Myeloproliferative Erkrankungen

ASH 2014

Die Entdeckung der erworbenen V617F-Punktmutation im Exon 14 des JAK2-Gens [1] legte 2005 den Grundstein für die Entwicklung gezielter Therapien der BCR-ABL-negativen myeloproliferativen Neoplasien. Die Mutation findet sich bei fast allen Polycythaemia-vera-Erkrankungen (PV) und bei rund jedem zweiten Patienten mit Myelofibrose und essenzieller Thrombozythämie. Dieser und andere klonale Marker sind als Hauptkriterien für die Diagnose dieser Erkrankungen in die WHO-Klassifikation von 2008 eingegangen [2]. Als kausale Therapie gibt es bisher neben einer Stammzelltransplantation lediglich den JAK1/2-Inhibitor Ruxolitinib, der zugelassen ist zur Behandlung von krankheitsbedingter Splenomegalie oder Symptomen bei Erwachsenen mit Myelofibrose, entweder primär oder nach Polycythaemia vera oder essenzieller Thrombozythämie. Weitere Medikamente werden entwickelt, und beim ASH-Kongress in San Francisco gab es dazu eine Reihe früher Studienresultate.

Ruxolitinib wurde zugelassen auf der Grundlage der beiden internationalen Phase-III-Studien COMFORT I und II, in denen es gegenüber Placebo bzw. „Best Available Therapy“ (BAT) die Symptome ebenso wie die Überlebenschancen der eingeschlossenen Patienten verbessern konnte. Dass nicht nur randomisierte, kontrollierte Studien wichtige Erkenntnisse über die Anwendung von Medikamenten bringen, zeigt die Auswertung der nicht-interventionellen Expanded-Access-Studie JUMP, in der 1.144 Patienten mit Myelofibrose Ruxolitinib vor dessen Zulassung erhalten hatten [3]. Wie in den Zulassungsstudien ergaben sich auch hier eine deutliche, klinisch relevante Reduktion der Milzgröße und ein Rückgang der Symptome: Bei 69% der Patienten schrumpfte die Länge der Milz um mindestens 50% (nach median 5,1 Wochen), bei 23% war das Organ überhaupt nicht mehr zu tasten, so Bruno Martino, Reggio Calabria. Die klinischen Symptome zeigten bei vielen Patienten bereits vier Wochen nach Beginn der Therapie eine Besserung, die bei vielen Patienten mehr als 48 Wo­chen lang anhielt.

Auch Patienten mit niedrigem Risiko profitieren

An den beiden Phase-III-Studien hatten überwiegend Patienten mit Myelofibrose der Risikogruppen Intermediär-2 und Hochrisiko teilgenommen. Auch Patienten mit niedrigerem Risiko können aber erheblich unter Symptomen leiden, und zwei retrospektive Studien zeigten, dass auch sie von der JAK-Inhibition profitieren können:
In einer anonymisierten Analyse stellte Keith Davis, Research Triangle Park, North Carolina, Daten von 108 Patienten mit niedrigem bzw. Intermediär-1-Risiko (IPSS 0: n = 25, IPSS 1:
n = 83; [4]) vor. Der Anteil an Patienten mit mäßiger oder schwerer Splenomegalie (Milz > 10 cm tastbar) nahm in der Niedrigrisiko-Gruppe von 64% auf 16% ab, in der Intermediär-1-Gruppe von 53% auf 10%. Ähnlich sank der Anteil an Patienten mit mäßiger oder schwerer Fatigue in der ersten Gruppe von 90% auf 37%, in der zweiten von 76% auf 42%. Das Gleiche galt für die meisten anderen konstitutionellen Symptome (Nachtschweiß, frühes Sättigungsgefühl, abdominale Schmerzen, Gewichtsverlust, Juckreiz, Knochenschmerzen).
Ahmad Zarzour, Cleveland, berichtete über 25 weitere Patienten mit Niedrig- oder Intermediär-1-Risiko, die ebenfalls erhebliche Symptome aufgewiesen hatten (median 20 Punkte auf der MPN Symptom Assessment Form (MPN SAF), [5]). Die tastbare Ausdehnung der Milz unter dem Rippenbogen betrug median 13 cm, der mediane Grad der Knochenmarksfibrose lag bei 2 (auf einer Skala von 0–3). Der MPN SAF-Symptomscore ging unter Ruxolitinib um median 73% zurück (p < 0,001), Verbesserungen zeigten sich in jedem der Parameter. Die tastbare Milzgröße hatte sich nach drei Monaten um 49%, nach sechs Monaten um 57% und nach einem Jahr um 64% reduziert. Bei drei von fünf Patienten, bei denen nach Beginn der Behandlung eine Knochenmarkbiopsie durchgeführt wurde, besserte sich die Fibrose um wenigstens einen Grad.

Anämie ist nicht gleich Anämie

Anämie und Thrombozytopenie sind häufige, aber beherrschbare Nebenwirkungen der Therapie mit Ruxolitinib. Allerdings ist eine Anämie auch ein Symptom der unbehandelten Myelofi­brose, dessen prognostische Bedeutung unter einer Behandlung mit dem JAK-Inhibitor bisher unklar war. Haifa Kathrin Al-Ali, Leipzig, stellte in San Francisco Auswertungen der beiden Zulassungsstudien COMFORT I und II vor, in denen sie v. a. auf die Dynamik der Veränderungen der Hämoglobin-Konzentrationen unter der Therapie und ihren prognostischen Wert achtete [6].
Dabei stellte sich heraus, dass es offenbar einen Unterschied macht, ob der Hb-Abfall als Konsequenz der Myelofibrose auftritt (in den Kontrollarmen der Studien) oder infolge der Ruxolitinib-Therapie: Patienten mit niedrigen Hb-Konzentrationen vor Studienbeginn hatten unter Placebo oder BAT nach drei Jahren schlechtere Überlebenschancen (HR 0,66; 95%-Konfidenzintervall 0,54–0,81), nicht jedoch, wenn sie mit Ruxolitinib behandelt wurden (HR: 0,94; 95%-KI: 0,74–1,20). Hb-Abfälle um mehr als 3g/dl unter der Behandlung waren dagegen in der Ruxolitinib-Gruppe nicht mit dem Überleben assoziiert, wohl aber in der Kontrollgruppe. Ein Hb-Abfall ist eine zu erwartende Folge der JAK-Hemmung und tritt oft während der ersten zwölf Wochen einer Ruxolitinib-Behandlung auf. Typischerweise erholen sich die Hb-Konzentrationen nach 24 Wochen wieder auf nahezu die Ausgangswerte.
Ein unter der Therapie auftretender (vorübergehender) Hb-Abfall sollte daher nicht zum Abbruch der Therapie, sondern allenfalls – abhängig von der Höhe der Abnahme – zu einer Dosisanpassung und eventuell zu supportiven Maßnahmen führen.
Das Progressionsrisiko zu einer akuten Leukämie ist bei der primären Myelofibrose nicht zu vernachlässigen. Heilbar ist die Erkrankung bisher höchstens durch eine allogene Stammzelltransplantation, deren Risiken aber sorgfältig gegen den Nutzen abzuwägen sind. In einer retrospektiven Analyse wurden die Ergebnisse solcher Transplantationen (mit verschiedenen Methoden) bei 673 Patienten mit primärer Myelofibrose untersucht, wobei insbesondere eine Stratifizierung nach dem Dynamic International Prognostic Scoring System (DIPSS) erfolgte [7]. Wie Nikolaus Kröger, Hamburg, berichtete, war bei den bis zu 65-Jährigen mit einem Intermediär-2- oder Hochrisiko-Score die Transplantation mit längerem Überleben assoziiert, bei denen mit Niedrigrisiko hingegen war eine konventionelle Therapie überlegen. Bei Patienten mit Intermediär-1-Risiko ist die Situation nicht eindeutig; hier ist eine individuelle Abwägung von Risiken und Nutzen angezeigt.

Polycythaemia vera

ythrozytose und in vielen Fällen auch Leuko- und Thrombozytose gekennzeichnet. Die JAK2-V617F-Punktmutation tritt auch hier als Treibermuta­tion auf, und in der Phase-III-Studie RESPONSE war Ruxolitinib bei Patienten mit PV, die gegen Hydroxyurea resistent waren oder es nicht vertrugen, den besten konventionellen Therapien (BAT) überlegen, was die Kontrolle des Hämatokrits, die Reduktion der Milzgröße und die Verbesserung der Symptomatik anging [8]. In San Francisco wurden Ergebnisse für die 84% der Patienten vorgestellt, die zwischen der 32. und der 48. Woche von der Crossover-Option von BAT zu Ruxolitinib Gebrauch gemacht hatten [9]: Im Ruxolitinib-Arm waren pro 100 Patientenjahre 34,1 Phlebotomien erforderlich gewesen, so Jean-Jacques Kiladjian, Paris, im BAT-Arm (vor Crossover) 196,8, nach dem Crossover jedoch nur mehr 38,5. Eine Reduktion des Milzvolumens um mindestens 35% erreichten im Ruxolitinib-Arm 60% der Patienten, unter BAT nur 1,8%, aber nach dem Crossover immerhin 38,5%. Dadurch, so Kiladjian, werden die ursprünglichen Resultate der RESPONSE-Studie bestätigt.

Vorteil auch ohne Hämatokrit-Normalisierung

Bis zur Woche 32 hatten in der
RESPONSE-Studie 60% der Patienten unter Ruxolitinib, aber nur 20% derer unter BAT eine Kontrolle des Hämatokrits erreicht. Die Phlebotomie-Raten lagen jedoch im Ruxolitinib-Arm bis zu diesem Zeitpunkt nur bei 20%, im BAT-Arm bei 62%; 85% der Patienten im Verum-Arm erhielten auch nach median 81 Wochen noch Ruxolitinib. Auch diejenigen, deren Hämatokrit nicht komplett kontrolliert worden war, schienen also einen Nutzen von dem JAK-Inhibitor zu haben, wie Srdan Verstovsek, Houston, in einer Subgruppenanalyse bestätigte [10]: Bis zur nächsten indizierten Phlebotomie vergingen im Ruxolitinib-Arm bei den Patienten ohne Hämatokrit-Kontrolle median ein Jahr, im BAT-Arm hingegen nur 21 Wochen. Außerdem erreichten die mit Ruxolitinib behandelten Patienten eine klinisch relevante Kontrolle ihrer PV-bedingten Symptome, egal, ob ihr Hämatokrit kontrolliert werden konnte oder nicht, während sich bei den entsprechenden Patienten im BAT-Arm keine Besserung oder sogar eine Verschlechterung zeigte.

JAK-Inhibitor bessert Symptome

In den USA ist Ruxolitinib mittlerweile für Patienten mit Polyzythämie zugelassen, die auf Hydroxyharnstoff nicht ausreichend ansprechen oder ihn nicht vertragen. Eine weitere beim ASH-Kongress vorgestellte Auswertung von RESPONSE belegt eine deutliche Besserung von Symptomatik und Lebensqualität [11].
Symptome und Lebensqualität, gemessen mit dem EORTC QLQ-C30-Fragebogen, so Ruben Mesa, Scottsdale, wurden durch die Behandlung mit Ruxolitinib in sämtlichen Domänen deutlich und anhaltend verbessert, während sie unter der Kontrollbehandlung bestenfalls gleichblieben, sich in vielen Fällen sogar verschlechterten. Dieser Unterschied hielt über mindestens 32 Wochen an. Im Fragebogen „Global Impression of Change“ gaben zwei Drittel aller Patienten unter Ruxilitinib, aber nur 13,5% aller Patienten im Kontrollarm an, ihre Symptomatik habe sich stark oder sehr stark verbessert.

Auch andere Patienten könnten profitieren

In der RESPONSE-Studie mussten die Patienten resistent oder intolerant gegen Hydroxyurea sein, Phlebotomien benötigen und eine Splenomegalie haben. In einer internationalen Kohorte von 1.334 PV-Patienten, die großenteils nur eines dieser Einschlusskriterien aufwiesen, ergab eine Befragung mit dem MPN-SAF TSS-Fragebogen, so Holly Lynn Geyer, Scottsdale, dass auch sie erhebliche Symptome aufweisen und dass die verschiedenen Symptome zwischen den einzelnen Gruppen überlappen[12]. Die Autoren schlagen vor, dass auch bei solchen Patienten daher Therapien mit JAK-Inhibitoren, aber auch mit neuen Substanzen in klinischen Studien getestet werden sollten.
Auch Patienten mit PV, die noch auf Hydroxyurea ansprechen, könnten möglicherweise von Ruxolitinib profitieren, ergab die doppelblinde, placebokontrollierte Phase-IIIb-Studie RELIEF mit 110 solchen Patienten [13]. Ein Trend zugunsten von Ruxolitinib, was die Verbesserung der Symptomatik anging, war vermutlich nur deshalb nicht signifikant, weil aufgrund eines starken Placebo-Effekts im Kontrollarm die Studie mit nur 110 Patienten nicht ausreichend gepowert war, um eine Überlegenheit des JAK-Inhibitors nachzuweisen.

Neue Medikamente im Test bei Myelofibrose

twicklung neuer Medikamente zur Behandlung von myeloproliferativen Erkrankungen läuft auf Hochtouren. Eine kleine Auswahl von Kandidaten wurde bei einem Symposium in San Francisco vorgestellt:
- Der Telomeraseinhibitor Imetelstat zeigte in einer Pilotstudie mit 33 Patienten [14] mit Hochrisiko-Myelofibrose deutliche Wirkung (sieben Komplettremissionen), aber auch das Potenzial, eine erhebliche Myelosuppression zu verursachen. Interessanterweise traten Komplettremissionen und Myelosuppression in genetisch unterschiedlichen Subgruppen auf, sodass sich hier vielleicht eine Möglichkeit zur sinnvollen Selektion von Patienten bietet.
- Die Kombination von Ruxolitinib mit dem PI3K-Inhibitor Buparlisib erwies sich in einer multizentrischen Phase-1b-Studie als wirksam sogar bei Patienten, bei denen Ruxolitinib vorher versagt hatte [15]. Phase-II-Studien sollten diese Resultate nun bestätigen.
- Unter der Kombination von Ruxolitinib mit dem Pan-Deacetylaseinhibitor Panobinostat zeigten in einer Phase-Ib-Studie nach 24 Wochen mehr Patienten eine Reduktion der Milzgröße als in den COMFORT-Studien [16]. Aufgrund der geringen Zahl von 61 Patienten lassen sich aber noch keine definitiven Schlussfolgerungen treffen.
- Mit einer weiteren Ruxolitinib-Kombination, hier mit dem Hedgehog-Inhibitor Sonidegib, erzielten zwei Drittel von 23 Patienten eine mindestens 50-prozentige Reduktion der Milzlänge; bei neun Patienten hatte sie sich völlig normalisiert [17].
- PRM-151 ist eine rekombinante Form des endogenen menschlichen Pentraxin-2-Proteins, das an der Korrektur von Gewebeschäden mitwirkt und insbesondere für die Rückbildung von Fibrosen sorgt. Bei 27 Patienten mit fortgeschrittener Myelofibrose schien es Klinik und Histologie der Erkrankung positiv zu beeinflussen, ohne eine Myelosuppression hervorzurufen [18].
- Die Myelosuppression, die unter Ruxolitinib sichtbar ist, kommt vor allem durch Hemmung von JAK2 zustande, das an den Signalwegen zur Expression von Thrombopoetin und Erythropoetin beteiligt ist. Der selektive JAK1-Hemmstoff INCB039110 führte in einer Phase-II-Studie bei Patienten mit Myelofibrose zu Verbesserungen bei Symptomatik und Milzgröße, ohne dass bis zur Woche 24 etwa die Hämoglobin-Konzentrationen beeinflusst worden wären [19].

 

Multikinaseinhibitor wirksam bei Mastozytose

Die systemische Mastozytose, insbesondere deren aggressive Form und die Mastzell-Leukämie zählen zu den prognostisch ungünstigsten myeloproliferativen Erkrankungen. Sie sind zu mehr als 80% durch eine aktivierende D816V-Punktmutation im KIT-Gen gekennzeichnet. Der orale Multikinaseinhibitor Midostaurin, der Wildtyp- und mutiertes KIT-Protein hemmt, wurde daher in einer internationalen Phase-II-Studie bei diesen Patienten geprüft. Die Ergebnisse der mittlerweile voll rekrutierten Studie stellte Jason Gotlib, Stanford, vor [20]: Die Ansprechrate von 89 auswertbaren Patienten betrug 60%, bei den Mastzell-Leukämien lag sie bei 50%. Das Ansprechen dauerte im Gesamtkollektiv median 24,1, die Überlebenszeit median 28,7 Monate, bei den Respondern waren es hingegen 44,4 Monate. Als Maß für die Abnahme der Mastzell-Last kann ein Rückgang der Serum-Tryptase-Konzentrationen um median 58% gelten; ein gutes Drittel der Patienten zeigte eine mindestens 50-prozentige Reduktion, die mindestens acht Wochen andauerte.

Literatur
1. Kralovics R et al. N Engl J Med 2005; 352: 1779-90.
2. Swerdlow SH et al. WHO classification of tumours of the hemopoietic and lymphoid tissues. WHO Press, 2008.
3. Martino B et al. ASH 2014, Abstract #3197.
4. Davis KL et al. ASH 2014, Abstract #1857.
5. Zarzour A et al. ASH 2014, Abstract #1834.
6. Al-Ali HK et al. ASH 2014, Abstract #4583.
7. Kröger N et al. ASH 2014, Abstract #633.
8. Verstovsek S et al. ASCO 2014, Abstract #7026.
9. Kiladjian JJ et al. ASH 2014, Abstract #3181.
10. Verstovsek S et al. ASH 2014, Abstract #3201.
11. Mesa R et al. ASH 2014, Abstract #709.
12. Geyer HL et al. ASH 2014, Abstract #1848.
13. Mesa R et al. ASH 2014, Abstract #3168.
14. Tefferi A et al. ASH 2014 Abstract #634.
15. Durrant S et al. ASH 2014, Abstract #710.
16. Kiladjian JJ et al. Abstract #711.
17. Gupta V et al. Abstract #712.
18. Verstovsek S et al. Abstract #713.
19. Mascarenhas JO et al. Abstract #714.
20. Gotlib J et al. ASH 2014, Abstract #636.