Konsolidierung und Aufbruchsstimmung

Editorial

Diese Überschrift passt sowohl zur Entwicklung dieser Zeitschrift als auch zu dem Kongress, dem ein Großteil dieses Heftes gewidmet ist: Nachdem die frühere Krebsmedizin bereits Anfang des vergangenen Jahres ihren Namen (zu Trillium Krebsmedizin) und ihr Aussehen geändert hatte, um den Wechsel in Verlag und Herausgeberschaft auch nach außen zu demonstrieren, beginnt die Zeitschrift das Jahr 2015 mit einer Erhöhung der Erscheinungsfrequenz: Sechs anstelle von vier Heften pro Jahr erlauben es etwa, bei Berichten von onkologischen Kongressen und anderen Veranstaltungen jeweils aktueller zu sein. Das bewährte Konzept der organbezogenen Schwerpunktthemen wird in vier dieser Hefte beibehalten, während im ersten und vierten Heft des Jahres ausführlicher als sonst und schwerpunktmäßig von den weltweit wichtigsten onkologischen Tagungen berichtet werden soll. Heft 1 jedes Jahrgangs wird künftig der Jahrestagung der American Society of Hematology (ASH) sowie dem wichtigsten Brustkrebskongress, dem San Antonio Breast Cancer Symposium gewidmet sein, die Anfang Dezember stattfinden. In Heft 4, das Anfang August erscheint, werden Sie – vielleicht als Urlaubslektüre – die wichtigsten Ergebnisse der Jahrestagungen der American Society of Clinical Oncology (ASCO) und der European Hematology Association (EHA) finden. Die Berichte stammen in den meisten Fällen aus der Feder von Fachwissenschaftlern auf dem jeweiligen Gebiet.
Beim ASH-Kongress im Dezember in San Francisco fiel auf, dass dort nicht unbedingt von ganz großen Durchbrüchen berichtet wurde, dass sich aber auf vielen Gebieten eine Konsolidierung dessen zeigte, was in den vergangenen Jahren angestoßen werden konnte. Zudem machten zahlreiche vielversprechende, aber noch zu überprüfende neue Therapieansätze die Aufbruchsstimmung spürbar, die seit Jahren in der Hämatologie herrscht.
Die Konsolidierung betraf bei den Lymphomen und bei der chronischen lymphatischen Leukämie (CLL) beispielsweise die Btk- und PI3K-Inhibitoren, die vor Kurzem für CLL und Mantelzell-Lymphom zugelassen wurden und weiter hervorragende Ergebnisse auch bei bisher schwierig zu behandelnden Patientengruppen (z. B. CLL mit Deletion 17p) zeitigen. Beim multiplen Myelom wurden etwa die positiven Ergebnisse mit Zweitgenerations-Pro­teasominhibitoren bestätigt, die nun nur noch einer Zulassung in Europa bedürfen. Bei den akuten Leukämien sind es derzeit nicht so sehr neue Sub­stanzen, die in die Klinik drängen, sondern eher neue Standards der Risikoabschätzung, die eine individualisiertere Therapie gestatten. Insbesondere die Erfassung der minimalen Rest­erkrankung (MRD) mittels hochempfindlicher Methoden wie Durchflusszytometrie oder Polymerasekettenreaktion, zuerst bei der chronischen myelo­ischen Leukämie (CML) etabliert, beginnt sich nun bei allen Leukämieformen und auch bei den Lymphomen durchzusetzen. In großen Studien hat sich nämlich gezeigt, dass das Persistieren einer solchen Rest­erkrankung nach Ende der Therapie mit einem höheren Rezidivrisiko und vielfach auch mit einer schlechteren Langzeitprognose assoziiert ist.
Die Eliminierung der minimalen Resterkrankung wird daher zweifellos bei vielen dieser Erkrankungen ein wichtiges künftiges Paradigma bei der Therapieoptimierung sein – auch wenn sich etwa bei der CML gezeigt hat, dass die Eradikation der leukämischen Stammzellen im Knochenmark mit den derzeit verfügbaren Therapien in einem vertretbaren Zeitrahmen kaum möglich ist. Bei dieser relativ indolenten Erkrankung setzt man zurzeit darauf, den leukämischen Klon mit herkömmlichen Therapien nahe an oder knapp unter die Nachweisgrenze zu drücken und dann nach einigen Jahren – vorerst nur in kontrollierten Studien – die Therapie abzusetzen. Erhofft wird dabei eine „therapiefreie Remission“, die in ersten Studien langfristig bei 40–60% der Patienten realisierbar zu sein scheint, und bei der wahrscheinlich das körpereigene Abwehrsystem die Leukämie in Schach hält. Auf die Dauer werden sich die CML-Forscher mit diesen Zahlen aber sicherlich nicht zufrieden geben, und künftige Therapiestrategien werden sich dann mit den leukämischen Stammzellen beschäftigen müssen.
Bei aggressiveren Erkrankungen verbieten sich solche zuwartenden Ansätze; hier ist auch ein aggressives Vorgehen angezeigt, und damit wären wir beim zweiten großen Thema dieses ASH-Kongresses: Zahlreiche in Entwicklung befindliche neue Therapieansätze lassen die Aufbruchsstimmung, die seit Jahren die Hämatologie durchzieht, deutlich spüren. Dazu zählen neben neuen zielgerichteten Therapeutika vor allem die Immuntherapien, die in den letzten Jahren bereits bei den soliden Tumoren für Aufsehen sorgten. Sie sind mittlerweile auch in der Hämatologie angekommen, und zwar in vielfältiger Ausprägung:
Monoklonale Antikörper gegen tumorspezifische Antigene werden bei den Non-Hodgkin-Lymphomen schon seit 15 Jahren zunehmend eingesetzt und haben jetzt beispielsweise auch das Indikationsgebiet des multiplen Myeloms erreicht, das ja eine Vielzahl geeigneter, tumorspezifischer Antigene exprimiert. Bei den Immuntoxinen, bei denen ein hochtoxisches Zytostatikum an einen Antikörper gebunden ist und von ihm zur Tumorzelle transportiert wird, hat es zwei Jahrzehnte gedauert, eine sichere Technologie zu entwickeln; aber das für das fortgeschrittene Hodgkin-Lymphom zugelassene Präparat ist erst der Anfang – zahlreiche weitere Immuntoxine befinden sich bei verschiedenen Erkrankungen in der Entwicklung.
Die ALL schließlich ist das Experimentierfeld, auf dem man versucht, mit zwei Arten von hochwirksamen Immuntherapien – zunächst in hoffnungslosen und „austherapierten“ Fällen – das Blatt zu wenden. Bei beiden Ansätzen ist das auf B-Zellen exprimierte CD19-Antigen die Zielstruktur: Einmal für bispezifische Antikörper, die CD19 auf dem leukämischen Blasten und CD3 auf T-Lymphozyten binden und beide Zellen dadurch in einen engen und für die Krebszelle letal verlaufenden Kontakt bringen. Die andere Strategie nutzt patienteneigene T-Zellen, denen ein rekombinantes Gen für einen chimären Antigenrezeptor eingepflanzt wird. Ex vivo expandiert und dem Patienten re-infundiert, entwickeln diese Zellen bei Kindern mit ALL im Endstadium eine anti-leukämische Aktivität, die selbst die behandelnden Pädiater kaum für möglich gehalten haben, wie etwa Stephan Grupp, Philadelphia, einer der geistigen „Väter“ dieses Ansatzes, ganz offen gesteht.
Die Berichte vom Brustkrebskongress in San Antonio zeigen wiederum, dass man über all den eleganten neuen Ansätzen die klassischen Chemotherapien nicht vergessen sollte. Die immer stärkere Aufspaltung des Mammakarzinoms in zahlreiche, meist molekularbiologisch zu unterscheidende Subformen gestattet es, die Therapien mehr und mehr zu individualisieren und so auch die Chemotherapie, oft in Kombination mit neuen Substanzen, zur optimalen Wirksamkeit zu bringen. Spezifisch für das Mammakarzinom ist, dass hier neue systemische Therapievarianten häufig bereits in der neoadjuvanten Situation getestet werden, vor allem, weil sich so im Sinne einer translationalen Forschung die Wirkung am Tumor sozusagen direkt in vivo studieren lässt – nämlich am anschließend entnommenen Operationspräparat.

Prof. Dr. med. Karl-Anton Kreuzer

Klinik I für Innere Medizin
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