Schöne Aussichten
Bioinformatik
Über dem weitläufigen Park der evangelischen Akademie Tutzing am Starnberger See liegt ein Zauber, der Jahr für Jahr mehr als 10.000 Tagungsteilnehmer in seinen Bann zieht. Hier treffen sich Politiker, Künstler und Wissenschaftler, um große Fragen im kleinen Kreis zu diskutieren – und hier kommen seit nunmehr 15 Jahren auch Laborärzte, Klinische Chemiker und Vertreter angrenzender Fachgebiete zum Gedankenaustausch über die „molekulare“ Zukunft der medizinischen Diagnostik zusammen.
Rückblickend fällt vor allem die zunehmende Bedeutung der Bioinformatik im Programm dieser Tagungen auf. Waren einschlägige Vorträge vor zehn Jahren noch eher dünn gesät, so gab es bei der diesjährigen Veranstaltung de facto keinen Vortrag mehr, der die Auswertung komplexer genomischer Daten ausklammerte. Auch die Key Note Lecture von Prof. Tim Hubbard (Kings College London) behandelte ein Thema der Genomik und Bioinformatik, nämlich das 100.000 Genomes Project, bei dem 100.000 menschliche Genome sequenziert und medizinisch ausgewertet werden.
Data Scientists sind gesucht
Für die Labordiagnostik, die derzeit nur allzu oft unter Leistungs- und Kostendruck bei ungenügender Wertschätzung ihrer Arbeit stöhnt, eröffneten sich am Starnberger See durchaus attraktive Zukunftsperspektiven im Bereich der „Data Sciences“. Da die Kollegen aus den sogenannten sprechenden Fächern der Mathematik und Computerkunst ja oft skeptisch gegenüberstehen, tut sich in der medizinischen Bioinformatik eine schmerzliche Lücke auf, die noch am ehesten von Labordiagnostikern geschlossen werden könnte. Dieses Fach war schon in den 1970er-Jahren Vorreiter bei der Digitalisierung der Medizin und verfügt bis heute über die größten Datenmengen.
Genomische Datenbanken
Konkret lag der Schwerpunkt der Bioinformatiksitzung 2016 auf der Erstellung und Nutzung genomischer Datenbanken. Ohne sie würden Gensequenzanalysen nur Buchstabensalat liefern, so Andreas Ruepp vom Helmholtz-Zentrum München. Erst durch die Zusammenführung von Phänotyp (insbesondere Krankheitssymptomen) und Umweltfaktoren (zum Beispiel Ernährung) erhalten die gefundenen Varianten medizinischen Sinn. Allerdings gibt es für diese Aufgabe nicht die eine Allzweckdatenbank; vielmehr muss man verschiedene Quellen wie OMIM, ClinVar oder Orphanet vergleichend abfragen.
Niroshan Nadarajah vom MLL Münchner Leukämielabor machte klar, dass die medizinische Interpretation der Abfrageergebnisse keineswegs trivial ist. Zum einen muss man mit widersprüchlichen Angaben rechnen, zum anderen findet man immer wieder Varianten unbekannter Signifikanz (VUS), die dem Patienten nicht weiterhelfen. Der nächste Schritt ist dann der Einsatz von Vorhersage-Tools, die mithilfe von Biostatistik und künstlicher Intelligenz versuchen, anhand von Gensequenzen auf potenzielle Funktionsstörungen zu schließen.
Mit dieser Arbeitshypothese im Gepäck sollte man mit anderen Diagnostikern in Dialog treten, die womöglich bereits dieselbe oder eine ähnliche Variante entdeckt haben. Eine partizipative Lösung stellte Marc Höppner von der Uni Kiel vor: Dort wurde die Datenbank VarWatch entwickelt, in die man nach Registrierung Informationen zum Geno- und Phänotyp eingeben kann. Wenn der Computer irgendwo in der Welt einen passenden Fall findet, werden beide „Besitzer“ benachrichtigt und können sich über ihre Patienten austauschen. So trägt die Bioinformatik nicht nur zum raschen Wissenszuwachs bei, sondern auch zu weltweiten kollegialen Kontakten.
gh