist die Vorstellung, dass Schimpansen und andere Menschenaffen in Tierversuchen eingesetzt werden, obwohl das in Europa schon seit mehr als zehn Jahren nicht mehr der Fall ist. Die Website erläutert zudem die Möglichkeiten und Grenzen von Alternativ- und Ergänzungsmethoden und bietet umfangreiche Informationen über die Anzahl und Art von Tieren in der tierexperimentellen Forschung sowie die rechtlichen und ethischen Rahmenbedingungen.
Neben solchen statischen Hintergrundinformationen liegt der Fokus der Webseite aber auf einer Nutzung als Newsportal. Die Inhalte auf der Startseite verändern sich dynamisch; neue Artikel, Meldungen, Interviews und andere Beiträge kommen hinzu, die auf aktuelle Forschungsergebnisse hinweisen, zu Diskussionen Stellung nehmen und aktuelle Entwicklungen einordnen. Dabei ist die Redaktion, die die Inhalte für die Webseite erstellt, auf die Unterstützung aus der wissenschaftlichen Community angewiesen. Kontinuierlich benötigt die Initiative Ansprechpartner und Experten, die sich bereit erklären, öffentlich zur Verfügung zu stehen für die Recherche von verlässlichen Hintergrundinformationen, für Interviews oder auch für zeitkritische Statements zu aktuellen Forschungsfragen.
Erfolge
Die wohl wichtigste Erkenntnis seit dem Start der Initiative ist, dass sich viele der Befürchtungen, die im Vorfeld die Diskussion über mehr Transparenz und proaktive, offene Kommunikation zum Thema Tierversuche bestimmt hatten, nicht bewahrheitet haben. Weder gab es einen der berüchtigten „shit storms“ in den sozialen Netzwerken, noch hat die zunehmende Kommunikationsaktivität zu diesem Thema „schlafende Hunde“ geweckt und in der Folge zu medienwirksamen Kampagnen gegen die Initiative oder seine Protagonisten geführt. Eine wichtige Erfahrung, die sich auch an vielen Einzelbeispielen zeigen lässt, ist also, dass eine Öffnung hin zu vermehrter proaktiver Kommunikation nicht damit korreliert, ob oder wie sehr man in den Fokus von Kampagnen der Tierversuchsgegner gerät. Tatsächlich scheint eher das Gegenteil der Fall zu sein: Proaktive Kommunikation ist nicht nur eine gute Vorbereitung auf die nächste Krise, sondern kann dazu beitragen, vor einer solchen zu schützen. Ein eindrückliches Beispiel dafür fand sich unlängst am Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin (MDC) in Berlin, das durch die langjährige Offenheit seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Lage war, sich kollektiv und solidarisch einer Negativ-Kampagne offensiv entgegenzustellen, und so für eine ausgewogene Berichterstattung zu sorgen (Bericht und Hintergrund: www.tierversuche-verstehen.de/wir-haben-kein-herz-aus-stein-lassen-sie-uns-reden/).
„Tierversuche verstehen“ hat sich in der deutschen Medienlandschaft durch schnelle und umfassende Bearbeitung von Presseanfragen mittlerweile einen festen Platz als Ansprechpartner für die Sicht der Wissenschaft gemacht. Dies ist insbesondere dort wichtig, wo die redaktionelle Verantwortung für journalistische Beiträge zum Thema Tierversuche nicht mehr bei Fachjournalisten liegt, die in aller Regel mit der Thematik vertraut und in der Lage sind, trotz Zeit und Ressourcenmangel mit der nötigen Sorgfalt zu recherchieren. Dabei baut „Tierversuche verstehen“ auch auf die punktuelle Zusammenarbeit mit dem Angebot des Science Media Centers Germany (SMC), das Journalisten bei der Berichterstattung zu wissenschaftlichen Themen mit gesamtgesellschaftlicher Brisanz unterstützt.
Auch innerhalb der lebenswissenschaftlichen Community ist die Initiative bekannt geworden und findet dort zunehmend Unterstützung. So haben sich bereits zehn unabhängige wissenschaftliche Organisationen den Anliegen und Zielen der Initiative als Kooperationspartner angeschlossen. Darunter sind neben Fachgesellschaften wie der Deutschen Gesellschaft für Immunologie (DGfI) auch große Verbände wie der VBIO und die Deutsche Hochschulmedizin. Es ist daher nur konsequent, dass Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler oder Forschungseinrichtungen die Angebote auf vielfältige Weise nutzen, etwa als Informationsressource, zur Beratung für eigene Aktivitäten oder als Referenten für Vorträge und Diskussionsveranstaltungen.
Ausblick
Ein wichtiges Anliegen der Initiative ist, die Kommunikationsanstrengungen aller relevanten Forschungseinrichtungen zu verstärken und die Transparenz lokal zu erhöhen. Zu viele Universitäten und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen verzichten aktuell noch darauf, sich öffentlich zu dem Thema Tierversuche zu positionieren. Es findet aber zunehmend ein Umdenken statt, hin zu mehr Offenheit und Transparenz. Dafür ist „Tierversuche verstehen“ in verschiedener Weise Katalysator und verlässlicher Partner, und trägt etwa durch Beratungsgespräche oder als Initiatorin neuer Überlegungen zu einer neuen Kommunikationskultur bei. Dazu hat die Initiative gerade kürzlich ein spannendes Drittmittelprojekt gemeinsam mit der VolkswagenStiftung ins Leben gerufen, bei dem sich Universitäten für Mittel zur Entwicklung einer transparenten Kommunikation zu Tierversuchen bewerben können. Wichtiges Ziel der Initiative ist dabei, die Institutionen zu ermächtigen selbst sprechfähig zu werden – und zwar nicht erst im Krisenfall. Die Angebote von „Tierversuche verstehen“ sollten immer nur als Ergänzung lokaler Kommunikationsaktivitäten gesehen werden – niemals als Ersatz.
Wie wir aus vielen anderen Lebensbereichen wissen, verlagert sich der Prozess der Meinungsbildung zunehmend in die sozialen Netzwerke. „Tierversuche verstehen“ sucht daher die Vernetzung mit Wissenschaftskommunikatoren, Journalisten und anderen Zielgruppen bei Twitter und beteiligt sich an der Diskussion der eigenen Videos auf YouTube. Allerdings werden diese Netzwerke durch den Effekt der „Filterblasen“ beherrscht. Das führt dazu, dass die Reichweite der eigenen Aktivitäten meist sehr viel beschränkter ist, als es zunächst den Anschein hat. Auch die Initiative „Tierversuche verstehen“ wird durch solche Effekte herausgefordert neue Wege zu gehen. Gerade Twitter eignet sich hierbei als Medium mit dem Potenzial, diese Blasen zumindest punktuell zum Platzen zu bringen, indem sich die Initiative aktiv in Konversationen rund um das Thema Tierversuche einbringt, Informationen zur faktenbasierten Meinungsbildung anbietet und gewinnbringende Dialoge ermöglicht.
Fazit für die Praxis
„Tierversuche verstehen“ gibt auf viele Arten Einblicke in das Themenfeld verantwortungsbewusster Tierversuche. Verantwortungsbewusst heißt, stets in Abwägung zwischen dem Schutz und Wohl des Tieres und der Bedeutung wissenschaftlicher Erkenntnis für den Menschen zu handeln. Verantwortungsbewusst heißt aber auch, dem gesellschaftlichen Interesse an Transparenz und der Begründung für öffentlich finanzierte Forschung an und mit Tieren nachzukommen.
Bei Vorträgen zu den Aktivitäten von „Tierversuche verstehen“ regen wir daher immer auch einen Dialog über die vielen Möglichkeiten an, die jede einzelne Person im Forschungssystem nutzen kann, um zu einer Verbesserung der Kommunikation zwischen Wissenschaft und Gesellschaft beizutragen. Dazu gehören unter anderem diverse niedrigschwellige Möglichkeiten sich zu engagieren und die sachliche Diskussion, vor allem online, zu fördern.