Ein rätselhafter Zusammenhang
Immundefekte und Autoimmunerkrankungen
Wer die Titel der Fachartikel auf den nächsten Seiten unbefangen überfliegt und sich in der Immunologie so einigermaßen zuhause fühlt, wird wohl in dieser Rubrik nichts Aufregendes erwarten: gehobene Fortbildung über die Immunabwehr im Allgemeinen, das Komplementsystem im Besonderen, und die Stufendiagnostik zur Differenzierung von Immundefekten als Spezialthema.
Aber da die Mechanismen bekanntlich kompliziert sind, kann eine Vertiefung nicht schaden – man denke nur an die über 30 Proteine des Komplementsystems, die aus drei Kaskaden in eine gemeinsame Endstrecke münden und an vielfältigen Krankheitsbildern beteiligt sind. Überaktivität führt zu akuten und chronischen Entzündungen einschließlich Autoimmunreaktionen, Immundefekte vermindern die Immunabwehr mit der Folge gehäufter Infektionen und Autoimmunreaktionen ...
Moment mal, das klingt doch paradox! Ein überaktives Komplementsystem soll die Autoimmunität ebenso fördern wie ein defektes Komplementsystem? So ist es in der Tat: Einerseits hängt zum Beispiel die Pathogenese des systemischen Lupus erythematodes (SLE) eng mit einer durch Immunkomplexe ausgelösten Aktivierung des klassischen Komplementwegs zusammen[1], andererseits findet man bei jedem dritten Patienten mit angeborenem C2-Mangel und bei 80% der Patienten mit C3- oder C4-Mangel einen SLE oder andere Autoimmunkrankheiten[2].
Selbst Experten tun sich schwer, diese beiden widersprüchlichen Aspekte unter einen Hut zu bringen. Eines ist klar: Hinter dem zunächst überraschenden statistischen Zusammenhang zwischen Immundefekt und Autoimmunität muss ein mehrschichtiger Regulationsmechanismus stecken, der über das schlichte Denkschema „Komplentaktivierung = Entzündung“ und „Komplementdefekt = Infektionsneigung“ hinausgeht.
Dafür spricht auch die Beobachtung, dass Autoimmunität statistisch gehäuft mit dem hereditären Fehlen der frühen Komplementfaktoren C1 bis C4 vergesellschaftet ist, Infektanfälligkeit dagegen mit Defekten in der Endstrecke[1, 2].
Verschiedene Hypothesen
Eine absolut schlüssige Erklärung für diese etwas rätselhaften Zusammenhänge gibt es noch nicht, aber immerhin Hypothesen, die auf plausiblen Annahmen basieren. Demnach entwickelte sich die angeborene Immunabwehr, zu der auch das Komplementsystem gehört, ursprünglich zu dem Zweck, Infektionserreger abzuwehren. Deshalb mündet die Endstrecke C5 bis C9 auch in die Bildung des Membranangriffskomplexes MAC, der in der Lage ist, Löcher in Bakterienwände zu stanzen.
Im Verlauf der Evolution kamen jedoch regulierende Funktionen hinzu, um überschießende Entzündungsreaktionen zu dämpfen. So hemmt C1q die Makrophagenaktivität, die Komplementrezeptoren CR1 und CR2 auf B-Zellen binden und neutralisieren aktive C3-Fragmente usw. So könnten angeborene Defekte der frühen Komplementfaktoren die feine Balance zwischen Entzündung und Entzündungshemmung stören und damit die Autoantikörperbildung fördern.
Die „Waste Disposal Hypothesis“ besagt, dass das Komplementsystem an der Beseitigung von Immunkomplexen beteiligt ist, die ihrerseits Autoimmunkrankheiten auslösen können. Und schließlich gibt es noch die Toleranzhypothese, wonach das Komplementsystem autoreaktive B-Zellen zerstört. In beiden Fällen wäre es plausibel, dass ein Komplementdefekt zu gesteigerter Autoimmunität beitragen kann.
[1] Macedo C et al. Frontiers in Immunology 2016; 7: Art. 55, doi: 10.3389/fimmu.2016.00055
[2] Ballanti E et al. Immunol Res 2013;56:477–91
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