Geschlechtersensible Labormedizin: Weder Schwarz noch Weiß
Summertime, and the living is easy. Im Juli, als wir die vorliegende Ausgabe von Trillium Diagnostik konzipierten, erschien der Sommer noch genauso „easy“ wie in Gershwins Summertime. Eine gewisse Leichtigkeit (Ease) machte sich angesichts niedriger Infektionszahlen und der Aussicht auf einen deutschlandweiten Impfschutz im Herbst breit. Daraus wurde bekanntlich nichts. Aus „Ease“ ist wieder „Disease“ geworden. Und der Winter wird schwer.
Unser Schwerpunktthema „Gendersensible Labormedizin“ machte zeitgleich eine gegenläufige Entwicklung durch: Die komplexe Materie empfanden wir im Juli als extrem schwierig, doch dank der Expertise unserer Fachautoren Matthias Orth, Jakob Adler und Lutz Gürtler ist es uns gelungen, etwas Ordnung im Gestrüpp der Begriffe zu schaffen: Wie übersetzt man Sex versus Gender korrekt ins Deutsche? Wie wirken sich Transidentität und Intersexualität auf Laborwerte aus? Und wie gehen wir mit der gesetzlichen Vorgabe um, im Laborinformationssystem das „diverse“ Geschlecht abzubilden?
Kontinuum der Grautöne
Eines wurde in all den Diskussionen sehr klar: Die menschliche Neigung zum dichotomen Denken1 – egal ob richtig/falsch oder männlich/weiblich – mag in einfachen Entscheidungssituationen hilfreich sein, ist aber in aller Regel eine Übersimplifizierung, die der realen Welt nicht gerecht wird. Von Natur aus begegnen wir fast überall einem Kontinuum der Grautöne zwischen Schwarz und Weiß, nicht nur bei der Einteilung der Geschlechter in weiblich und männlich, sondern stärker noch bei einer der Hauptaufgaben der Laboratoriumsmedizin, nämlich bei der Unterscheidung zwischen gesund und krank.
Deshalb liegt ein thematischer Fokus dieser Ausgabe auch auf der Festlegung diagnostischer Entscheidungsgrenzen im Unterschied zu Referenzgrenzen bei Männern und Frauen. Hier ein typisches Beispiel: Die untere Referenzgrenze für Hämoglobin liegt bei Männern höher als bei Frauen, was auf Einflussfaktoren wie etwa die testosteronabhängige Erythropoese zurückzuführen ist. Mit Krankheit hat das nichts zu tun, aber die exakte Berechnung der Referenzgrenzen wird durch „Grautöne“ zwischen gesund und krank, wie etwa verstärkte Menstruation oder abnehmende Knochenmarksleistung im Alter, erschwert.
Die Entscheidungsgrenze für die Diagnose einer therapiebedürftigen Anämie hängt dagegen nicht direkt vom Geschlecht ab, sondern orientiert sich je nach Grunderkrankung an der klinischen Bedeutung und liegt in der Regel weit genug von den Referenzgrenzen weg, sodass kleinere Unschärfen in den Randbereichen gesunder Männer und Frauen keine Rolle spielen.
Molekulare Unterschiede
Ein letzter Aspekt unseres Schwerpunkts betrifft die geschlechtsabhängige Empfindlichkeit für viele Erkrankungen wie Krebs, Autoimmunsyndrome und – aktuell sehr augenfällig – schwere COVID-19-Verläufe. Genetik und Hormone stehen im Zentrum der Forschung, etwa bei der Erkenntnis, dass viele Immunfaktoren auf dem X-Chromosom kodiert sind, während eine wichtige Viruseintrittspforte (TMPRSS2) unter dem Einfluss von Testosteron hochreguliert wird. Deshalb werden wohl die kleinen Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf molekularer Ebene ganz wesentlich mitentscheiden, wie viele Patient:innen auf Intensivstationen behandelt werden müssen – und folglich, wie schwer dieser Pandemiewinter wirklich wird.
1 Dysfunktionaler Denkstil, der durch Denken in extremen Kategorien gekennzeichnet ist, ohne Zwischenstufen zu berücksichtigen (Pschyrembel Online).
Georg Hoffmann, Herausgeber
georg.hoffmann@trillium.de